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DIE FURCHE 31.10.2024

DIE

DIE FURCHE · 44 18 Wissen 31. Oktober 2024 Von Klaus Stiefel Jeder, der schon einmal einen seltenen Fisch oder einen in einem schrumpfenden Regenwald beheimateten Vogel in der englischen Version von Wikipedia nachgeschaut hat, dem wird ein Streifen mit Abkürzungen unter dem wissenschaftlichen Namen des Tieres aufgefallen sein: Auf diesem Streifen wird notiert, ob die Tierart vom Aussterben bedroht ist – und wie stark die Bedrohung ist. Die Skala reicht von nicht gefährdet (least concern) bis zu ausgestorben (extinct). Die Organisation, die diese Klassifizierungen festlegt, ist die Internationale Union für den Schutz der Natur (IUCN). Die IUCN stellt eine Rote Liste an gefährdeten Tier- und Pflanzenarten zusammen. Ich hatte bereits das Vergnügen, an einem IUCN-Workshop teilzunehmen, bei dem wir die mögliche Gefährdung einiger Hundert tropischer Meeresfische eingeschätzt haben. Mein spezielles Interesse in der Fischbiologie gilt den Grundeln, und wir haben viele dieser kleinen Fische behandelt. Aber auch die gefährlichen, weil mit extrem giftigen Stacheln bewaffneten Skorpion- und Steinfische haben wir nach dem Grad ihrer Gefährdung klassifiziert. COP16 Die UN-Konferenz zur biologischen Vielfalt (COP16) findet heuer in Cali, Kolumbien, statt (21.10.–1.11.). Regierungsvertreter aus aller Welt beraten dort über die Finanzierung und die Umsetzung des 2022 beschlossenen Welt-Naturabkommens. Auf der UN-Konferenz zur biologischen Vielfalt wird derzeit um den Schutz von Tieren, Pflanzen und Ökosystemen gerungen. Wer aber bestimmt, wie bedroht eine Tierart ist? Die Gefährdeten Naturfotografen weltweit Der Prozess lief für jede Fischart in etwa so ab: In vielen Fällen kannten meine Kollegen und ich den Fisch aus eigener Arbeit schon gut. Wir haben dann in der wissenschaftlichen Literatur nachgesehen, wo Fische dieser Art beobachtet wurden. Wie oft wurden Individuen dieses Fisches bei wissenschaftlichen Expeditionen gefangen und in Museen deponiert? Gibt es genetische Studien zu dieser Fischart? Auch ist es natürlich wichtig, festzustellen, ob und in welchem Ausmaß nach dieser Fischart gefischt wird. Nicht zuletzt: Wurde der Fisch von Amateuren gesichtet? Auch dafür gibt es sehr gute Websites, wo begeisterte Naturfotografen ihre Fotos von Fischen, Vögeln, Pilzen oder beliebigen anderen Organismen, die sie in freier Natur fotografiert haben, hochladen können. Diese Informationen müssen immer noch durch Fachleute verifiziert werden. Aber allein die große Masse an Natur enthusiasten mit Kameras weltweit macht solche Daten sehr wertvoll. Aus all diesen Quellen konnten wir dann Antworten auf die Fragen herleiten, wie weit die Fischart verbreitet ist, ob die Zahl der Tiere dieser Spezies sehr gering oder stark am Abnehmen ist – und ob die Fischart in einem Habitat lebt, das zunehmend vom Menschen zerstört wird. Meeresfische verbringen manchmal ihr ganzes Leben (andernfalls auch nur ihre Jugend) in Mangroven, also den Wäldern, die ins Meer hineinwachsen. Mangroven werden in vielen Teilen der Welt zunehmend durch die Erschließung von Küstenregionen zerstört. Eine Fischart, die nur in den Mangroven einiger weniger Inseln in Südostasien lebt, hat schlechte Karten, wenn es um ihren Weiterbestand geht. „ Bei großen charismatischen Säugetieren wie den Nashörnern ist die Zahl der noch lebenden Tiere oft genau bekannt. Die Datenlage kann aber auch sehr mager sein. “ So ähnlich läuft generell der Prozess ab, um festzustellen, wie gefährdet eine Tierart ist. Natürlich ist die Datenlage nicht immer gleich gut. Bei großen charismatischen Säugetieren wie Nashörnern ist die Zahl der noch lebenden Tiere oft sehr genau bekannt, aber bei kleinen Fischen, die zwischen den Mangrovenwurzeln in schwer erreichbaren Teilen Indonesiens leben, ist eine genaue Zählung unmöglich. Wenn die Datenlage wie in diesem Fall zu mager ist, kann eine Tierart in die Kategorie „zu wenige Daten“ (data deficient) eingereiht werden. Die Kategorie einer Tierart kann übrigens auch wieder besser werden, wenn es gelingt, eine Bedrohung zu reduzieren, und wenn sich die Populationen dieser Art wieder erholen. Ein Beispiel hierfür ist der Grauwal, der seit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr gejagt wird – mit Ausnahme weniger Tiere durch arktische Eingeborenenstämme – und nun als „nicht gefährdet“ klassifiziert ist. Sehr vorsichtig ist die IUCN mit der Kategorie „ausgestorben“: Ein gutes, aber trauriges Beispiel ist der Yangtse-Delphin (Baji), der in einer mehrwöchigen Expedition von internationalen Experten 2006 kein einziges Mal gesichtet wurde. Dem Delphin haben der allgemein schlechte Zustand des Yangtses und besonders unbeabsichtigte Tötungen durch Fischernetze so stark zugesetzt, dass die Population der Tiere immer mehr geschrumpft ist. Seit 2006 gab es dann nur mehr unbestätig- Foto: iStock/pchoui te Sichtungen sowie Videos, auf denen man die Tiere nicht leicht identifizieren kann. Trotzdem ist der seltene chinesische Süßwasserdelphin noch nicht offiziell ausgestorben, sondern wird als „kritisch vom Aussterben bedroht/möglicherweise ausgestorben“ geführt. Dieses Beispiel zeigt auch, wie das mögliche Aussterben von Tierarten in die Politik überschwappen kann: Es gibt Hinweise, dass Informationen über den traurigen Zustand des Yangtse-Delphins in China von der Regierung zensiert werden. Die bislang von der IUCN durchgeführten Kategorisierungen von Tier- und Pflanzenarten sind jedoch in einer öffentlich zugänglichen und leicht durchsuchbaren Onlinedatenbank zu finden. Das sechste Massensterben Zu Recht wird derzeit viel über ein sechstes Massensterben diskutiert. Die ersten fünf sind in der paläontologischen Forschung gut beschrieben. Zuletzt fand das Massensterben am Ende der Kreidezeit statt, ausgelöst durch einen Asteroideneinschlag. Dieses wohl bekannteste Massensterben hat den riesigen Dinosauriern den Garaus gemacht. Diese Episode in der Geschichte des tierischen Lebens auf unserem Planeten war sicher extrem krass, aber nicht die tödlichste: Denn vor 250 Millionen Jahren, am Ende des Perms, gab es das bislang verlustreichste Massensterben, das besonders der Meeresfauna stark zugesetzt hat. Es gab noch drei weitere Massensterben, das erste davon am Ende des Ordoviziums vor 443 Millionen Jahren. Laut aktuellem Wissen wurde dieses Massensterben durch starke vulkanische Aktivität, Asteroideneinschläge oder auch durch rasch einsetzende globale Eiszeiten ausgelöst. Das beschleunigte Massensterben, das wir heute erleben, hat freilich eine andere Ursache: die Menschheit. Dass infolge menschlichen Handelns ungewöhnlich viele Tierarten in relativ kurzer Zeit ausgestorben sind, steht wissenschaftlich außer Frage. Aber wie viele Tierarten das genau sind und wie das jetzige Massensterben mit den großen fünf zu vergleichen ist – all das wird derzeit noch heiß diskutiert. Die penible Arbeit der IUCN, die den Status so vieler Arten detailliert dokumentiert, trägt zu dieser Diskussion jedenfalls eine wichtige Faktenbasis bei. Der Autor ist Biologe, populärwissenschaftlicher Autor und Naturfotograf und unterrichtet derzeit an der Universität Wien. Zerschnittene Welt. Stadt & Land 7.–10. November 2024 Krems an der Donau David Grossman, Anne Weber, Nikolaj Schultz, Lisz Hirn, Reinhard Kaiser-Mühlecker, Lorena Simmel, Patrícia Melo u. v. m. Informationen und Tickets: www.europaeischeliteraturtage.at +43 (0) 2732 / 908033

DIE FURCHE · 44 31. Oktober 2024 Wissen 19 Wo Mammutaufgaben wie Masterarbeiten anstehen, fällt chronisches Aufschieben besonders ins Gewicht. An einer der größten deutschen Universitäten hat man das Problem erkannt. Lehren aus der ersten deutschen Prokrastinationsambulanz. Prävention gegen Studienabbruch Von Andrea Krieger In einer Hinsicht haben es Studierende in Münster schon lange besser als andere: Sie finden direkt an der Uni Deutschlands erste und älteste Prokrastinationsambulanz. Mit dem Aufschieben der problematischen Art, früher auch „Studentensyndrom“ genannt, beschäftigt man sich an der Universität Münster schon seit 20 Jahren. Seit 2008 steht den Studierenden eine eigene Ambulanz zur Verfügung. Auf alle anderen wartet immerhin ein ausführlicher anonymer Onlinetest. Der Andrang ist groß. Aktuelle Befragungen unter 2500 Studierenden haben ergeben, dass zehn Prozent betroffen sind. Viele schlagen sich mit dem Vorwurf herum, „einfach faul“ zu sein, und sagen sich das oft auch selbst. Laut Stephan Förster, dem leitenden Psychologen der Ambulanz, zu Unrecht. „Prokrastination hat nichts mit Faulheit zu tun.“ Vielmehr handle es sich um „ein ernsthaftes Pro blem der Selbststeuerung, eine tiefgreifende Arbeitsstörung, die nicht mit alltäglichem Aufschieben, das fast alle Menschen bei unangenehmen Aufgaben von sich hin und wieder kennen, gleichzusetzen ist“. Arbeitsmarathon auf den letzten Drücker Für wen also ist die Ambulanz gedacht? „Prokrastination bedeutet das wiederholte und unnötige Aufschieben notwendiger und wichtiger Tätigkeiten, das im letzten halben Jahr an mindestens jedem zweiten Tag vorgekommen ist“, so Förster. „Und das, obwohl eigentlich Zeit dafür gewesen wäre.“ Es entsteht ein Leidensdruck, ein Gefühl der Scham und des Versagens, gepaart mit Nebenerscheinungen wie Schlafstörungen und quälender innere Unruhe. Die Freizeit lässt sich nicht mehr richtig genießen. Letztlich droht ein Studienabbruch, später der Jobverlust. Durch einen Arbeitsmarathon auf den letzten Drücker kann einiges kompensiert werden. Viele schwören auf die leistungsfördernde Anspannung durch eine nahe Deadline. Doch die kann längst nicht immer eingehalten werden. Zumindest sitzt etlichen „Letzte-Minute-Typen“ jedes Mal die Angst im Nacken, dass es sich nicht ausgeht. Oder die Qualität leidet stressbedingt. Da Prokrastination bislang nicht Bestandteil der anerkannten Diagnosesysteme ist, werden viele nicht oder falsch behandelt, sagt Stephan Förster. „In manchen Fällen kommt es zur Verwechslung mit psychischen Störungen, bei denen Prokrastination als Symptom auftreten kann – insbesondere Depression, Auf- merksamkeits-Defizit/Hyperaktivitäts- Foto: iStock/PeopleImages Störung (ADHS) oder zwanghafte bzw. narzisstische Persönlichkeitsstörungen.“ An der Prokrastinationsambulanz wird dem nachgegangen. So weiß man, dass ein Zehntel der Betroffenen unter ADHS leidet. Und nach der Diagnose? „Wir haben eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung entwickelt und in mehreren Studien evaluiert“, so der Psychologe. Dabei geht es auch um die Rolle von Bewertungsangst und Perfektionismus als mögliche Blockierer. Ziel ist die Verbesserung der Selbststeuerungsfähigkeit in kostenlosen Gruppenwie Einzeltrainings binnen fünf Sitzungen. Prokrastination ist besonders in jenen Bereichen beheimatet, wo viel Selbstbestimmung gefragt ist. Dass nach einem durchgetakteten System wie der Schule die Universitäten ein besonderer Hort der Prokrastination sind, ist kein Zufall. So begrüßt die Ambulanz viele Studierende, die mit der Komplexität ihrer Bachelor- oder „ Prokrastination hat nichts mit Faulheit zu tun. Vielmehr handelt es sich um ein ernsthaftes Problem der Selbststeuerung, eine tiefgreifende Arbeitsstörung. “ Psychologe Stephan Förster Masterarbeit kämpfen. Ein klassisches Muster: Unmengen lesen und dann im Bezug auf den Schreibprozess insgeheim auf den Musenkuss hoffen. Ersatzhandlungen wie Aufräumen schaffen ein schnelles Erfolgserlebnis und räumen zugleich den (Selbst-)Vorwurf der Faulheit aus. Zumindest für Ablenkung sorgt die eine oder andere gestreamte Serie, vielleicht auch beide. An der Prokrastina- Siehe dazu auch den Artikel von Dagmar Weidinger: „Gewusst wie: Lernen bei AD(H)S“ vom 30.8.2023, auf furche.at. Hoffen auf den Musenkuss An der Ambulanz in Münster kennt man klassische Muster der Prokrastination: zum Beispiel Unmengen zu lesen und dann in Bezug auf den Schreibprozess insgeheim auf den Musenkuss zu hoffen. tionsambulanz wird den Studierenden klar, wieso sie so ticken. Wer prokrastiniert, ersetzt negative Gefühle durch positive. Denn man schiebt ja nicht nur den ersten Schritt vor sich her, sondern damit auch eine Menge unangenehmer Gefühle: die Angst, die komplexe Arbeit nicht durchzustehen; keinen roten Faden zu finden; schlicht gelangweilt zu sein. Die Düsseldorfer Prokrastinationscoachin Anna Höcker nennt es das „Kurzfristig-langfristig-Dilemma“. Es gelte, „kurzfristig etwas Unangenehmes auszuhalten oder kurzfristig auf etwas Schönes zu verzichten, um später etwas Schönes oder weniger Unangenehmes zu erhalten.“ Eine solche Selbststeuerung ist für die Matura ebenso nötig wie für den Führerschein, die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen, die Steuererklärung et cetera. Je weiter weg das Ziel ist, desto schwerer kann die Überwindung fallen. Die Psychologin und Psychotherapeutin Höcker hat die Prokrastinationsambulanz der Universität Münster aufgebaut, die Methoden wissenschaftlich evaluiert und darauf basierend gemeinsam mit Margarita Engberding und Fred Rist den Selbsthilferatgeber „Heute fange ich wirklich an!“ (Hogrefe 2021) geschrieben. Bei ihrer Arbeit an der Ambulanz hat sie das Problem beobachtet, dass „klare, verbindliche Entscheidungen lange offengehalten werden“. Dabei ist die Planung von großer Bedeutung: wann genau man anfängt, wie man die Arbeit inklusive Pausen realistisch anlegt, und nicht zuletzt: wie man das Ablenkungsrisiko minimiert. Auf diese Art wird eine lose Absicht zum konkreten Vorsatz – und damit zur Selbstverpflichtung mit Konsequenzen. „Ein Zurückgehen hinter die Entscheidung, ein Aufgeben oder Versagen ist ohne psychische Kosten, vor allem Einbußen für das eigene Selbstwertgefühl nicht mehr möglich“, erläutert Höcker. Vorsätze zieht man daher viel eher durch als lose Absichten. Wollen, was man soll Wenn das „Eigentlich sollte ich ...“ im Kopf allzu dominant wird, hilft ein radikaler Ansatz namens Arbeitszeitrestriktion weiter. Dazu wird das Pensum anfangs sehr stark limitiert, zum Beispiel auf nur zwei Stunden pro Tag, mit einer Stunde Pause dazwischen. Diese kurze Zeit wird dann effizient genützt; so wird die vormals schwammige Trennung zwischen Arbeit und Freizeit wiederhergestellt. Vor allem aber wächst das Verlangen nach zusätzlicher Arbeitszeit, weil alles Limitierte nun einmal den Wunsch nach mehr fördert. Kurzum, man wird dann wollen, was man soll. Der Rat von Experten: Trainiert man eine neue Arbeitstechnik fünf Wochen lang, wird sie zur Gewohnheit. Angekommen! Jedes Paket macht einen Unterschied. Millionen Menschen warten noch auf unsere Hilfe. Spenden Sie jetzt auf care.at/angekommen 104_1024003_Care_24_25_Kinder_Anzeige_Furche_275x78mm_v01_RZ.indd 1 18.10.24 10:57

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