DIE FURCHE · 44 14 Literatur 31. Oktober 2024 Von Rainer Moritz Wer ist diese Frau? Alex heißt sie, zweiundzwanzig Jahre alt ist sie. In der „Stadt“, hinter der sich New York City verbirgt, hat sie wohl als Escortgirl gearbeitet, eine Zeitlang gut verdient, ehe die Geschäfte schlechter liefen, sie Schulden angehäuft und ihre Wohnung verloren hat. Von da an ist Alex unterwegs und versucht sich aushalten zu lassen. Ihr Weg führt sie in die Hamptons, das Reichenviertel auf Long Island, und am Anfang scheint ihr Plan aufzugehen. Sie geht eine Beziehung mit Simon ein, einem gut dreißig Jahre älteren, sehr vermögenden Kunsthändler, auf dessen Anwesen sie die Zeit vor allem mit Nichtstun und Partymachen verbringt. Die 1989 geborene US-Amerikanerin Emma Cline sorgte 2016 mit ihrem Debütroman „The Girls“ weltweit für Aufsehen. Dieser basierte auf einer „wahren Geschichte“ – inspiriert von den von der Hippie-Gruppe um Charles Manson begangenen Gewalttaten Ende der Sechzigerjahre in Kalifornien – und erzählte von Manipulationsmanövern, denen Menschen hilflos ausgeliefert sind. Auch Alex, Clines neue Protagonistin, versteht sich in gewisser Weise auf dieses manipulative Handwerk. Bei Simon freilich ist sie plötzlich mit ihrem Latein am Ende. Während sie davon träumt, den Sommer Cocktail trinkend auf Liegestühlen zu verbringen und im Winter in Simons luxuriöse Stadtwohnung überzusiedeln, sorgt ein kleiner Fauxpas dafür, dass ihr Liebhaber sie jählings vor die Tür setzt. Er schickt sie zurück in ihr – nicht existentes – New Yorker Apartment, ohne ein Wiedersehen konkret in Aussicht zu stellen. Heilloser Trip Von da an befindet sich Alex auf einem heillosen Trip, begleitet von Drohanrufen eines Ex-Lovers, dem sie Geld schuldet. Eine Unterkunft hat sie nicht, und da ihre Dollarreserven knapp sind, sucht sie Anschluss – vor allem an Menschen, die ihre Hochstapeleien nicht durchschauen, sie eine Weile in ihren Reihen aufnehmen und durchfüttern. „Einladungen“ im engeren Sinn, wie der deutsche Romantitel verheißt, erhält sie nicht; sie versteht es, weil sie unangreifbar und unauffällig wirkt, sich mühelos zu integrieren. „The Guest“ heißt Clines Buch im Original, was fraglos auch für die Übersetzung der bessere Titel gewesen wäre. Alex ist ein ungebetener Gast, den die Cliquen, denen sie sich anschließt, anfangs kaum wahrnehmen. Zu geschickt ist sie darin, Fragen nach ihrer Vergangenheit und Herkunft auszuweichen; zu raffiniert geht sie vor, wenn sie mit unauffälligen Diebstählen ihre Finanzen aufbessert, und zu dreist übertölpelt sie eine Kinderfrau, als sie angibt, mit deren Arbeitgebern gut bekannt zu „Die Einladung“, Emma Clines Roman über eine Hochstaplerin, gibt indirekt Auskunft über die emotionale Leere einer ganzen Gesellschaft. Die Frau, die nicht zu greifen ist „ Simon wird nicht ohne sie sein können. Diese sich zum Wahn ausweitende Autosuggestion hält Alex am Leben, lässt sie die Tage und Stunden bis zum erhofften Liebescomeback zählen. “ sein, und so die – für sie kostenlosen – Annehmlichkeiten eines Beach-Clubs genießt. Auch als sich am Strand der fünf Jahre jüngere, Hermann Hesse lesende Jack in sie verliebt und mit ihr eine Villa in Beschlag nimmt, klammert sich Alex an eine Vorstellung, die ihrer Reise Sinn geben soll. Simon, so ihr auf nichts basierender Glaube, wird nicht ohne sie sein können, weshalb sie vorhat, ihn am bevorstehenden Labor Day aufzusuchen, um glück selig wieder in seine Arme zu fallen. Diese sich zum Wahn ausweitende Autosuggestion hält Alex am Leben, lässt sie die Tage und Stunden bis zum erhofften Liebescomeback zählen. Emma Clines „Die Einladung“ ist das klug konzipierte Porträt einer Frau, die weiß, dass sie nirgendwo dazugehört und ihre Schönheit wie eine undurchdringbare Maske vor sich herträgt. Psychologisiert Foto: DV DeVincentis Starker Start Die 1989 geborene US-Amerikanerin Emma Cline sorgte 2016 mit ihrem Debütroman „The Girls“ weltweit für Aufsehen. wird nichts in diesem Roman, und so bleibt bei der Lektüre nichts anderes übrig, als Alex an ihren genau kalkulierten Handlungen zu messen. Ihre so schwer zu fassende Identität setzt sich aus wiederkehrenden Elementen zusammen: der Abhängigkeit von Medikamenten, dem Wunsch, sich zu betrinken und Drogen zu konsumieren, dem Ärger über ein ihre Makellosigkeit beeinträchtigendes Gerstenkorn, der Sorge um das richtige Make-up. Und nicht zuletzt steht und fällt ihr Leben mit ihrem Mobiltelefon. Nachdem dieses Nässe abbekommen hat, ist es kaum noch funktionstüchtig. Die ständigen Blicke auf das meist schwarze Display und die vergeblichen Versuche, es aufzuladen, sind stereotype Handlungen, die Alex’ Tage auszumachen. Der Unruhe entkommen Ihrer Unruhe und ihrer Angst, entlarvt zu werden, entkommt Alex nur, wenn sie sich selbst verliert, wenn sie mit Wasser in Berührung kommt. Permanent will sie sich selbst vergessen, und das gelingt ihr, wenn sie im Meer schwimmt und sich an – den auf Long Island zahlreichen – Swimmingpools aus dem Leben ausklinkt. Clines „Einladung“ spielt an allen Ecken und Ende mit Wassermotiven. Die schöne Frau, die im Wasser aufgeht, das ist ein alter literarischer Topos, und der Roman stattet ihn mit neuen Facetten aus. So mag man Emma Clines Heldin als unangenehme Hochstaplerin und als Fakerin sehen, doch das Verblüffende an dem auf ein dramatisches Finale zusteuernden Roman liegt darin, dass dieses Unstete und dieses Verlorene Alex zu einer Figur machen, die indirekt Auskunft gibt über die emotionale Leere einer ganzen Gesellschaft. Eine trübselige Leere der Schönen und Reichen in den Hamptons und eine traurige Leere derjenigen, die den Traum der Schönen und Reichen nachleben wollen. Auf der Strecke bleiben, so scheint es, die einen wie die anderen. Die Einladung Roman von Emma Cline Aus dem Engl. von Monika Baark Hanser 2023 318 S., geb., € 26,80 WIEDERGELESEN Ein Zeitalter geht zugrunde Von Anton Thuswaldner Er entspricht dem klassischen Typus des Poète maudit, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für Aufsehen sorgte und sich mit revolutionärer Großspurigkeit und gesellschaftsverachtender Ablehnung bürgerlicher Tugenden abseits stellte. Janko Polić Kamov (1886–1910) stammt aus Rijeka, zu seinen Lebzeiten Teil der habsburgischen Monarchie. Früh wurde er zum Rebellen, flog von Schulen, nahm anarchistisch beeinflusst die Haltung eines Staatsfeindes ein. Er betrieb Raubbau am Körper, nahm keine Rücksicht auf seine angegriffene Gesundheit, an Knochentuberkulose sollte er früh in Barcelona, wo er in Avantgardekreisen verkehrte, völlig verarmt sterben. Der Roman „Austrocknen“, erst 46 Jahre nach Kamovs Tod erschienen, ist nun, 114 Jahre nach dem Tod des Verfassers, auf Deutsch erschienen. Und wieder einmal fragt man sich: Warum dürfen wir dieses imposante Buch erst mit derart großer Verspätung kennenlernen? Es handelt sich um eine kaum verhüllte autobiografische Vivisektion des jungen Mannes Arsen in Aufruhr. Einer, der die Freiheit sucht und sich in Eskapaden politischer, ästhetischer, sexueller Natur stürzt. Eine Poetik der Hässlichkeit setzt sich durch, weil der Autor gewillt ist, alles, was die Gesellschaft verdrängt und nicht an sich heranlässt, ins Buch zu lassen. Er übernimmt die Drecksarbeit, über Widerwärtiges zu schreiben, weil das sonst niemand macht, begibt sich in verrufene Milieus, registriert Dreck, Blut und Eiter als die allgegenwärtigen Begleiter. „Arsen stank. War völlig verschmiert von etwas Farblosem, Geronnenem. Wie Blut, aber er war nicht verwundet; wie Kotze, aber alles war verdaut; wie Eiter, aber nirgends eine Beule.“ So schreibt einer am Ende eines Zeitalters, wenn die Morbidität der Gesellschaft in körperliche Morbidität übersetzt wird. Ordentlich gewachsen und bedächtig konstruiert ist dieser Roman nicht, man darf ihn als Unding ästhetischer Organisation betrachten. Man merkt ihm an, dass er dem Leben entlang geschrieben ist und Spontaneität als Konzept herhalten muss. Mit Kamov kommt die Moderne nach Kroatien. Anarchismus wird zur Lebenshaltung, wenn sich Kamov in ständiger Bewegung findet und sich rastlos jeder Bindung verweigert. Das Leben, eine gewaltige Suchanstrengung. Seine Gewährsleute sind die Umstürzler im Geiste vom Schlage eines Nietzsche oder Dostojewski. Das Buch ist das Beispiel einer radikalen Avantgarde, das deshalb keine Wirkung zeitigte, weil es so lange ungedruckt blieb. Heute müssen wir Janko Polić Kamov als einen bedeutenden Neuerer anerkennen. Austrocknen Roman von Janko Polić Kamov Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert Guggolz 2024. 482 S., geb., € 28,80
DIE FURCHE · 44 31. Oktober 2024 Literatur 15 In ihrem Familienroman „Kantika“ spürt Elizabeth Graver der beeindruckenden Lebensgeschichte ihrer Großmutter nach. Zugleich ist die Erzählung eine nuancenreiche Hommage an die sephardische Kultur, ihre Sprache und musikalische Tradition. Glasscherben auf der Mauer Von Oliver vom Hove Es ist ein Roman, in dem im Alleingang einer einzigen Protagonistin ein halbes Jahrhundert durchquert wird. Und der zugleich als Generationenerzählung den Schicksalsweg einer sephardischen jüdischen Familie nachzeichnet, ihre Vertreibung vor hundert Jahren aus der Türkei und ihre Flucht über vier Länder und drei Kontinente. In „Kantika“ hat sich die durch ihren Romanerstling „Die Sommer der Porters“ bekannt gewordene US-Autorin Elizabeth Graver am Lebenslauf ihrer 1902 in Konstantinopel geborenen Großmutter Rebecca Baruch Cohen orientiert. Diese hatte ihre ersten zwanzig Lebensjahre im geschützten Verband ihrer sephardischen Familie im Osmanischen Reich verbracht, bevor sie immer weiter nach Westen vertrieben wurde. Entlang dieser außergewöhnlich zersplitterten Lebensgeschichte gelingt es Graver, einen vielfarbig schillernden Erzählbogen von der Jahrhundertwende bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu spannen. Die Cohens in Konstantinopel waren Sepharden. Wenig bekannt sind bei uns Herkunft und Tradition der Sepharden oder Spaniolen, jener jüdischen Diaspora, die durch die Vertreibung der Juden nach 1492 aus Spanien ausgelöst wurde. Das hebräische sepharad ist der Name der Iberischen Halbinsel. Damals waren die meisten der verfolgten Familien in das religiös tolerantere Osmanische Reich geflohen, wo sie in bereits bestehenden jüdischen Gemeinden Zuflucht fanden. Orientalische Großzügigkeit In den Familien wie in der Gemeinde wurde Spaniolisch gesprochen. Die vor den Pogromen der katholischen Könige aus dem Spanien der Reconquista geflohenen Juden hatten sich über Jahrhunderte ihre auch Ladino genannte Sprache bewahrt, ein altspanisches Idiom, wie es beispielsweise auch der bekannteste Abkömmling sephardischer Juden des letzten Jahrhunderts, der Nobelpreisträger Elias Canetti, zu Hause sprach. Kantika, das Titelwort des Romans, bezeichnet auf Altspanisch einen Gesang, ein Jubellied, eine Romanze oder auch einen Trostgesang. Tatsächlich folgt Rebecca Cohen, die Protagonistin des Romans, als Mädchen zu Hause und später bei ihren Arbeiten als Modeschneiderin singend der sephardischen Liedtradition und erntet dafür viel Bewunderung. Aufgewachsen als Tochter einer wohlhabenden Unternehmerfamilie im vornehmen Viertel Fener der osmanischen Hauptstadt, erlebte Rebecca in den ersten beiden Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts eine privilegierte Jugend zwischen französischem Lyzeum und dem familieneigenen Sommerhaus auf der Insel Büyükdere. Gemäß der sephardischen Tradition sah sich die junge Jüdin eingebunden in ein dichtes soziales Netz von Angehörigen, Verwandten, Hausangestellten, Kindermädchen. Der Vater war Textilfabrikant und viel unterwegs, ein unsteter Geist. Der Umgang mit Zeit und Verpflichtungen war von orientalischer Großzügigkeit geprägt, was seiner Fortune als Geschäftsmann letztlich wenig zuträglich war. Aufbruch und Entwurzelung Bereits im Ersten Weltkrieg, vor allem aber nach der Gründung der türkischen Republik, wurde die Lage für die Juden im Land zunehmend unhaltbar. Konstantinopel hatte seine kosmopolitische Offenheit verloren, die türkischen Nationalisten usurpierten das Land und hetzten gegen sämtliche Minderheiten. Der Vertreibung der Juden ging jene der Griechen voraus, noch früher der hundert tausendfache Völkermord an den Armeniern. 1925 sieht sich die in wirtschaftliche Not geratene Familie Cohen zum Aufbruch gezwungen. Sie nimmt das Angebot Spaniens zur Repatriierung vertriebener Spaniolen an und lässt sich in Barcelona nieder, wo sich Rebeccas Vater mit einem bescheidenen Dasein als Hausmeister der Synagoge, als „Schames“, begnügen muss. Die Entwurzelung wiegt schwer. Im sich immer faschistischer zeigenden Spanien fühlt sich der ängstlich gewordene Mann schließlich als „Fremder „ Sie hat einst mit ihrer Großmutter lange Gespräche geführt und diese auf Tonband aufgezeichnet. “ Foto: Adrianne Mathiowetz in einem fremden Land“. Er igelt sich ein und widmet sich leidenschaftlich nur mehr dem von ihm gehegten Garten der Synagoge. Als dort erste judenfeindliche Übergriffe drohen, lässt er zur Abschreckung Glasscherben auf der Backsteinmauer anbringen. Immer wieder „wendet sich das Blatt gegen die Juden“, wie es die Autorin ausdrückt. Von den Eltern gedrängt und in ihrem Status verunsichert, lässt sich Rebecca auf eine Ehe mit einem sephardischen Juden aus FEDERSPIEL Projekt Tellerrand Familie im Fokus Für ihre Generationenerzählung „Kantika“ wurde Elizabeth Graver (*1964) mehrfach ausgezeichnet. Im deutschsprachigen Raum erlangte sie mit ihrem Roman „Die Sommer der Porters“ (2016) Bekanntheit. der Osttürkei ein, der sie unglücklich macht und schließlich mit zwei Kindern als junge Witwe zurücklässt. Über ihre Protagonistin in dieser Lage schreibt die Autorin: „Sie ist keine Nörglerin, dazu ist sie zu stolz, doch sie trägt eine leise klirrende tägliche Einsamkeit mit sich herum, als hätte sie eine Handvoll kleiner Steine in der Tasche.“ Doch Rebecca lässt sich nicht niederringen. Um sich und ihre beiden Kinder aus der bedrohlichen Lage in Europa zu befreien, setzt sie ihre biografische Odyssee fort und reist 1934 allein nach Kuba, um eine arrangierte Ehe mit einem sephardischen Witwer aus New York einzugehen. Sam Levy war der Ehemann ihrer verstorbenen Jugendfreundin Lika und erweist sich als verlässlicher Lebensbegleiter in der Neuen Welt. In Queens wird, abseits von Krieg und Judenverfolgung in Europa, ein stabiler Rückzugsort vor den Zumutungen der Geschichte geschaffen. Drei weitere Kinder werden geboren, darunter die Mutter der Autorin. Berührend dabei Rebeccas aufopfernde Hilfe für ein geistig behindertes Stiefkind, dem sie zu weitgehender Selbstständigkeit verhilft. Faszinierend, wie literarisch trittfest und zugleich fantasievoll die 1964 geborene Autorin den biografischen Spuren ihrer Großmutter zu folgen weiß. Sie hat einst mit ihr lange Gespräche geführt und diese auf Tonband aufgezeichnet. Zuweilen indes erweist sich die enge Anbindung ihres Romans an die tatsächliche Lebensgeschichte der Rebecca Cohen (mit Originalfotografien belegt) auch als eine Fessel, die sich besonders gegen Ende des Romans bemerkbar macht. Da trägt die Autorin etwas zu dick auf mit dem Einschwenken auf ein sehr traditionelles Bild von Eheund Mutterglück, das sie Rebecca verklärend zuschreibt. Elizabeth Gravers akribisch recherchierte Familiensaga zeigt das Bild einer Frau von außergewöhnlicher Charakterstärke. Zudem stellt sie eine nuancenreiche Hommage an die sephardische Kultur, ihre Sprache und musikalische Tradition dar. Persönlich, aufrichtig, eindrucksvoll. Kantika Roman von Elizabeth Graver Mare 2024 386 S., geb., € 25,70 Von Daniel Wisser Literatur entdecken Seit ihrem Gründungsjahr widmet sich DIE FURCHE der Welt der Bücher und schafft einen wertvollen Zugang zu Wissen, Fantasie und Inspiration. Entdecken Sie online Texte namhafter Autorinnen und Autoren – von 1945 bis heute. Jetzt 4 Wochen gratis lesen! u Gleich bestellen: www.furche.at/abo/gratis aboservice@furche.at +43 1 512 52 61 52 online im Navigator seit 1945 Wie schnell ein Jahrhundert vergehen kann. Es ist schon das dritte Jahrhunderthochwasser, das ich in den letzten zweiundzwanzig Jahren erlebt habe, weitere werden folgen. Doch das ist kein Grund für uns Österreicher, globale Zusammenhänge zu sehen oder uns mit den Ursachen zu beschäftigen. Unser Blick geht bis zum eigenen Tellerrand. In der Zeit des rücksichtslosen Egoismus, in der sich die Fotografie auf Selfies und die soziale Tätigkeit auf Selbstdarstellungen in Social-Media-Netzwerken beschränkt, gibt es nur eine richtige Reaktion darauf: Österreich hilft Österreich. Vorbei die Zeit, als man hungernde Kinder und Kriegs- und Gewaltopfer unterstützte und sich Gedanken darüber machte, wie es den Ärmsten auf dieser Welt geht. Die – so sind wir heute überzeugt – sollen sich selbst helfen. Nun gibt es, so lese ich, sogar ein Benefizkonzert für die Hochwasseropfer, bei dem Christina Stümer und andere „Austrostars“, die ich nicht kenne, auftreten. Und das alles für einen guten, nein, für den besten Zweck: die Liebe zu sich selbst. Österreich hilft Österreich. Die Aktion könnte sich auch um die Inflation kümmern, indem Austrostars nicht nur ohne Gage auftreten, sondern auch noch auf der Bühne Geld verbrennen, um die Teuerung zu senken. Auf keinen Fall aber sollten wir angesichts der Krisen in der Welt über den eigenen Tellerrand hinausschauen und uns mit globalen Zusammenhängen beschäftigen, denn das würde zu einer Abwanderung unserer Aufmerksamkeit ins Ausland führen. Wir müssen also daran arbeiten, dass die Festung Österreich Wirklichkeit wird. Auch das Internet ist – befürchte ich – eine Verletzung unserer Außengrenzen. Mir wäre ein Austronet und das ÖWN (Österreichweites Netz) statt des WWW (World Wide Web) viel lieber. Der Autor ist Schriftsteller.
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