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DIE FURCHE 31.10.2024

DIE

DIE FURCHE · 44 10 Diskurs 31. Oktober 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Mich sticht der Hafer, und ich suche „Poesie“ Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. „ Das ist es wieder, warum ich diesen Franziskus mag: weil ich mich einmal über ihn furchtbar ärgern kann – und er mir dann wieder ‚aus dem Herzen‘ spricht. “ Wir haben uns zuletzt über Zufälle ausgetauscht, und Sie fragen, wie wir denn Botschaften darin erkennen können. Es ist, wie Sie schreiben, wenn es uns „wie Schuppen von den Augen fällt“. Zum Beispiel, wenn ich entdecke, dass der literarische Herbst von vier Frauen – nein, eben nicht beherrscht, sondern, ich sag’s poetisch – erleuchtet wird. Von der Nobelpreisträgerin Han Kang, der Friedenspreisträgerin Anne Applebaum, von der aus dem Allgäu stammenden Martina Hefter, die für ein „leise und fein gearbeitetes Buch“ den Deutschen Buchpreis 2024 gewonnen hat – und schließlich von der türkisch-britischen Schriftstellerin Elif Shafak, der Gastrednerin bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse. Vier Frauen: ein Komplott? Sicher nicht. Also doch Zufall? Und: die Botschaft an wen? Ich sage: dorthin, wo in der schrecklichen Welt der Kriege nur die Männer das Sagen haben! Doch geben wir es schlichter: Die vier Frauen dieses Herbstes können auch eine Botschaft zum Beispiel an Papst Franziskus in Rom sein. Der kann sich eine Weihe von Frauen zu Diakoninnen „noch“ nicht vorstellen. Da hat doch einmal ein anderer, ein weiser Papst vom Erkennen der „Zeichen der Zeit“ gesprochen! Liebe Frau Hirzberger, eigentlich will ich Ihnen schreiben, was mich an der Rede von Elif Shafak, der systemkritischen türkischen Autorin, so berührt hat. Wir leben, sagte sie, in einem Zeitalter der existenziellen Angst. Ein Mittel dagegen sei wisdom, Weisheit, für deren Gewinnung wir wieder mehr Langsamkeit in den Medien brauchen. Als ich kürzlich im Rahmen von „100 Jahre Radio“ nach meinem Idealradio befragt wurde, habe ich mir den Dichter Schiller zu Hilfe geholt. Ganz antiquiert. Bei Schiller ist die Rede von der „praktischen Weisheit“, dem „unfehlbaren Schlüssel zu der menschlichen Seele“ und ihren Sehnsüchten. Das ist es, denke ich. Elif Shafak sagt dasselbe ganz einfach: „Für Weisheit brauchen wir Literatur.“ Und Poesie. Beide brauchen Zeit, um zu den menschlichen Seelen zu finden. Die Macht der Literatur ist die Erinnerung, sagt Elif. Nicht nur an Zerstörung und Spaltung, sondern vor allem an Schönheit, Solidarität, Geschwisterlichkeit und Liebe (beauty, solidarity, sisterhood and love). Noch ein Zufall, liebe Frau Hirzberger. Gerade wie ich diese Gedanken schreibe, poppt ein Link mit dem neuen Rundschreiben von Papst Franziskus auf, Titel: Dilexit nos – „Er hat uns geliebt“. Über das Herz Jesu. Mich sticht der Hafer, und ich suche im Text nach dem Stichwort „Poesie“. Und, siehe, ich finde: „Im Zeitalter der künstlichen Intelligenz dürfen wir nicht vergessen, dass zur Rettung des Menschen Poesie und Liebe notwendig sind. Was kein Algorithmus erfassen kann, ist zum Beispiel der Augenblick in der Kindheit, an den man sich mit Zärtlichkeit erinnert und der immer noch überall auf dem Planeten stattfindet. Ich denke daran, wie wir mit unseren Müttern oder Großmüttern die Teigränder der selbstgemachten panzerotti mit einer Gabel verschlossen haben.“ Viele solcher poetischen Details, die er dann beschreibt, haben mit der Zärtlichkeit zu tun, die man in den Erinnerungen des Herzens bewahrt. Das ist es wieder, warum ich diesen Franziskus mag: weil ich mich einmal über ihn furchtbar ärgern kann – und er mir dann wieder „aus dem Herzen“ spricht. Wie alle Menschen. Ist doch ein Trost! Von Maria Harmer Statt Halloween werden in Mexiko die „Tage der Toten“ In FURCHE Nr. 47 gefeiert – ein fröhliches Fest, das sich aus Native 3800 1. November 2000 American und christlichen Traditionen entwickelt hat. In Österreich haben Halloween und Allerheiligen wenig gemein. Beim amerikanischen Fest verkleiden sich Kinder als Skelette und Vampire, während an Allerheiligen die Gräber geschmückt werden, um der Toten zu gedenken. In Mexiko findet um diese Jahreszeit eine Fiesta statt, die die beiden Feste vereint. Die FURCHE hat die mexikanische Tradition im Jahr 2000 beleuchtet. Totenköpfe aus Marzipan, Särge und Skelette aus Schokolade, Musik und ausgelassene Fiestas auf den Friedhöfen. Makaber!? Unmöglich!? Ungewöhnlich vielleicht – für Mitteleuropäer, die gewohnt sind, Allerheiligen auf ihre Art zu feiern. Los Dias de los Muertos, wie Allerheiligen/Allerseelen auf Spanisch heißt, spiegelt die Geschichte Mexikos ebenso wider wie das daraus resultierende ambivalente Verhältnis der Mexikaner zum Tod und trägt viel zum besseren Verständnis dieses Landes und seiner Bewohner bei. Allerheiligen in Mexiko vereint nämlich die aztekische Vorstellung von Leben und Tod als sich abwechselnde Stadien eines gesamtkosmischen Kreislaufes ebenso wie die Vorstellungen der Maya vom Leben nach dem Tod Fiesta auf dem Friedhof und Elemente der christlich-spanischen Volksfrömmigkeit. Grundvoraussetzung für die im ganzen Land stattfindenden Feierlichkeiten rund um die ersten beiden Novembertage ist die Vorstellung, dass die Seelen der Toten einmal jährlich zurückkommen, um mit ihren Hinterbliebenen hier auf der Erde zwei fröhliche gemeinsame Tage zu verbringen. Die Vorbereitungen beginnen schon Monate vor dem eigentlichen Fest. Gräber, Straßen und Häuser werden geputzt. Eigene Geschäftszweige haben sich auf dieses Fest spezialisiert – und leben nicht schlecht davon: Große Felder werden mit Cempasuchil, den intensiv duftenden gelben Totenblumen bebaut, Bäcker backen das pan de muertos, das Totenbrot, die Süßwarenindustrie produziert Totenköpfe, Särge und Skelette aus Marzipan, Schokolade und Zuckerguss. Andere Geschäftszweige haben sich auf dem Anlass entsprechende Scherenschnitte und Illustrationen spezialisiert. Künstler wie Jose Guadalupe Posada wurden mit ihren Skelett-Karikaturen weltberühmt. Einige Märkte blühen förmlich auf und überbieten sich in Handwerksprodukten für das Totenfest. Alle stürzen sich zu Allerheiligen in große Unkosten, und viele Haushalte verschulden sich regelrecht durch das Ausrichten des Festes. Foto: Wikipedia / Tomas Castelazo, www.tomascastelazo.com (cc by-sa 4.0) Mit Zucker zum Leben erweckt Eines der auffälligsten Merkmale dieses Festes sind die Totenschädel. Sie sind weit mehr als Dekoration. Auf die Schädel aus Zuckerguss lässt man seinen eigenen Namen schreiben, verschenkt sie an seine Lieben. Dann soll die Freundschaft oder Liebe über den Tod hinaus halten. Man kann sich aber auch einen Verstorbenen „einverleiben“, indem man einen Schädel aus Zuckerguss mit seinem Namen isst. „Wie du aussiehst, sah ich einst aus. Wie du mich jetzt siehst, wirst du einst aussehen“, ist da etwa als Memento mori zu lesen. AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. 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DIE FURCHE · 44 31. Oktober 2024 Diskurs 11 Für Wehleidigkeit bleibt keine Zeit, appelliert Ex-ÖVP-Ministerin an Volkspartei und SPÖ angesichts der Sondierungsgespräche. Angebracht wäre vielmehr eine Klausur. Ein Gastkommentar. Leidenschaft und Augenmaß sind gefragt ORF-„Morgenjournal“ am Montag dieser Woche: Berichte über die Wahlen in Georgien, in Bulgarien, in Litauen und Japan und ein Interview zur ersten Gesprächsrunde der Regierungsverhandlungen in Österreich. Während in Georgien allfällige Wahlmanipulationen zugunsten der Russland-freundlichen Regierungspartei zu Massenprotesten führen, hat in Bulgarien die nunmehr siebente Wahl auch keine klaren Ergebnisse gebracht, und es ist zu befürchten, dass die achte Wahl innerhalb von drei Jahren ansteht. Und auch Japan stehen schwierige Regierungsverhandlungen bevor, nachdem die bisherige Regierungspartei bei den Unterhauswahlen am Sonntag die Mehrheit verloren hat. Österreich ist nicht allein in einer schwierigen Situation bei der Suche nach einer stabilen Regierungsmehrheit. Die Zeiten der absoluten Mehrheiten sind in demokratischen Ländern mit Verhältniswahlrecht längst vorbei. Populistische Parteien sind im Aufwind, und die schwierige wirtschaftliche Situation nach der Pandemie und dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine befeuert diese Entwicklung. Zweierkoalition wäre leicht erpressbar In Österreich hat nach dem Regierungsbildungsauftrag des Herrn Bundespräsidenten an Bundeskanzler Nehammer das erste Sondierungsgespräch zwischen ÖVP und SPÖ am vergangenen Freitag stattgefunden. Dabei ging es einem Interview von SPÖ-Frauensprecherin Eva-Maria Holzleitner zufolge vor allem um eine atmosphärische Annäherung der beiden so unterschiedlichen Parteien. Vor allem die Wunden aus den Untersuchungsausschüssen werden die vertrauensbildenden Maßnahmen erschweren. Aber für Wehleidigkeit bleibt keine Zeit! Beiden Parteien und ganz sicher auch einer dritten stehen intensive Gesprächs- und Verhandlungstage bevor. Ein Überhang von nur einem Mandat im Nationalrat würde bei einer Zweierkoalition jede der beiden größeren Parteien ganz leicht erpressbar machen. Jeder einzelne Abgeordnete aus ÖVP und SPÖ könnte die Regierung zu Fall bringen. Verständlich, dass Karl Nehammer gleich in seinem ersten Statement nach dem Auftrag an- Foto: Kurier ©Jeff Mangione gedeutet hat, dass ein dritter Partner/eine dritte Partnerin gesucht werden muss. Prinzipiell sind beide kleineren Parteien noch im Rennen und haben ihre Bereitschaft zum Regieren bekundet. Die Erfahrungen der ÖVP mit den Grünen vor allem im letzten Regierungsjahr deuten allerdings auf ein grundlegendes Misstrauen in der Partei gegenüber dem bisherigen Regierungspartner hin und eher auf eine Beteiligung der Neos in einer künftigen Dreierkoalition. Die atmosphärischen Annäherungen und vertrauensbildenden Maßnahmen sind vernünftig und unbedingt notwendig, aber sie dürfen keineswegs zu viel Zeit in Anspruch DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Maria Rauch-Kallat „ Das Wahlvolk ist zu Recht ungeduldig und erwartet rasche Ergebnisse – diese zu liefern, wird nicht leicht sein. “ nehmen. Das Wahlvolk ist zu Recht ungeduldig und erwartet rasche und konkrete Ergebnisse – doch es wird nicht leicht sein, diese zu liefern. Zu unterschiedlich sind die Wahlprogramme der ÖVP und der SPÖ, und jede der beiden Parteien wird Abstriche von ihren Forderungen machen müssen. Sie dürfen aber nicht verabsäumen, diese notwendigen Abstriche auch ihren Wählerinnen und Wählern zu erklären. Also lieber einige Wochen länger verhandeln, als fragile Ergebnisse zu akzeptieren. Die Entscheidung über den dritten Partner sollte möglichst rasch getroffen werden, um gleich gemeinsam einige Leuchtturmprojekte zu definieren. Zu verteilen gibt es nichts oder zumindest nicht viel. Im Gegenteil: Es wird einiger schmerzhafter Maßnahmen bedürfen, etwa um die Staatsfinanzen wieder in den Griff zu bekommen. Und hinter diesen Maßnahmen müssen alle drei Regierungspartner geschlossen stehen. Profilierungen auf Kosten der anderen wird sich kein Koalitionspartner leisten dürfen. Vom offenen oder versteckten Streit hat der Wähler genug. Die Verhandler sollten sich mit den besten Köpfen aus Wirtschaft und Wissenschaft in Klausur begeben, deren Vorschläge anhören, Vorteile und Nachteile politisch abwägen und dann zu gemeinsamen politischen Entscheidungen im Regierungsprogramm kommen, hinter denen alle Regierungsmitglieder und auch die drei Parlamentsklubs geschlossen stehen sollten. Aber: Nicht um jeden Preis! Besonders wichtig ist der Zeitfaktor. Es ist vernünftig, die einzelnen Maßnahmen in ein Zeitkorsett einzubetten und tatsächlich Woche für Woche die Aufträge abzuarbeiten und gemeinsam an die Bürgerinnen und Bürger zu kommunizieren. Die letzten Wahlen haben gezeigt, dass das Interesse an der Politik wieder gestiegen ist. Das muss sich eine neue Regierung zunutze machen und permanent im Gespräch mit den Wählerinnen und Wählern bleiben – vor allem auch mit jenen, die sich bei der Wahl aus Enttäuschung über andere Parteien für die FPÖ entschieden haben und deren Anliegen ernst genommen werden müssen. Auch das hat Bundeskanzler Nehammer bereits in seinem ersten Statement ausgesprochen, und es sollte bei den Verhandlungen nicht vergessen werden. Er hat aber auch klar gesagt, dass er nicht versprechen kann, dass die bevorstehenden Gespräche und Verhandlungen zu einem Ergebnis führen werden. Nicht um jeden Preis! Leidenschaft und Augenmaß sind in den nächsten Wochen angesagt und von allen gefordert, damit wir nicht – wie in Bulgarien – in wenigen Monaten wieder zur Wahl gehen müssen! Der Autorin war Nationalratsabgeordnete, Ministerin sowie ÖVP-Generalsekretärin. Heute ist sie Vorsitzende des Club Alpha. ZUGESPITZT Aufwachen – das ist ein Autoland Das sanfte Rauschen der Südosttangente, die monotone Geräuschkulisse der abrollenden Reifen – die Augenlider von Bundeskanzler Karl Nehammer werden schwer. Er gleitet in einen unruhigen Traum. Dort lenkt er ein türkisfarbenes Cabriolet durch blühende Maisfelder in Niederösterreich. Der Wind weht durch sein Haar. Die Gläser seiner schwarzen Pilotenbrille reflektieren die Strahlen der Herbstsonne. Plötzlich verwandelt sich sein Auto in ein knallrotes Fahrrad mit pinken, grellen Punkten. Noch bevor er weiß, wie ihm geschieht, sitzt er schon fest im Sattel. „Karl, versuchʼs der Natur zuliebe“, rufen Andi Babler und Beate Meinl-Reisinger im Chor. Sie sitzen auf einer Bastdecke am Rande des Maisfelds. „Das ist gar nicht so schwer. Einfach treten.“ Langsam und wackelig rollt der Kanzler los. Nach wenigen Metern kippt der Drahtesel. Der Neo-Radfahrer stürzt. „Alles in Ordnung?“, fragt die Kanzler gattin. „Wieder der blöde Traum mit dem Fahrrad?“ Nehammer nickt, steht auf, geht zum Fenster und schaut hinaus: Am Straßenrand steht ein Auto neben dem anderen. Kein Fahrrad weit und breit. „Österreich ist doch noch ein Autoland“, flüstert er erleichert und zieht sich die Decke über den Kopf. Markus Hagspiel PORTRÄTIERT Stars im Schmollwinkel Eigentlich wird Fußball ja auf dem Rasen gespielt. Doch am Montagabend tauschten einige Kickerinnen und Kicker Trikot und Stutzen gegen Galakleid und Smoking ein. Und den Rasen gegen den roten Teppich. Denn in Paris wurden die besten Fußballer der Welt mit dem „Ballon d’Or“, dem goldenen Ball, geehrt. Bei den Frauen siegte die Spanierin Aitana Bonmatí, sie gewann mit dem FC Barcelona Liga, Cup und Champions League. Ihr Landsmann Rodri, der Mittelfelddirigent von Manchester City, holte bei den Männern die Trophäe. Für die größten Schlagzeilen sorgte aber jemand, der den Ballon d’Or nicht gewann – und nicht einmal bei der Gala anwesend war –, was auch schon der Grund der Schlagzeilen ist: Alle Repräsentanten von Real Madrid blieben der Veranstaltung aus Protest fern, weil wenige Stunden vor der Verleihung durchsickerte, dass Ma drids Flügelstürmer Vinicius Júnior nicht gewinnen würde. Einigen galt er als Mitfavorit auf den Preis. Weder Vinicius noch Real-Trainer Carlo Ancelotti flogen nach Paris – und das, obwohl Letzterer zum Coach des Jahres gekrönt wurde, und Real Madrid zur Mannschaft des Jahres. Real warf den Veranstaltern per Aussendung vor, „Real Madrid nicht zu respektieren“. Nachsatz: „Und wo Real Madrid nicht respektiert wird, wird Real Ma drid nicht hingehen.“ Klingt ganz schön weinerlich für einen Verein, der sich als „die Königlichen“ bezeichnet. Wehleidigkeit scheint bei Preisverleihungen überhaupt zum Trend zu werden: Erst vor zwei Wochen nannte es Clemens Meyer eine „Unverschämtheit“ und „Schande“, dass Martina Hefter den Deutschen Buchpreis gewann – und nicht er selbst. Wer sagt Meyer und Vinicius, dass es noch andere Leute gibt, die gut schreiben und kicken? Vinicius hatte zweifellos eine gute Saison, er gewann mit Real die Champions League und die spanische Liga. Doch Rodri holt nicht nur Club-Weltmeisterschaft, englische Liga und mit Spanien die EM. Sondern er tat all das, während er in seinen 63 Saisonspielen nur dreimal verlor: zwei Elferschießen und das englische Cup- Finale. Nach den vielen Spielen drohte er im September mit Spielerstreiks: Der immer dichter und länger werdende Spieltagekalender im Profifußball sei ungesund und senke die Qualität der Spiele. Wenige Wochen später verletzte er sich schwer am Knie – seine Saison ist beendet. Rodris Warnung vor Überlastung kam auch für ihn selbst zu spät. Als Kassandra auf Krücken nahm er am Montag den Ballon d’Or entgegen. (Philipp Axmann) Foto: APA / AFP / Franck Fife Zweimal Spanien: die offensive Mittelfeldspielerin Aitana Bonmatí (26) und der defensive Mittelfeldspieler Rodri (28) mit ihren „goldenen Bällen“.

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