DIE FURCHE · 35 6 International 31. August 2023 Von Ben Segenreich Israel ist ja wirklich ein exotisches Gebiet mit einer komplizierten, kuriosen Population. Viel geredet und geschrieben wird klarerweise über die Justizreform, die von der neuen rechts-religiösen Regierung zu Jahresbeginn angekündigt wurde und seither das Land aufwühlt. Manche wähnen Israel deswegen jetzt „auf dem Weg zum Gottesstaat“. In der Debatte über Israel wird – auch in Israel selbst – seit Jahrzehnten gewohnheitsmäßig mit Begriffen wie „Gottesstaat“, „Theokratie“, „religiöser Zwang“, „Diktat der Ultraorthodoxen“ oder „Teheranisierung“ herumgeworfen. Doch hier liegt ein doppeltes Missverständnis vor: Das erste betrifft spezifisch und aktuell die Justizreform. Diese hat nur am Rande etwas mit Israels strengreligiösen Juden und deren Parteien zu tun. Es geht um Grundsatzfragen des Rechtssystems, der Verfassung, der sauberen Verwaltung, der Machtbalance zwischen Parlament, Regierung und Höchstgericht. In der Substanz der vorgeschlagenen (und zum Großteil ohnehin gestoppten) Reformgesetze ist kein Gramm Religion zu finden. Mastermind und treibende Kraft des ganzen Reformprojekts ist Justizminister Yariv Levin. Dieser Herr ist zwar ziemlich starrsinnig, aber durch und durch säkular, ebenso wie sein Boss Benjamin Netanjahu, der als Premier die Letztverantwortung für das Vorhaben und dessen Folgen trägt. Grundlose Furcht versus Realität Auf der anderen Seite konnten sich die Strengreligiösen von einzelnen Elementen der ursprünglich geplanten Reform zwar gewisse Vorteile versprechen, aber so furchtbar wichtig ist ihnen das ganze Ding nun wirklich nicht – und sie haben sich aus der tosenden Kontroverse ziemlich herausgehalten. „Das ist keine Angelegenheit, die uns direkt betrifft“, hieß es jüngst ausdrücklich in einem umfassenden Leitartikel der Zeitung Yated Neeman, des Organs einer der im Parlament vertretenen streng-religiösen Bewegungen. Daran schloss sich ein Aufruf, angesichts der gefährlichen Spaltung auf die KLARTEXT Shoppinglaune Auch in Israel hat sich längst eine Konsumgesellschaft etabliert. Lesen Sie hierzu auch den Text „Israel auf dem Weg zum Gottesstaat?“ von Susanne Glass (19.7.2023) auf furche.at. Sozialleistungen kürzen? Unser Gastautor stößt sich an der Berichterstattung zu Israel: Die Säkularisierung des Staates werde unterschätzt – und der Einfluss der Ultraorthodoxen überschätzt. Eine Positionierung. Kein Gramm Religion! Von Julia Mourão Permoser Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) hat sich bei der Präsentation des jüngsten Integrationsberichts einmal mehr dafür ausgesprochen, die Sozialleistungen für Migrantinnen und Migranten zu kürzen, da sie als „Pull-Faktor“ wirken würden. Doch: Ist Österreich tatsächlich aufgrund dieser Zahlungen ein besonders attraktives Zuwanderungsland? Und: Wie wichtig sind diese Leistungen bei Migrationsentscheidungen? Dazu ein paar Gedanken und Fakten. Erstens zeigt die Migrationsforschung eindeutig, dass in der Fluchtmigration Sozialleistungen bei Entscheidungen keine Rolle spielen. Fluchtbewegungen werden vielmehr vor allem durch die Faktoren im Herkunftsland erklärt. Menschen fliehen vor Krieg, Verfolgung, Naturkatastrophen. Man kann demnach Fluchtbewegungen auch nicht durch weniger Sozialleistungen steuern. Zweitens haben Arbeitsmigranten in Österreich bereits jetzt erst nach fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts den vollen Anspruch auf diese Zuwendungen. Drittens zeigt eine Studie des europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik, dass Menschen mit ausländischem Pass Nettozahler ins österreichische Sozialsystem sind. Ähnliche Studien bestätigen dasselbe auch für Deutschland. Aufgrund des niedrigeren Durchschnittsalters zahlen Ausländerinnen und Ausländer viel mehr ins Pensionssystem ein, als sie daraus beziehen. Und das wiegt andere Kosten auf. Letztlich sollten Sozialleistungen nicht vornehmlich als Steuerungsmechanismen von Migration verstanden werden. Denn die Existenz eines Sicherheitsnetzes dient der gesamtgesellschaftlichen Integration. Konkret gesprochen: Es nützt allen in Österreich, wenn die hier ansässigen Menschen nicht in Armut leben müssen. Das ist Teil von dem, was dieses Land lebenswert macht. Darauf sollten wir stolz sein – auch wenn das mit ein Grund ist, warum viele Menschen gerne hier leben wollen. Die Autorin ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Foto:APA / AFP / Jack Guez Fortsetzung der Reform zu verzichten: „Wir müssen das überdenken und uns fragen, ob das jeden Preis wert ist.“ Wieso also diese Justizreform, so problematisch sie sein mag, Israel auf einen „Weg zum Gottesstaat“ führen sollte, ist nicht nachzuvollziehen. Das zweite Missverständnis liegt in der (weitverbreiteten) Überzeugung, die „Macht“ der Strengreligiösen in der israelischen Politik würde unaufhaltsam wachsen. Ja, viele Israelis fürchten sich davor, dass das Land „bald von den Strengreligiösen übernommen wird“ – aber vor dieser „baldigen“ Übernahme fürchten sie sich schon seit Jahrzehnten. Faktum ist, dass der Einfluss der Strengreligiösen auf das Leben in Israel seit Langem nicht nur nicht zunimmt, sondern sogar langsam abnimmt. Das lässt sich zunächst einmal mathematisch belegen: Zwar wächst der Bevölkerungsanteil der Streng religiösen, weil jede Frau in diesem Sektor im Durchschnitt sieben Kinder bekommt. Aber in parlamentarisches Gewicht setzt sich das bisher nicht um. Ihr bestes Ergebnis haben die strengreligiösen Parteien 1999 mit zusammen 16,8 Prozent der Stimmen erzielt. Seither gab es schon zehn weitere Parlamentswahlen, und die Strengreligiösen dümpelten dabei zwischen 10,7 und 14,1 Prozent herum. Seit 24 Jahren ist also kein Zugewinn, sondern ein Rückgang von Mandaten zu verzeichnen. „ Am Freitagabend strömen die Massen in die glitzernden Cine-Komplexe, am Schabbat klingeln die Kassen. “ Das Maß aller Dinge ist aber der Lebensalltag. Mit einem „Gottesstaat“ und „religiösem Zwang“ hätten wir es dann zu tun, wenn staatliche Gesetze die Bürger und Bürgerinnen zwingen würden, religiöse Vorschriften zu befolgen, wie etwa in der Islamischen Republik Iran. Vielleicht übersehe ich etwas, aber ich fordere jede und jeden heraus, mir auch nur ein einziges Gesetz aus den letzten 20 oder 30 Jahren zu zeigen, dass den Israelis „mehr Religion“ aufgezwungen hätte. Ich kann hingegen eine lange Liste von Beispielen dafür vorlegen, dass die Religion in Israel auf dem Rückzug ist. Etwa die Kinos. Als ich vor 40 Jahren in Israel eingewandert bin, tobte ein Kulturkrieg samt heftigen Demonstrationen darum, ob Kinos in Israel am Freitagabend geöffnet sein dürfen – aus religiöser Sicht eine „Entheiligung“ des Schabbats. Diesen Kampf haben die Strengreligiösen längst verloren, aufgegeben und vergessen. An Freitagabenden strömen die Massen in die glitzernden Cine-Komplexe – und auch in Heimwerkerzentren, Drogerien und Basaren klingeln am Schabbat die Kassen. „Gay-Pride“ in der Heiligen Stadt Ein Beispiel war der Streit um die Sommerzeit. Weil diese ihren Gebetsstundenplan stört, hatten die Strengreligiösen zunächst durchgesetzt, dass in Israel die Sommerzeit jeweils für nur rund drei bis vier Monate galt – das war nun wirklich eine Art „religiöser Zwang“, der die Nichtreligiösen schrecklich ärgerte. Auch hier haben die Religiösen letztlich verloren – und seit 2013 stellt Israel synchron mit Europa die Uhren um. Früher war es undenkbar, dass ein israelisches Fußballnationalteam am Samstag antritt (wieder die Schabbat-Ruhe), heute kümmert das niemanden mehr. Aufgegeben haben die Strengreligiösen auch die Versuche, die aus ihrer Sicht blasphemischen „Gay- Pride-Paraden“ zu verhindern – die sind heutzutage in vielen israelischen Städten, sogar in der konservativen „Heiligen Stadt“ Jerusalem, eine Selbstverständlichkeit. Früher gab es in Israel nur religiöse Beerdigungen, heute kann man sich auch ohne Rabbiner begraben lassen. Die jüdischen Reformbewegungen, in den US-amerikanischen Gemeinden dominant, aber in Israel lange Zeit verachtet und inexistent, rütteln am angestammten Monopol der Orthodoxie. Frauen haben sich das grundsätzliche Recht erkämpft, bei der Klagemauer mit Gebetsschal zu beten und dabei aus der Thora zu lesen, für die Strengreligiösen eine unerträgliche Irritation. Und wenn die Wehrpflicht für strengreligiöse Männer heute ein heißes politisches Thema ist, dann ist auch das ein Indiz dafür, dass die Strengreligiösen in der Defensive sind – bis vor rund 25 Jahren stand die Freistellung der Religionsstudenten noch völlig außer Frage. Die Liste könnte ich noch fortsetzen. Natürlich soll hier nicht behauptet werden, dass „die Religion“ auf Politik und Leben in Israel keinen Einfluss habe. Im Gegenteil, der Einfluss ist noch immer zu groß. Nachweislich falsch ist aber die Vorstellung, dass dieser Einfluss „immer stärker“ würde. Nein, er wird langsam schwächer. Und was nun die Justizreform betrifft: Die Demonstrationen haben gewirkt, die Regierung konnte bisher nur einen sehr kleinen Teil des im Jänner groß angekündigten Pakets durchbringen, und viel wird da nicht mehr nachkommen. Mit dem „Weg zu einem Gottesstaat“ ist da einfach nichts, denn die geplante Reform hat erstens nichts mit Gott zu tun und ist zweitens im Wesentlichen gescheitert. Der Autor ist österreichischisraelischer Journalist und war bis 2018 Korrespondent des ORF.
DIE FURCHE · 35 31. August 2023 Chancen 7 Jobs, die das Klima schonen Technologien und Dienstleistungen, die Umweltschäden vermeiden und natürliche Ressourcen erhalten, werden in erster Linie als Green Jobs definiert. Um Green Jobs zu fördern, braucht es Politik, Unis und die Wirtschaft. Doch die Anreize, gerade für Unternehmer, seien ausbaubar, sagt die Arbeitsexpertin Michaela Neumann. „Grüne Arbeit sichert unser Dasein“ Weiterbildung für die Energiewende präsentiert. Ziel von dem Programm ist, für Handlungsfelder wie Bauen und Sanieren, erneuerbare Wärme oder auch erneuerbarer Strom Maßnahmen vorzulegen, um Arbeitskräften hier Qualifikationen anzubieten. Aber das Potenzial an Personen, die bereit wären, Ausbildungen im Bereich Green Jobs zu machen, wird bislang noch nicht genügend genutzt. Beschäftigte, die Aus- und Weiterbildungen mit ihren Arbeitgebern verhandeln oder in ihrer Freizeit selbst bezahlen, können natürlich umschulen und etwas ganz anderes und Neues lernen. Die Vorgabe, dass es bestmöglich an die vorangegangene Erwerbskarriere anknüpft, gilt nur für beim AMS als arbeitslos gemeldete Menschen. Angebote gibt es also genug – es ist die Frage, wer Umschulungen absolvieren kann und darf und wer Zeit und Geld dafür hat. DIE FURCHE: Welche Rolle spielen Unternehmen bei der Schaffung von Green Jobs? Neumann: Unternehmen müssen sich in erster Linie ihrer Verantwortung in der Klimakrise bewusst werden. Das bedeutet, dass sie auf Unternehmensebene Transformationspläne entwickeln müssen, wie sie ihre Produktion klimaneutral gestalten können. Das bedeutet auch, dass sie mittelfristige Personalpläne anstellen. Das Problem, das wir da sehen, ist, dass sie dafür am jetzigen Markt keine Anreize haben, weil es in Österreich keine ambitionierte Klimaschutzpolitik gibt. Also wir haben immer noch kein Klimaschutzgesetz, das für die Sektoren Obergrenzen von Emissionen festlegen würde. Das zweite Thema sind die Lehrlinge. Aktuell bildet nur ein Fünftel der österreichischen Betriebe Lehrlinge aus. Und auch die Investitionen in Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind extrem gesunken. Von 2009 bis 2018 hat sich der Anteil, den Unternehmen bei der Weiterbildung von Beschäftigten übernehmen, um zehn Prozent verringert. Das ist auch widersprüchlich: Unternehmen beklagen, keine qualifizierten Arbeitskräfte zu finden, sind aber nicht gewillt, in die Ausbildung von ihnen zu investieren. Das Gespräch führte Manuela Tomic Der Umbau der Wirtschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz verändert bestehende Berufsbilder, lässt neue entstehen und bietet Chancen für Arbeitslose. Denn es werden nicht nur hochqualifizierte Arbeitskräfte benötigt, sondern auch solche mit niedriger und mittlerer formaler Qualifikation. Wie die grüne Wende also gelingen kann, erklärt Michaela Neumann, Arbeitsmarktexpertin der Arbeiterkammer (AK) in Wien. DIE FURCHE: Knapp 200.000 Menschen arbeiten laut Statistik Austria in Green Jobs. Was versteht man unter Green Jobs? Michaela Neumann: Green Jobs sind Arbeitsplätze, die in der Herstellung von Produkten, Technologien und Dienstleistungen einerseits Umweltschäden vermeiden und natürliche Ressourcen erhalten. Also Branchen rund um erneuerbare Energien, nachhaltiges Bauen und Sanieren und Wasser- und Abwassermanagement. Die Definition geht jedoch nicht weit genug. Jede Beschäftigung, also so wie sie sich in unserer heutigen Form verhält, steht immer im direkten Zusammenhang mit einem steigenden Ressourcen- und Energieverbrauch. Wir haben also eine direkte Verknüpfung zwischen Arbeit und Materialund Energieverbrauch. Das bedeutet aber auch, dass es da einen großen Hebel gibt, eben ambitionierte Klimapolitik zu machen, wenn wir Arbeit anders organisieren und auch Green Jobs breiter definieren. DIE FURCHE: Wie könnte diese breitere Definition aussehen? Neumann: Wir haben einerseits diese vielen technisch orientierten Berufe, die ganz klar zentral für eine Energiewende stehen. Es gibt aber auch viele dienstleistungsorientierte Beschäftigungen, die jetzt schon klimafreundlich sind und vor allem gesellschaftlich notwendig und auch zukunftsfähig. Das sind dann zum Beispiel Jobs im Gesundheits- und Pflegesektor, in der Bildung, in der Kreislaufwirtschaft. Es braucht also ein anderes Verständnis davon, welche Berufe für uns als Gesellschaft und für unsere Zukunft notwendig und wichtig sind. Und das sind auch klimafreundliche Berufe, die dazu beitragen, dass der Wohlstand und die Daseinsvorsorge als Ganzes gesichert ist. Dazu gehört aber auch der öffentliche Verkehr, die Abfallwirtschaft und vieles mehr. DIE FURCHE: Tut die Regierung genug, um die Schaffung von Green Jobs zu fördern? Neumann: Genug tut sie jedenfalls nicht, aber sie tut Dinge. Die AK Wien hat zum Beispiel Anfang 2023 gemeinsam mit dem Bundesministerium für Klimaschutz und Umwelt, dem Arbeits- und Wirtschaftsministerium und dem AMS Wien den Aktionsplan „Just Transition“ zur Aus- und Foto: iStock/ArtistGNDphotography Hören Sie dazu auch den Podcast „Warum es eine klimasoziale Migrationspolitik braucht“ vom 24. November 2022 auf furche.at. „ Aktuell bildet nur ein Fünftel der österreichischen Betriebe Lehrlinge aus. Auch die Investitionen in Mitarbeiter sinken. “ DIE FURCHE: Die Stadt Wien unterstützt Menschen, die einen Green Job in Angriff nehmen wollen, mit einer Einmalzahlung von bis zu 5000 Euro. Was können Städte leisten, wenn es um die Transformation hin zu grünen Branchen geht? Neumann: Die städtischen Unternehmen müssen sich beispielsweise überlegen, wie sie ihre Produktion und ihre Dienstleistungen klimafreundlich gestalten können. Öffentliche Gebäude müssen saniert werden. Wir bräuchten ganz dringend einerseits die thermische Sanierung, aber auch den Umstieg von den Energiesystemen. Und das ist insbesondere problematisch für Mieterinnen, die ja recht wenig Einfluss darauf haben können und nicht über die Sanierung oder die Energielieferanten entscheiden können. Wenn also jetzt solche Umbaupläne angefertigt werden oder auch die Städte die Eigentümerinnen auffordern oder dazu bringen, das umzusetzen, dann muss es auch Schutzbestimmungen für Mieterinnen und Mieter geben. Die Stadt muss mit einem guten Beispiel vorangehen. Die zweite Sache, insbesondere in Städten, ist natürlich der öffentliche Verkehr. Hier spielen Aus- und Weiterbildung eine große Rolle. Der Ausbau der Bahn findet bereits statt, die Infrastruktur wächst. Das ist prinzipiell gut, aber die Zahl der Beschäftigten steigt nicht. Aktuell fehlen 500 Lokführerinnen bei der ÖBB. FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE
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