DIE FURCHE · 35 20 Ausstellung 31. August 2023 Panoptikum der Stadt In der Frühzeit der Ansichtskarten waren viele Plätze, Straßen und Gassen von Wien bildwürdig, so die Friedrich-Kaiser- Gasse im 16. Bezirk um 1910. In manchen Fällen sind diese Karten heute die einzigen Belege für das einstige Aussehen dieser Plätze. Von Astrid Göttche wenig Geld sehen wir die Welt“, stellte der Weltverband der Ansichtskartensammler „Für 1897 fest – und sprach damit die Möglichkeit an, sich mittels Ansichtskarten Ausschnitte der weiten oder nahe gelegenen Welt nach Hause zu holen. Umgekehrt bedeutete dies selbstverständlich auch, für wenig Geld selbst Ansichten der eigenen Stadt oder von einer Reise in die Ferne senden zu können und damit Familienangehörige, Freunde oder Bekannte auf eine imaginäre Erkundung zu schicken. Es war die Zeit, in der die Ansichtskarte ihren Siegeszug als populäres Massenmedium anzutreten begann. Grundlage war die amtliche Postkarte, aus der heraus sich die Ansichtskarte Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte. Im Unterschied zur „Correspondenzkarte“ mussten sich Textnachricht und Adressfeld hier eine Seite teilen, während die „Vorderseite“ gänzlich zur Schauseite wurde. Wie unterschiedlich diese Seite bei Wiener Ansichtskarten genutzt wurde, zeigt die aktuelle Ausstellung „Großstadt im Kleinformat“. Es sind denn auch die vielen Postkarten, die in ihrer Fülle die Stars der Schau darstellen, dicht gefolgt von Wien als je DIE FURCHE EMPFIEHLT Literaturtage Sprachsalz Beim diesjährigen Literaturfestival Sprachsalz sind unter anderem folgende Autoren zu Gast in Hall in Tirol: Jan Carson (Nordirland), Dinçer Güçyeter (Deutschland, Türkei), Wlada Kolosowa (Deutschland, Russland), Judith Kuckart (Deutschland), Stewart O’Nan (USA), Kerstin Preiwuß (Deutschland), Sergio Ramírez (Nicaragua), Phil Shoenfelt (Tschechien), Abel Solares (Österreich, Guatemala). Internationale Literaturtage Sprachsalz 8.–10. 9. 2023, Hall in Tirol. sprachsalz.com Sie war so populär wie Social Media heute: die Ansichtskarte. Eine Ausstellung des Wien Museum zeigt, wie sie die vielen Facetten der Stadt neben Stephansplatz und Co im Lauf der Geschichte präsentierte. Postkarten mit Ansicht ner Stadt, die oft die Hauptprotagonistin vieler Kartensujets ist. Topografische Ansichten nahmen von Beginn an einen großen Teil im Angebot von Wiener Ansichtskarten ein. Erstaunlich ist, dass die Postkartenmotive – anders als heute – einst nicht auf zentrale Orte der Stadt beschränkt waren. Wie die Ausstellung anhand des 15. Bezirks aufzeigt, gab es bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl an Gassen, Straßen und Plätzen, die die Stadt mittels Ansichtskarten repräsentierten. „ Die Zahl der Ansichtspostkarten, die wir empfangen, ist das Thermometer unserer Beliebtheit. “ Sebastian Haffner Die Kunst der Verwandlung „SEA CHANGE – Die Kunst der Verwandlung“ lautet das Motto der Herbstausgabe von Europa in Szene, dem Festival der wortwiege. Das Wort William Shakespeares könnte man mit „ozeanische Verwandlung“ übersetzen. SEA CHANGE ist szenisches Gegengift zu Mechanismen der Starre, die keine Lösungen für die Probleme unserer Zeit anbieten können. Europa in Szene 6.–24. 9. 2023, Kasematten Wiener Neustadt, www.wortwiege.at/kalender FEDERSPIEL Foto: © Wien Museum Selbstredend gab es auch Motive, die so populär waren, dass sie in mehreren Variationen produziert und verkauft wurden. Eindrucksvoll wird dies anhand der Prater- Haupt allee veranschaulicht. 72 Ansichtskarten aus der Zeit von 1908 bis circa 1915 zeigen in 72 unterschiedlichen Varianten denselben Blick vom Praterstern. Klar wird hierbei, dass schon damals gerne mithilfe von Retusche, Montage und Kolorierung getrickst wurde. So wurden bei manchen Karten bewusst Personen oder Autos in den Vordergrund platziert, manchmal der Bildausschnitt durch Rahmung betont und oft der Himmel unterschiedlich koloriert. Stadtansichten oder Sehenswürdigkeiten waren aber nicht die einzigen Sujets, die auf Wiener Postkarten zu sehen waren. Ansichtskarten mit Firmengebäuden, Geschäftslokalen oder Wirtshäusern – häufig mit der versammelten Besitzerfamilie, Angestellten und Stammgästen im Vordergrund – wurden gerne zu Korrespondenzzwecken, als Werbemittel oder zur Erinnerung produziert. Durchaus wichtig war die Ansichtskarte zudem als Nachrichtenmedium, indem etwa Ereignisse wie der Brand des Justizpalastes binnen kürzester Zeit als Bilddokument verschickt werden konnte. Bis zu drei Millionen Karten Deutlich wird durch die Ausstellung, dass es kaum ein Herstellungsverfahren gab, das nicht für die Produktion von Ansichtskarten genutzt wurde. Je nach Verfahren, sei es Lithografie, Lichtdruck, Autotypie, Fotografie oder andere, variierte die Auflagenhöhe. Da der Vertrieb seitens der Gewerbebehörde keinerlei Beschränkung unterlag, waren „Postkarten mit Ansicht“ quasi an jeder Ecke zu kaufen – im Wirtshaus, in der Gemischtwarenhandlung, den Ausflugsrestaurationen oder beim Hausierer. Einige wenige Geschäfte spezialisierten sich sogar auf den Verkauf von Ansichtskarten und warben mit einem Lagerbestand von circa drei Millionen Karten. Ein besonders schönes Ausstellungsexponat, ein Verkaufsautomat aus der Zeit um 1905, belegt die Entwicklung von eigenen Verkaufsmöbeln, die mit dem Aufschwung des Ansichtskartenbooms einherging. Eine Auswahl an Sammelboxen und -alben zeigt wiederum, in welcher Form Kartensammler ihre Schätze aufbewahren konnten. Es sind die vielen Facetten dieses Themas, die in der Ausstellung beleuchtet werden und sie auszeichnen. Sie schließt mit einem Blick auf die sozialen Medien von heute und endet dazu passend mit einem Zitat des Feuilletonisten Sebastian Haffner von 1937: „Die Zahl der Ansichtspostkarten, die wir empfangen, ist das Thermometer unserer Beliebtheit.“ Großstadt im Kleinformat. Die Wiener Ansichtskarte Wien Museum MUSA Bis 24. September www.wienmuseum.at Die Krise der Streamingdienste Durch alle Medien geht die Nachricht von einer Krise der Streamingdienste: rückläufige Produktionszahlen, finanzielle Probleme, fallende Aktien. Ich bin verwundert, dass man darüber verwundert ist. Welchen Erfolg hat man sich davon erwartet, massenhaft zu produzieren, was niemand haben will? Ja, es gibt sie, die berühmten Serien. Aber die berühmten Serien machen 0,01 Prozent aller produzierten Serien aus. Sie leben vom Misserfolg oder zumindest viel bescheideneren Erfolg der restlichen 99,99 Prozent. Es kann nicht 100 Prozent Reiche geben, denn dann wären sie nicht mehr reich. Das ist das Wesen des Kapitalismus. Wie viele Schlager werden täglich produziert? Eine Frage, vor deren Beantwortung man Angst haben muss. Mit KI könnte man die Produktion von Schlagern schlagartig verhundertfachen: ähnliche Lieder aus zwei, drei Akkorden mit Texten über Berge, Täler, Liebe, Abschied. Wer kann erwarten, dass alle diese Lieder Gewinne bringen? Das Geschäft mit Kultur hängt von zwei Dingen ab: von der Leistbarkeit eines Luxusartikels für die Konsumenten. In einer Zeit, in der Preise für Essen, Mieten und Heizkosten rasant steigen, werden viele nicht noch 100 Euro pro Jahr für ein Streaming-Abo ausgeben. Und von der Vermittlung des Erhältlichen durch Redaktionen. Diese Vermittlung gibt es nicht mehr. Wer sich bei einem Streamingdienst einloggt, soll seine Filmauswahl aufgrund schlecht geschriebener, immer gleich klingender Inhaltsangaben treffen. Streamingplattformen disqualifizieren sich für mich durch ihre Hybris: Zum einen unterschätzen sie die Konsumenten massiv. Aber niemand möchte unterschätzt werden. Zum anderen halten sie sich selbst für sakrosankt, wenn sie immer denselben Rezepten folgen. Ich möchte Mut belohnen, Andersartigkeit und das Brechen von Regeln. Der Autor ist Schriftsteller. Von Daniel Wisser
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