DIE FURCHE · 35 2 Das Thema der Woche Politik zum Einloggen 31. August 2023 AUS DER REDAKTION Die digitale Welt hat den Hang zur Radikalisierung – das erlebt jeder und jede, die sich durch diverse Timelines scrollt, am eigenen Leib. Doch zugleich eröffnet die digitale Revolution völlig neue Formen der Teilhabe und des Engagements. „Fridays for Future“ war ebenso ein Beispiel dafür wie Bewegungen wie #BlackLivesMatter oder #MeToo. Dass auch die Umsetzung konkreter Projekte möglich ist oder auch digitale Wahlen realistisch werden könnten, zeigt der aktuelle Fokus „Politik zum Einloggen“ von Wolfgang Machreich. Eher eine „Politik zum Ausloggen“ findet sich freilich derzeit in Israel. Ben Segenreich hat uns dazu einen durchaus kontroversiellen Gastkommentar übermittelt. Und unser Ukraine-Experte Stefan Schocher hat eine erschütternde Reportage aus einer Geburtsklinik in Kiew geschickt. Durchaus Chancen sieht indes Manuela Tomic, was Green Jobs betrifft. Dagmar Weidinger beschreibt, wie Kinder mit AD(H)S lernen können; und die renommierte Ethikerin Alena Buyx erklärt im Interview mit Martin Tauss, was es mit dem „One Health“-Ansatz auf sich hat. Auch das dieswöchige „Erklär mir deine Welt“ von Hubert Gaisbauer über den „harmlos-lieben Jesus“ lege ich Ihnen ans Herz. Wem nach dem Sommer-Aus schon wieder nach Reisen zumute ist, findet bei Isabella Marboes Bericht von der Architekturbiennale Inspiration – und kann dabei gleich den neuen Roman von Sabine Gruber lesen. Brigitte Schwens-Harrant hat „Die Dauer der Liebe“ ausgelotet. (dh) Von Wolfgang Machreich Der frühere Vizekanzler und Finanzminister Wilhelm Molterer sitzt als Teilnehmer im Forum-Alpbach-Seminar mit dem Titel „Demokratie mit neuen Technologien lehren“, genauso wie der jetzige Staatssekretär im Finanzministerium, Florian Tursky (ÖVP) – und beide, so wie alle anderen Seminargäste, bauen mit Legosteinen. Schräg, unerwartet: Das Seminar widmet sich der digitalen Revolution und startet mit Lego? Doch die an die Teilnehmer gestellte Aufgabe lautet, zum Einstieg mithilfe der Bauklötze darzustellen, wie Bildung und Demokratie zusammengehören – und was für sie Demokratie lernen und lehren bedeutet. Die eine baut ein Schiff, ein anderer eine Tür, eine Dritte eine Art Rakete und vieles mehr. Was alle diese Legomodelle verbindet, ist die Idee, dass politische Bildung und demokratisches Bewusstsein neue Räume erschließen, zu neuen Ufern traben, Mitbestimmung möglich machen. Ein Drittel digitale Analphabeten Rund einem Drittel der Bevölkerung zwischen 16 und 74 Jahren fehlt es an digitalen Basiskompetenzen, rechnet Florian Tursky nach der Lego-Einheit vor. „Die ganze Welt verschiebt sich ins Digitale“, sagt er, „wenn drei von zehn Menschen da Mängel haben und nicht mitkommen, schafft das ein großes Problem bei der Teil habe und Teilnahme – vor allem für Ältere.“ Tursky ist als Staatssekretär zuständig für Digitalisierung und Telekommunikation und koordiniert die Anfang des Jahres gestartete Digitale Kompetenzinitiative der Bundesregierung. Im weiteren Verlauf seines Statements schlägt er einen Ton an, der sich als Grundmelodie durch das Alpbach-Seminar ziehen wird: Diese Regierungsinitiative soll nicht nur die Breite, sondern vor allem auch die Tiefe digitaler Kompetenzen stärken. „Auch die Jungen, die sogenannten Digital Natives, sind nicht automatisch digitale Experten“, sagt Tursky. In einer Zeit, in der neun von zehn Arbeitsplätzen in irgendeiner Form auch digitale Kompetenzen verlangen, entscheiden diese Fähigkeiten zunehmend auch über die Möglichkeiten wirtschaftlicher Teilhabe. Da er regelmäßig danach gefragt werde, erklärt Tursky auch gleich seine Position zu digitalem Wählen in Österreich: „In zwei Jahren können wir sichere Wahlen organisieren“, ist er überzeugt. „Die technische Umsetzung geht schnell, das Problem ist der Mangel an Vertrauen . Zuallererst müssen wir also das Vertrauen in die Sicherheit dieser Technologie herstellen.“ Veranstaltet wurde das Seminar zu digitalen Kompetenzen im Alpbacher Hotel Post von Fotomontage: Rainer Messerklinger (unter Verwendung zweier Fotos von iStock/Privizer bzw iStock/MaYcaL) „Wichtigste Währung ist Vertrauen“, schrieb der Philosoph Georg Schildhammer am 17. Mai 2018 über den Umgang mit Lügen in (digitalen) Medien; nachzulesen unter furche.at. „Bold Europe“, das Forum-Alpbach-Motto, fordert ein mutiges Europa. Mit Mut und smarten Konzepten kann die Digitalisierung zu mehr politischer Teilhabe führen. Demokratie ins digitale Netz stellen „Pallas Antenne“: Die Auswirkungen der Digitalisierung auf Teilhabe und Teilnahme am demokratischen Leben sind enorm. Wie darauf reagieren? „ In zwei Jahren können wir in Österreich digitale Wahlen organisieren. Die technische Umsetzung geht schnell, das Problem ist der Mangel an Vertrauen. “ Staatssekretär Florian Tursky (ÖVP) der „Innovationsstiftung für Bildung“. Diese Einrichtung des Bildungsministeriums zielt darauf ab, innovative Antworten auf aktuelle Herausforderungen in der Bildung zu geben. Dabei gehe es freilich nicht um die Verteilung von Laptops und anderem Equipment in den Schulen, erklären die Vertreter dieser Stiftung, sondern um eine tiefgreifende Digitalisierung – da ist sie wieder, die Grundmelodie –, gepaart mit einem positiven, optimistischen Zugang zum notwendigen neuen Zusammenspiel von Bildung, Demokratie und Technik. Teresa Torziecky, die Leiterin der Geschäftsstelle und Projektentwicklung dieser Innovationsstiftung für Bildung, schlägt im Seminar den Bogen zu den Eröffnungsreden am Forum über Europa und die Welt: „Da war viel davon die Rede, wie Europa gegen Feinde gestärkt werden kann. Da ging es vor allem um die Gegner von außen – aber was ist mit den Feinden im Inneren? Die sind schwieriger zu finden.“ Als Um und Auf für eine lebendige, starke Demokratie nennt sie politisch engagierte Bürgerinnen und Bürger. Dieses Engagement verlange allerdings Zeit, sei mit Aufwand verbunden und brauche ein gewisses Maß an politischem Wissen, zählt Torziecky wesentliche Schlüsselfaktoren auf: „Wir müssen uns fragen: Hat sich all das aufgrund von digitalen Technologien geändert, ist das mehr oder weniger geworden?“ Wobei Torziecky zu bedenken gibt, dass politisches Engagement mehr und anstrengender ist, als Postings in sozialen Medien mit Daumen hoch zu liken. Was die mit der Öffnung digitaler Schleusen einhergehende Informationsflut betrifft, betont sie, dass Demokratiebildung vor allem Unterstützung beim Aussortieren und Einordnen von Nachrichten leisten muss. Denn, so die Expertin für Bildungsinnovation: Sich im politischen System zu orientieren, ist für heutige Jugendliche alles andere als einfach. Vorbild Helsinki Prinzipiell wird in Österreichs Bildungsinstitutionen Politik theoretisch und faktenbasiert (z. B. im Geschichte- und Sozialkundeunterricht) oder in der Praxis, beispielsweise bei Klassensprecherwahlen, vermittelt. Ein Beispiel dafür, dass man anderswo deutlich mehr in die Einbeziehung von Jugendlichen in demokratische Entscheidungsprozesse zulässt, brachte Ella Tanskanen, Planungsbeauftragte für Jugendbeteiligung der Stadt Helsinki, nach Alpbach. Seit zehn Jahren haben die Schülerinnen und Schüler der finnischen Hauptstadt jedes Jahr die Möglichkeit, Projekte und Einrichtungen, die sie in der Stadt gern umgesetzt hätten, in Onlineumfragen vorzuschlagen, in Workshops gemeinsam mit Jugendarbeitern auszuarbeiten, in ihren Schulen abzustimmen und schließlich umzusetzen. Rund 10.000 Jugendliche zwischen elf und 17 Jahren beteiligen sich regelmäßig an dieser Aktion. Das ist ein Drittel der Jugendlichen Helsinkis in dieser Altersgruppe, rechnet Tanskanen vor: „Neben der absoluten Zahl an Teilnehmern geht es uns aber vor allem um die Qualität dieser Teilhabe, um echte Interaktionen. Denn nur diese stärken die demokratische Kompetenzen.“ 50 bis 80 auf diese Art von den Jugendlichen entwickelte Projekte werden pro Jahr umgesetzt. „Diese Projekte sind das eine“, sagt die Finnin, „unsere Hoffnung und Erwartung ist aber vor allem, dass damit das Vertrauen der Jugendliche in demokratische Prozesse gestärkt wird und sie erleben, dass sie etwas verändern können, wenn sie sich beteiligen.“ Hass-Gegenrede fördern Wie sehr soziale Medien die politische Landschaft in Finnland verändern, zeigen nach den finnischen Wahlen im April durchgeführte Umfragen: Besonders viele junge Wähler stimmten für die populistische und nationalistische Finnenpartei, die den zweiten Platz belegte. Ein maßgeblicher Grund für die Attraktivität dieser Partei gerade bei jungen Menschen soll – zumindest laut Nachwahlbefragungen – die Onlineplattform TikTok gewesen sein. Über Finnland hinaus wird dieses soziale Netzwerk zunehmend als „Radikalisierungsmaschine“ (siehe Kasten Seite 3) kritisiert. Dass diesem Hetz- und Hasskanal nicht unwidersprochen ein Podium geboten werden muss, zeigt Matthias Zeppelzauer, Forschungsgruppenleiter am Department für Medien und Digitale Technologien der FH St. Pölten. Im Sinne der im Alpbach-Seminar mehrfach angesprochenen tiefgreifenden Digitalisierung forscht Zeppelzauer an Methoden, wie counter speech, also die Gegenrede zu Hass im Netz, gefördert werden kann. Ziel seiner Forschung ist, jungen Menschen konkrete technische und argumentative Unterstützung anzubieten. Damit soll die Sichtbarkeit von engagierten jungen Internetnutzerinnen und -nutzern, die gegen Onlinehass auftreten, erhöht und die Wirksamkeit ihrer Gegenrede messbar werden. „Hassinhalte kommen oft sehr subtil, versteckt daher und sind schwierig zu erkennen“, erklärt Zeppelzauer die Herausforderung: „Deswegen braucht counter speech Argumente und Training.“ Und Mut, Zivilcourage sowie ein demokratisches Bewusstsein – analog wie digital.
DIE FURCHE · 35 31. August 2023 Das Thema der Woche Politik zum Einloggen 3 Extremismus hat es immer schon gegeben. Doch soziale Medien machen die Entwicklung dorthin noch leichter. Ein Gespräch über die zugrundeliegenden Prozesse – und die Fragen, wo individuelle „Normalität“ endet und die Gefährdung der Demokratie beginnt. „Jeder kann radikal werden“ Das Gespräch führte Philipp Axmann Der 6. Jänner 2021, als das Herz der US-Demokratie gestürmt wurde, ging in die Geschichte ein. Aber wie kommt es grundsätzlich dazu, dass sich Menschen derart radikalisieren? Und welche Rolle spielt der digitale Raum dabei? Darüber haben die Digitalisierungs expertin Sina Laubenstein und der Radikalismusforscher Manfred Zentner beim Forum Alpbach ein Seminar gehalten. DIE FUR- CHE hat sie zum Gespräch gebeten. DIE FURCHE: Beginnen wir mit einer Grundsatzfrage: Wann ist eine Ansicht überhaupt radikal – und wann extremistisch? Manfred Zentner: Radikal ist der Versuch einer völligen Veränderung einer Lebensart. Das ist nicht grundsätzlich gut oder schlecht – und wird oft von großen Teilen der Bevölkerung getragen. Beim Extremismus geht es um Werthaltungen, die eine Extremposition einnehmen und von der Mehrheit abgelehnt werden. Extremisten versuchen, ihre Ansichten notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen und in die Mitte der Gesellschaft zu bringen. Sina Laubenstein: Dazu kommt, dass Radikalisierung immer ein gradueller Prozess ist, Extremismus ist ein Zustand. Radikalisierung kann zu Extremismus führen. DIE FURCHE: Zuletzt ist in Österreich viel über „Normalität“ gestritten worden. Kann man aus Ihrer Sicht eine Grenze ziehen zwischen „normal“ und „radikal“? Zentner: Natürlich kann man solche Grenzen ziehen, aber es ist eine Frage von Macht, wer sie ziehen kann. In der „Normalität“ steckt die „Norm“. Normen sind nicht einfach gegeben, sie werden definiert. Gesetze bestimmen die Normalität. Darüber hinaus kann man nur von gesellschaftlichen Gewohnheiten sprechen. Hier ist aber nicht die Rede davon, ob das, was die Mehrheit tut, auch erstrebenswert ist. Laubenstein: Im Österreich und im Deutschland der 1930er Jahre war es etwa „normal“, Menschen auszugrenzen. Heute halten wir das – völlig zu Recht – für radikal und extremistisch. DIE FURCHE: Gibt es einen bestimmten Typus Mensch, der sich leichter radikalisiert? Laubenstein: Die Realität entspricht hier überhaupt nicht den häufigen Stereo typen, dass etwa Neonazis, Verschwörungstheoretiker oder andere radikale Menschen ungebildet bzw. arbeitslos wären. Diese RADIKALISIERUNGSMASCHINE Fotomontage: Rainer Messerklinger (unter Verwendung eines Fotos von APA / AFP / Mandel Ngan) Gruppen sind viel diverser. Das sieht man beispielsweise an der Erstürmung des Kapitols in Washington am 6. Jänner 2021. Nur sechs bis sieben Prozent der Beteiligten waren arbeitslos, der Rest kam aus angesehenen Berufen. Da waren Geschäftsfrauen, Anwälte und Menschen aus dem Gesundheitsbereich dabei. DIE FURCHE: Sind dann andere Faktoren – etwa persönliche Probleme – ursächlich? Laubenstein: Man hat lange behauptet, für Verschwörungstheorien seien nur Leute anfällig, die keine Stabilität im Leben hätten. Das stimmt nicht, es trifft auch Menschen, die mit beiden Füßen im Leben stehen. Wir alle sind dafür anfällig, jeder kann radikal werden und in die Fallen dieser Systeme steigen. Die Schwierigkeit ist, wieder hinauszukommen, erst recht, wenn man sich in diesen Gemeinschaften aufgehoben und gehört fühlt. Zentner: Es geht um das Gefühl der Zugehörigkeit. Oft trifft es Menschen, die sich keiner Gruppe zugehörig fühlen. Wir werden heutzutage kaum mehr in Gruppen hineingeboren, wir müssen sie uns selbst suchen. Der Bruch kommt oft, wenn man in TikTok und die Bewaffnung des Humors Wer heute mit der Jugend kommunizieren will, kommt an TikTok nicht vorbei. Laut Statista 2022 nutzen 70 Prozent der Jugendlichen in Österreich die Internetplattform, die Wachstumsrate gegenüber 2021 betrug 13 Prozent. Für politische Kommunikation wichtig ist vor allem, dass TikTok einen aktivierenden Einfluss hat. 92 Prozent der Userinnen und User geben an, nach Konsumation von TikTok-Inhalten eine Aktion auszuführen – Botschaften werden geteilt, mit Daumen hoch gelikt, kommentiert etc. Dieses Potenzial an animierender Kommunikation macht TikTok für politische Akteure attraktiv. Am besten nützen diesen Kanal aber populistische und rechtsextreme Gruppierungen, sagen europäische und amerikanische Studien, die im Detail deren gewaltverherrlichende, rassistische, frauen-, trans- und homofeindliche Aussagen in TikTok- Videos aufschlüsseln. Als Grund für diese Kompatibilität nennt eine Zeit Campus-Analyse eine Lieblingsmethode radikaler Onlinekulturen: „Die Bewaffnung des Humors.“ TikTok bietet die perfekte Plattform, um die „Gamifizierung“ (alles ist Spiel) und „Memefizierung“ (alles ist lustig) extremer Inhalte voranzutreiben und sich als provokant-ironische Infragestellung der Mainstream-Meinung zu inszenieren. (wm) Foto: Philipp Axmann bestehenden Gruppen nicht mehr akzeptiert wird, etwa weil man eine bestimmte Meinung vertritt. DIE FURCHE: Wie in Zeiten der Pandemie? Zentner: Ja, hier haben die einen gesagt „Die Maskenträger sind verrückt“ und die anderen „Die Coronaleugner sind verrückt“. Da gab es unter engen Freunden und in Familien so große Konflikte, dass der Kontakt abgebrochen wurde. Schlussendlich waren die Coronaleugner ausgeschlossen und mussten sich neue Gruppen suchen. Und diese neuen Gruppen verstärkten ihr Denken. So kommt es zu einer Phase der Radikalisierung. Sturm des Hasses Anhänger von Donald Trump haben am 6. Jänner 2021 das Kapitol in Washington angegriffen. Radikalisiert hatten sie sich v. a. über soziale Medien. „ Wo lernt man in der Schule Empathie? Die braucht es aber, um sich mit Kontrahenten auseinandersetzen zu können. “ Manfred Zentner, Radikalismusforscher Sina Laubenstein arbeitet beim deutschen Institute for Strategic Dialogue (ISD) und trainiert Erwachsene bezüglich digitaler Gefahren wie Hassrede und Verschwörungsmythen. Mehr zum Thema hören Sie im Podcast mit dem Grazer Ethiker Thomas Gremsl (23.8.2022): furche.at/ podcast Manfred Zentner ist Wissenschafter am Department für Migration und Globalisierung der Universität für Weiterbildung Krems. Er forscht unter anderem zu Radikalisierung. DIE FURCHE: Und wohin führt diese? Zentner: Oft dazu, dass dann auch andere Meinungen aus der Gruppe übernommen werden, die einen ursprünglich wegen der eigenen nicht angepassten Meinung aufgenommen hat. Es kommen auch gezielt neue Einflüsse hinein, wie etwa die Leugnung des Klimawandels oder die Ansicht, der russische Angriffskrieg wäre ein Krieg gegen Nationalsozialisten. Wenn wir als Gesellschaft ernsthaft Radikalisierung vorbeugen wollen, müssen wir uns mit anderen Meinungen auseinandersetzen. In solchen Debatten hilft es nicht, zu sagen „Deine Meinung ist falsch, hier ist ein wissenschaftlicher Artikel dazu“. DIE FURCHE: Wie kann man einen versöhnlichen Dialog mit der anderen Seite führen? Laubenstein: Zunächst einmal muss man sich selbst ernsthaft fragen, ob man für so ein Gespräch bereit ist, solche Diskussionen sind emotional aufgeladen, egal, wie viele Argumente ich mir zurechtlege. Und dann geht es vor allem um Empathie. Wenn man gleich irgendwelche Studien zitiert, fühlt sich das Gegenüber vielleicht für dumm verkauft und empfindet die andere Person als überheblich. DIE FURCHE: Wie verändert nun der digitale Raum diesen Radikalisierungsprozess? Laubenstein: Radikalisierung findet digital nicht unbedingt schneller statt, aber sie wird leichter. Radikale Gemeinschaften wachsen ohne Hindernisse über die ganze Welt. Wenn vor 50 Jahren etwas in den USA passierte, kam es nach drei Jahren nach Europa, jetzt passiert es in drei Sekunden. Durch das Digitale bilden sich Communitys, die es früher vielleicht nicht in dieser Aggressivität und Größe gegeben hätte. Radikale in den USA, Deutschland und Österreich können so die gleichen Heldinnen und Helden haben. Wir haben auch schon gesehen, dass französische Extremisten aus Deutschland unterstützt wurden. Spannend ist, dass diese Bewegungen oft nationalistisch sind, sich aber international vernetzen. DIE FURCHE: Und wie organisieren sich extremistische digitale Gemeinschaften? Laubenstein: Sie sind meist sehr hierarchisch strukturiert und verwenden militärische Begriffe, gleichzeitig setzen sie zur Verbreitung ihrer Botschaften etwa auf Memes (kreative Inhalte, die sich vorwiegend im Internet verbreiten, Anm. d. Red.). DIE FURCHE: Wie soll nun die Gesellschaft mit diesem Phänomen umgehen? Die Digitalisierung wird sich schließlich nicht rückgängig machen lassen. Laubenstein: Der erste Schritt ist, zu wissen, dass diese Dinge passieren und täglich stattfinden. Wir müssen uns von der Dichotomie reale Welt / digitale Welt verabschieden. Das Digitale ist Teil des Alltags. Wir müssen verstehen, dass es real ist und gefährlich sein kann. DIE FURCHE: Und was können wir praktisch tun? Zentner: Als Lösung nennt jeder Medienkompetenz und Bildung. Und das stimmt – aber es geht auch darum, was man in der Schule lernt. Wo lernt man in einer österreichischen Schule Empathie? Die braucht es aber, um sich mit Kontrahenten auseinandersetzen zu können und gleichzeitig zu verstehen, wie man zu den jeweiligen Ansichten gekommen ist. Vielleicht sollte man sich einmal die Resonanz- und Toleranzpädagogik ansehen. Eine Änderung des Bildungssystems – das wäre natürlich radikal! Laubenstein: Regulierung wird auch eine Rolle spielen. Schlussendlich wird es auf digitalen Plattformen aber immer auch Radikalismus, Extremismus und Menschenfeindlichkeit geben – denn dieses Verhalten ist viel älter als Facebook und Co. Das Wichtigste ist, wieder Zwischenräume zuzulassen anstelle des Schwarz- Weiß-Denkens. Das ist eine schwierige Auf gabe, aber so ein Forum wie hier in Alpbach kann dabei helfen. Solche Foren müssten nur noch etwas diverser sein.
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