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DIE FURCHE 31.08.2023

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DIE FURCHE · 35 10 Gesellschaft/Wissen 31. August 2023 Grill: Plankton ist faszinierend. Das sind viele Arten, winzige Tiere und Pflanzen, die oft unsichtbar im Wasser schweben. Siebzig Prozent des Sauerstoffs in der Erdatmosphäre stammen vom Plankton. Sie bauen ihre Körper aus Licht, CO₂ und Nährstoffen auf und absorbieren so viel CO₂ wie die tropischen Regenwälder. Für ein jedes Alter Andrea Grill schildert in ihrem neuen Sachbuch aus der Ich-Perspektive, was Tiere und Pflanzen den Menschen wohl zu sagen hätten. Die Autorin sieht darin eine Fibel – nicht nur für Kinder. Das Gespräch führte Andrea Burchhart Was würden uns Tiere und Pflanzen erzählen, wenn sie sprechen könnten? Die Biologin, Schriftstellerin und Übersetzerin Andrea Grill ist dieser Frage nachgegangen und beschreibt in ihrem Buch „Bio-Diversi-Was? Reise in die fantastische Welt der Artenvielfalt“ sieben Lebensräume und ihre Bewohner. Ein kunterbuntes, lehrreiches Sachbuch für Kinder, das nicht zuletzt dank der fantastischen Illustrationen von Sandra Neuditschko auch als Nachschlagewerk für Erwachsene taugt. DIE FURCHE: Ein Buch hat etwas Zeitloses, wirkt aber in Zeiten von Natur-Apps auch etwas anachronistisch. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein illustriertes Kinderbuch zum Thema Biodiversität zu machen? Andrea Grill: Bücher sind für mich immer noch das ideale Medium, um etwas über meine Umgebung zu erfahren. Benutze ich eine App oder einen Film, um Vergleichbares zu erzählen, sind die Kinder wie gebannt auf den Bildschirm fixiert und schauen nicht mehr auf die Lebewesen, die sie umgeben. Der Film, die App ersetzt dann die Natur. Das ist keine Rüge. Mir geht es genauso. Wenn ich mit dem Laptop im Wald sitze, höre ich schon wegen der Tasten geräusche beim Tippen weniger auf meine Umgebung. Ich habe überlegt, in das Buch Anleitungen für die Benutzung bestimmter Apps aufzunehmen, bin aber schnell davon abgekommen. Biodiversität ist seit meiner Gymnasialzeit mein Herzensthema. Um die Vielfalt des Lebens besser zu verstehen, ihr näher zu kommen, bin ich Biologin geworden. In der Forschung war ich dann letztlich eher bei der Evolutionsbiologie gelandet. Letztes Jahr erschien mein Kinderbuch „Sam und die Evolution – eine kleine Geschichte der Evolutionsbiologie“, das eine Geistesgeschichte des Evolutionsgedankens für Kinder sein soll. „Bio-Diversi-Was?“ war dann die logische Folge. Biodiversität ist das Ergebnis von Evolution. Das Buch soll eine Art Fibel sein, also ja, etwas, das vielleicht anachronistisch wirkt. Aber das Leben an sich ist anachronistisch. Wir Menschen sind heute evolutionär nicht wesentlich anders als vor zweihundert Jahren. Ein Buch ist eine gute Grundlage, um nachzudenken und den eigenen Forscherdrang anzuregen. Lesen Sie mehr zum natürlichen Gleichgewicht in „Die Messbarmachung der Diversität“ (16.12.2010) von Oliver Tanzer auf furche.at. Andrea Grill legt mit „Bio-Diversi-Was?“ kein gewöhnliches Sachbuch vor. Im Interview erklärt die Biologin, wieso Artenvielfalt ein gesellschaftsrelevantes Thema ist. „Menschen sind Teil der Biodiversität“ DIE FURCHE: Sie führen als Ich-Erzählerin kurze Interviews mit den unterschiedlichsten Lebewesen, als „Übersetzer“ fungiert ein Roboter namens „Robi“. Welche Fragen bleiben trotz Einsatz von KI unbeantwortet? Grill: KI kann keine Schmetterlinge züchten, beispielsweise, dazu braucht es die Erfahrung, was es heißt, lebendig zu sein. Selbst die meisten Menschen schaffen es kaum, ein Schmetterlingsei über Raupe und Puppe hinweg so gut zu betreuen, bis daraus ein Falter wird. Die Frage, welche Grasart ein bestimmter seltener Schmetterling, der sich als Raupe nur von einer Grasart ernährt, und dies auch nur nachts und nur in Höhenlagen über 2000 Metern, braucht, um existieren zu können, wird man nur beantworten können, wenn man eine solche Raupe tatsächlich beim Fressen beobachtet. „ Wie schaffen es Tiere, die sozial leben wie wir, miteinander zu leben, ohne Waffen, ohne die Möglichkeit, alle ihrer Art mit wenigen Handgriffen zu vernichten? “ DIE FURCHE: Welche Rätsel sind nicht gelöst, und was würden Sie fragen, wenn Sie tatsächlich Antworten von Tieren bekämen? Grill: Unzählige Fragen hätte ich da. Unzählbare Rätsel sind noch offen. Manche Tiere können ihr Leben abhängig von Umweltbedingungen enorm verlängern. Wie sie das tatsächlich machen, wäre von Interesse. Oder auch, wie man sein Geschlecht im Laufe des Lebens einfach verändern kann, ohne sich dafür gefährlichen Operationen zu unterziehen. Das können manche Fische zum Beispiel sehr gut. Wie schaffst du es, dir einen neuen Arm anwachsen zu lassen, wenn einer verwundet ist? Wie kann es gelingen, vierzig Jahre lang wie ein toter Zweig in der Wüste zu liegen und dann beim ersten Regenguss sofort wieder beginnen zu leben? Eine Frage, die ich gerne stellen würde, wäre, wie Tiere, die sozial leben wie wir, es schaffen, miteinander zu leben, ohne Waffen herzustellen, ohne Bomben, ohne die Möglichkeit, alle ihrer Art mit wenigen Handgriffen zu vernichten? Warum das nur wir Homo sapiens machen, das würde ich gern verstehen. DIE FURCHE: Das Buch räumt auch mit Missverständnissen auf: Aus einem Regenwurm werden nicht zwei, wenn man ihn durchschneidet, und Maulwürfe sind nicht blind. Haben Sie während der Recherche ein neues Lieblingstier entdeckt? Illustration: Sandra Neuditschko Andrea Grill ist Biologin, Autorin und Übersetzerin. Ihr neues Buch soll auch beim Umdenken helfen. DIE FURCHE: Das zum Drama neigende Seegras, die gesellige Hummel oder der einzelgängerische Edelkrebs: Sie schreiben den Arten auch Charaktereigenschaften zu. Worauf basieren diese Zuschreibungen? Grill: Ich halte mich an biologische Tatsachen. Das Seegras ist unglaublich empfindlich, und ja, für Seegräser spielen sich an vielen Küsten von uns verursachte Dramen ab. DIE FURCHE: Für die Klimakrise bleibt bekanntlich wenig Zeit, um Lösungen zu finden und umzusetzen. Glauben Sie, dass der Zeithorizont für die Biodiversitätskrise ähnlich ist? Und warum ist Biodiversität so wichtig? Können wir nicht auch mit weniger Arten auf der Erde gut leben? Grill: Biodiverse Artengemeinschaften sind resilienter als solche mit einigen wenigen Arten. Bei einer plötzlichen Änderung der Umweltbedingungen durch eine Überschwemmung oder plötzliche Trockenheit erholen sich diverse Gemeinschaften schneller. Schon allein um die Nahrungsversorgung der menschlichen Weltbevölkerung auf lange Sicht zu gewährleisten, braucht es Biodiversität. Was die Zeit betrifft, so glaube ich, dass es uns nicht leichtfällt, uns in die Zeithorizonte anderer Lebewesen hineinzuversetzen. Wir leben zwangsläufig sehr in der Gegenwart, wollen aber gleichzeitig für die Zukunft planen, unser Leben „im Griff“ haben. Natürlich ist noch Zeit, Lösungen zu finden. Das Leben findet immer Lösungen. Wir sind mit allen Lebewesen verbunden. Foto: Privat DIE FURCHE: Welche Maßnahmen müssen gesetzt werden, um den Artenschwund zu stoppen oder vielleicht sogar umzukehren? Grill: In einigen Lebensräumen nimmt die Artenzahl auch aufgrund menschlicher Eingriffe zu. So gibt es z. B. in städtischen Gebieten immer mehr Säugetierarten, in Wien gibt es etwa eine hohe Artenvielfalt bei Fledermäusen, Füchsen, Bibern etc. Auch den großen Beutegreifern in den europäischen Wäldern wie Bär, Wolf und Luchs geht es so gut wie lange nicht mehr. Das ist auch der Biodiversität zu verdanken und einer großangelegten Strategie zum Schutz dieser Arten, die seit Jahrzehnten von der EU-Gesetzgebung unterstützt wird. Sie war erfolgreich. Wir könnten also, wenn wir wollten. Das global Wichtigste ist ohnehin allgemein bekannt: erstens Stopp der Ausbeutung und Abholzung der tropischen Regenwälder, zweitens Stopp der industriellen Grundschleppnetzfischerei (=Trawling) in den Weltmeeren, drittens Vermeidung langer Transportwege von Gütern und Nahrungsmitteln und viertens Stopp der Bodenversiegelung. Jede nicht asphaltierte Straße ist bereits ein Gewinn für die Biodiversität. Es geht darum, uns Menschen als Teil der Biodiversität auf der Erde zu verstehen. Bio-Diversi-Was? Reise in die fantastische Welt der Artenvielvalt Von Andrea Grill und Sandra Neuditschko (Illustrationen) Leykam 2023 208 S., € 28,95

DIE FURCHE · 35 31. August 2023 Bildung/Wissen 11 Kinder mit Schwierigkeiten im Bereich der Aufmerksamkeit sind keine „Allrounder“, sondern eher Spezialisten. Was später in der Berufswelt erwünscht ist, sorgt in der Schule oft für hartnäckige Probleme. Eltern haben einen Knochenjob – können aber viel erreichen. Gewusst wie: Lernen bei AD(H)S Von Martin Tauss HUMAN SPIRITS Komplett eingetaucht Hochbegabt Rezente Studien zeigen, dass Kinder mit ADHS nicht selten hochbegabt sind. Auch Albert Einstein und Thomas Alva Edison waren vermutlich betroffen. Von Dagmar Weidinger Das Ende der Ferien naht. Während die einen Eltern sich freuen, dass ihre Kinder nun wieder in die Schule gehen, wissen die anderen, dass sie bald wieder nicht nur die „liebe Mama“ oder der „Kumpel Papa“ sein werden, sondern auch der Lerncoach oder die Beraterin ihres Kindes. Gemeint sind jene Eltern, deren Kinder, egal ob diagnostiziert oder nicht, an AD(H)S leiden. Denn: So weit ist sich die Forschung mittlerweile einig, diese Kinder brauchen vor allem im schulischen Bereich viel Unterstützung, um ihren Weg zu machen. Laut jüngsten Studien sind rund fünf Prozent aller Kinder vom sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, kurz AD(H)S, betroffen. ADHS oder auch ADS fällt vor allem dann auf, wenn diese Kinder sich in einer Umgebung befinden, die nicht ihren individuellen Bedürfnissen entspricht. Das österreichische Schulsystem ist so ein Ort. Um dennoch die Pflichtschule zu absolvieren oder sogar die Matura zu schaffen, leisten betroffene Eltern meist einen Knochenjob. Zehn Minuten „Motz-Zeit“ Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund wissen das. Die beiden Schweizer Psycholog(inn)en betreiben seit vielen Jahren die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Heuer ist ihr Buch „Erfolgreich lernen mit ADHS und ADS“ in überarbeiteter Auflage erschienen. Der Ratgeber liefert nicht nur eine Vielzahl an Lernstrategien und Tipps, er wartet auch mit aktuellen Forschungsergebnissen auf. Der ideale Einstieg also für jeden und jede, der in seinem Umfeld mit ADHS zu tun hat. So wird gleich zu Beginn auf die nicht selten gestellte Frage eingegangen: ADHS – gibt es das überhaupt? Grolimund und Rietzler beantworten sie ganz im Sinne des aktuellen Konzepts der „Neuro diversität“: Ja, aber es handelt sich um ein Kontinuum mit verschiedenen Facetten. In anderen Worten, kein ADHS-Kind gleicht dem anderen. Die drei Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität können alle gemeinsam oder in unterschiedlicher Kombination und Stärke auftreten. Gleich zu Beginn des Buches stellen die beiden Psycholog(inn)en fest, was mittlerweile viele Expert(inn)en sagen: Die Bezeichnung der Diagnose ist irreführend. Tatsächlich sollte es „Aufmerksamkeits-Lenkungs-Defizit“ heißen, so Rietzler und Grolimund. Und weiter: „Schon in der Schule wird genau das erwartet, was unaufmerksamen Kindern schwerfällt: die Aufmerksamkeit über längere Zeit auf eine einzige Aufgabe richten und sich auch bei „ Schüler David stürmt nach der Schule gleich mit dem Ball hinaus. Seine Mutter weiß: Wenn sie ihn an die Hausübung erinnert, beginnt ein ‚Riesentheater‘. “ langweiligen Tätigkeiten nicht ablenken zu lassen.“ So zeigen jüngste Forschungsarbeiten, dass Kinder mit ADHS nicht selten zeitgleich hochbegabt sind – und zwar in genau jenen Bereichen, die ihrem Interesse und ihrem Talent entsprechen. Man könnte auch so sagen: Kinder mit ADHS sind eher Spezialisten und weniger „Allrounder“. Genau das sei in der Berufswelt viel eher gefordert als im Schulsetting, erklären die beiden Autoren. Ein Hoffnungsschimmer also für so manche mühsame Hausübungssituation. Denn, so viel wird im Buch rasch klar, vor allem diese gilt es für die betroffenen Eltern Foto: iStock/Khosrork mit ihren Kindern gut zu bewältigen. Anhand vieler Beispiele zeigen Rietzler und Grolimund, um welche Herausforderungen es sich handelt. Da ist etwa der Volksschüler David, der nach der Schule gern gleich mit dem Ball nach draußen stürmt. Seiner Mutter krampft sich der Magen zusammen, denn sie weiß, irgendwann – bald! – wird sie ihn an die Hausübungen erinnern müssen. Und dann, ja dann beginnt ein „Riesentheater“. David schimpft: „Lass mich in Ruhe!“, „Das ödet mich an!“ – und so weiter und so fort. Schon Cordula Neuhaus, die bekannte deutsche ADHS-Spezialistin, empfiehlt Eltern, die ihre Verantwortung wahrnehmen, dem Kind bei der Hausübung beizustehen, solche Attacken immer als Angriffe auf die Rolle als Lernbegleiter und nicht als Mutter oder Vater zu sehen. Auch die beiden Schweizer Psychologen setzen beim Wohlbefinden und der „Psycho hygiene“ für die Eltern an. Wer gut helfen möchte, darf, ja, muss auch auf die eigenen Grenzen und Bedürfnisse achten. „Sie sind nicht der 24-Stunden-Service“ heißt die dazu passende Überschrift. Das Buch empfiehlt, den Kindern eine zehnminütige „Motz-Zeit“ einzuräumen, dann jedoch sollte Schluss sein. Der Ton macht die Musik: Kann ein Kind dann nicht aufhören, heißt es, sich kurz zu absentieren, anstatt in lähmende Diskussionen oder gar Streitereien einzutreten. Das Wichtigste ist die Beziehung Im Buch finden sich zahlreiche praktische Tipps, ansprechend illustriert mit Situationen aus dem Leben eines kleinen Hasen mit ADHS, den man genauso wie einem kleinen zappeligen Biber auch auf der Homepage der beiden Psycholog(inn)en begegnet. Dort finden sich auch Videos mit weiteren hilfreichen Informationen (www.mit-kindern-lernen.ch). Kinder mit ADHS profitieren von Erwachsenen, die ihnen zeigen, wie man Aufgaben strukturiert, in kleine Portionen unterteilt und sich selbst positiv motiviert. Auch Lernen in Bewegung wird als ein Schlüssel zum Erfolg beschrieben. Anstatt die Kinder zum Stillsitzen anzuhalten, bringt es manchmal mehr, die Vokabel auf dem Hometrainer oder der Turnstange schwingend zu wiederholen. Wie viele Experten mutmaßen auch die beiden Schweizer Psycholog(inn)en, dass der gesteigerte Bewegungsdrang der Versuch ist, eine Unteraktivierung im Gehirn auszugleichen und sich selbst zu stimulieren. Zu guter Letzt wissen aber auch die Autor(inn)en, dass das stressige Lernen nie wichtiger als eine gute Beziehung sein sollte: Wenn es also nicht mehr geht, dann lieber eine externe Lernhilfe suchen. Und sie räumen ein: „Selbstverständlich ist es für ADHS-betroffene Kinder wichtig, während der Schulzeit möglichst viel zu lernen. Für ihren Lebensweg ist es jedoch wichtiger, dass sie diese Zeit als Mensch, als Persönlichkeit unbeschadet überstehen.“ Erfolgreich lernen mit ADHS und ADS Der praktische Ratgeber für Eltern Von Stefanie Rietzler u. Fabian Grolimund Hogrefe Verlag 2023 304 S., geb., € 28,50 Ein atemberaubender Berggipfel, ein endloser Sandstrand oder ein märchenhafter Wald: Dass es Orte mit bezaubernder Wirkung gibt, ist eine Kraftquelle in unserem Leben – und eine uralte Menschheitserfahrung. Schon früh mussten unsere Urahnen bemerkt haben, dass man in spezielle Räume vollends eintauchen, ganz in ihnen aufgehen kann. Manchmal sogar so weit, dass man die Zeit vergisst und mit seiner Umgebung zu verschmelzen meint. Für diese Erfahrung gibt es ein neues Zauberwort, das heute vor allem bei Künstlern, Forschern und Computerfreaks hoch im Kurs steht: Immersion. „ Immersion ist das neue Zauberwort, vom Computerdesign bis zur Gartengestaltung. Der Kontext entscheidet, ob daraus etwas Gedeihliches erwächst. “ Wer etwa Computerspiele designt, will vor allem eines: dass sich die Spieler(innen) darin verlieren, ähnlich wie ein Kind, das komplett in seiner Fantasie aufgeht und die Wirklichkeit um sich vergisst. Für Facebook-Gründer Mark Zuckerberg ist die größtmögliche Immersion ein Schlüsselfaktor für den Erfolg des Metaverse, seiner Vision eines „begehbaren Internets“, in dem die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt verschwimmen sollen. Aber auch in der Kunstszene ist seit gut zehn Jahren ein Siegeszug der Immersion zu beobachten. Das Publikum soll in die Kunstwerke und Ausstellungen regelrecht hi nein gezogen werden. In der Wiener Marx-Halle ist derzeit eine Frida-Kahlo-Schau mit „immersiver Inszenierung“ zu bestaunen. Die Bilder der mexikanischen Künstlerin werden in riesiger Dimension auf den Boden und an die Wände projiziert. Zusammen mit eingesprochenen Kahlo- Zitaten und eigenem Soundtrack soll so ein sinnlich vielschichtiges „Gesamterlebnis“ hervorgerufen werden. Raum für Ekstase Doch auch dieses Ansinnen ist nicht neu: Bereits in der antiken Tragödie sollte das Publikum tief ins Theaterstück eintauchen, um die erwünschte psychohygienische Wirkung – „die Läuterung der Affekte“ – zu ermöglichen. Drastisch auf die Spitze getrieben wurde dieses Ansinnen im Gesamtkunstwerk von Hermann Nitsch, der am 29. August 85 Jahre alt geworden wäre und an dessen „Orgien Mysterien Theater“ derzeit mit einer Reihe von Veranstaltungen erinnert wird. Der Wiener Aktionskünstler wollte seine „Spielteilnehmer(innen)“ über alle Sinne ansprechen und legte großen Wert darauf, dass diese für ein paar Stunden oder Tage völlig aus dem Alltag heraustreten. Die Wurzeln der Immersion finden sich wohl im Bereich des Religiösen: Man denke an die christliche Taufe oder das traditionelle Bad der Hindus im Ganges, wo es darum geht, ganz einzutauchen. Die Autoren Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter sehen in der Immersion „die räumlich-atmosphärische Dimension der Ekstase“: Sie hilft dabei, das eigene Selbst vorübergehend hinter sich zu lassen und in einem größeren Ganzen aufzugehen. Der Kontext entscheidet, ob daraus etwas Gedeihliches erwachsen kann.

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