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DIE FURCHE 30.11.2023

DIE FURCHE · 486

DIE FURCHE · 486 International30. November 2023Sanktionund HilfeNach acht JahrenKrieg undwirtschaftlichenKrisen lebenzwei Drittel derBevölkerung imJemen in bittererArmut – ohne Zugangzum Allernotwendigsten.Als Folge ist manauf internationaleLebensmittellieferungenangewiesen– wie hier inder jemenitischenHauptstadt Sanaa.Foto: Getty Images / Mohammed HamoudVon Jan OpielkaEs ist schwierig, all die Detailsder „Sanktionspakete“zu durchschauen,die die Europäische Uniongegen Russland verhängthat. Doch obwohl Moskaudurch die Maßnahmen geschwächtwurde, ist es ihm als mächtigemLand gelungen, sich anzupassen,seinen Handel neu auszurichten,ein eigenes Banküberweisungssystemeinzuführen. Ganz anderssieht es bei zerstörten und ärmerenLändern aus, gegen die dieUSA, die EU oder die UN Sanktionenverhängt haben. Im Jahr 2023geht die Zahl der Länder, gegen diemehr oder weniger umfangreicheWirtschafts-, Finanz-, Reise- undRüstungssanktionen greifen, indie Dutzende: Syrien, Venezuela,Myanmar, Afgha nis tan, Jemen,die Demokratische Republik Kongo,Niger oder Libyen.Regime versus BevölkerungDie Pro-Sanktion-Argumentationist fast immer dieselbe: Verhängtwürden sie gegen diktatorischeund brutale Regime sowiewegen Menschenrechtsverletzungen.Bei den meisten sanktioniertenLändern handelt es sichzugleich um Entwicklungs- oderSchwellenländer, die in den letztenJahren von internen Konfliktenund Kriegen (auch Stellvertreterkriegenwie im Jemen) oderLesen Sie dazuauch WilfriedStadlersKolumne „Ukraine-Krieg:ZurTreffsicherheitvon Sanktionen“(21.4.2022) auffurche.at.Wenn heute von Wirtschaftssanktionen die Rede ist, denkt man vor allem an Russland. Doch die USAund die EU sanktionieren dutzende weitere Länder – und verursachen damit auch Armut und Flucht.Werden dieFalschen bestraft?te müssten sie um Essen betteln.„Zweifellos haben die Sanktionenzum Leiden der Afghanen beigetragen.Anstatt größeren Schadenzu verhindern, ermutigen Sanktionenoft repressive Regierungenund geben ihnen die Erlaubnis,noch mehr Regeln zu brechen undTerrorakte zu unterstützen.“ Dochdie Vereinigten Staaten denkenbisher an keinerlei Erleichterungen.Mehr noch: Washington hatauch afghanische Zentralbankgelder,die in den USA deponiert wurden,blockiert. Es geht um rund siebenMilliarden Dollar, mehr alsein Drittel des anno 2020 auf 20Milliarden geschätzten BIP Afghanistans.Die Hälfte dieser gesperrtenDevisen will die US-Regierungzur Entschädigung der Opferder Anschläge vom 11. September2001 verwenden. Dieses de facto illegaleVorhaben wurde von internationalenExperten kritisiert.Derweil schätzt das UN-FlüchtlingshilfswerkUNHCR, dass bisEnde 2022 rund 5,7 Millionenafgha ni sche Flüchtlinge weltweitZuflucht gesucht haben, es ist diederzeit drittgrößte FlüchtlingsremVerhalten geändert“, sagtConrad Schetter, Experte am InternationalenZentrum für Konfliktforschung(BICC) in Bonn, imFURCHE-Gespräch. „Menschen,die für lange Zeit in einer Notlageohne Hoffnung und Perspektiveverharren, marschieren irgendwannin Richtung Europa.“In Afghanistan etwa hat sichseit dem Rückzug der alliiertenTruppen im Sommer 2021 die Situationmassiv verschlechtert.Vor allem, weil die USA sofortStrafmaßnahmen gegen die neuenalten Machthaber verhängten.Die Sanktionen, die vor allem dasBanksystem treffen, machen dieafghanische Wirtschaft funktionsunfähig,behindern Geldüberweisungenund verteuern dieLebensmittelimporte drastisch.Gleichzeitig vergisst die Welt dasLand. Im Oktober dieses Jahresschlugen Vertreter des Welternährungsprogramms(WFP), derUN-Agentur zur Bekämpfungdes Hungers in der Welt, Alarm:Die Mittel für den Kampf gegenden Hunger in Afghanistan wurdenim Jahr 2023 im Vergleich zu2022 um 80 Prozent gekürzt – von1,6 Milliarden auf rund 340 MillionenUS-Dollar. „15 MillionenAfghanen hungern derzeit. Infolgeder fehlenden Finanzierungwaren wir gezwungen, die Hilfefür zehn Millionen Menschenim Land zu kürzen“, sagte JohnAylieff, Regionaldirektor des WFP.Die aus Afghanistan stammendeund in den USA lebendeRechtsanwältin Wazhma Sadat beschreibtim US-Magazin ForeignPolicy Berichte ihrer Verwandten.Viele von ihnen hätten noch bis vorKurzem Arbeit gehabt oder kleineUnternehmen geführt. Heu-„ Menschen, die lange in einer Notlage ohnePerspektive verharren, marschieren irgendwannRichtung Europa. Konfliktforscher Conrad Schetter“Naturkatastrophen erschüttertwurden. Millionen Menschen fliehenaus diesen Ländern – auchals Folge der Sanktionen, die vorallem sie treffen und nicht diejenigen,denen sie eigentlich schadensollen. „Weder die Taliban inAfgha nis tan noch das Regime vonBaschar al-Assad in Syrien habensich durch die Sanktionen in ih-gruppe der Welt – nach Menschenaus Syrien und der Ukraine. Etwa90 Prozent der afghanischenFlüchtlinge halten sich in den beidenNachbarländern Iran (etwa3,4 Millionen) und Pakistan (etwa1,7 Millionen) auf. Diese Menschenhaben überlebt – im Gegensatzzu mehreren Hundert ihrerLandsleute sowie Pakistanis, dieam 14. Juni dieses Jahres im Mittelmeernahe der griechischenHalbinsel Peloponnes ertrunkensind, als das Fischerboot, mit demsie nach Italien wollten, sank.Die Folgen des „Caesar Act“Im Mittelmeer sterben seit Jahrenauch Menschen aus Syrien –darunter solche, die vor den hartenAuswirkungen der Sanktionenfliehen. Gegen das Regime von Bascharal-Assad hatten die USA unddie EU bereits zu Beginn des Bürgerkriegs2011 Strafmaßnahmeneingeführt – die von der Trump-Regierung 2020 im Rahmen des„Caesar Act“ deutlich ausgeweitetwurden. Alena Douhan, eine unabhängigeUN-Menschenrechtsexpertin,besuchte im Oktober

DIE FURCHE · 4830. November 2023International72022 das Land und veröffentlichteim Sommer 2023 einen Bericht.Sie schreibt: „Die Blockierung vonBankzahlungen und die Verweigerungvon Lieferungen durch ausländischeProduzenten [...] habenzu schweren Engpässen bei Medikamentenund spezialisierter medizinischerAusrüstung geführt.“90 Prozent der Syrer leben unterhalbder Armutsgrenze und habennur begrenzt Zugang zu Nahrung,Wasser, Strom und Medikamenten.Ibrahim Mohamad stammt ursprünglichaus Syrien. Er lebt seit1998 in Berlin und ist promovierterÖkonom. Seine Mutter und seineGeschwister leben noch in Syrien,wo Mohamad sie regelmäßigbesucht – und ihnen hilft. „DieSanktionen des Westens, vor allemdes Caesar-Gesetzes, habensich katastrophal auf die Bevölkerungausgewirkt, Industrie undLandwirtschaft sind zerstört, dieWirtschaft ist im Vergleich zu 2011um 70 Prozent geschrumpft“, sagter im Gespräch. Ein befreundeterGeschäftsmann etwa könne keineVorprodukte mehr aus Deutschlandfür die Produktion von Hygieneartikelnimportieren, weil erkein Geld ins Ausland überweisenkönne. Die syrische Lira verliertseit 2020 dramatisch an Wert, nurder Schmuggel und der Schwarzmarktflorieren. „Ich verstehe„ Die westlichen Länder können die Folgen ihrerPolitik durch Ad-hoc-Nahrungsmittelhilfe verschleiern –und die Taliban können sich rächen.Abdulkader Sinno, Politologe “nicht, warum die EU die Sanktionenaufrechterhält. Jetzt fliehendie verbliebenen Menschen, diefrüher zur Mittelschicht gehörten.Sie verkaufen, was sie haben, umdie Schmuggler zu bezahlen.“Keine positiven VeränderungenBis zu dem katastrophalen Erdbebenin Syrien und der Türkeiim Februar dieses Jahres wurdendie Sanktionen aufrechterhalten –und die Aufhebung diente seitherlediglich dazu, die humanitäreHilfe zu erleichtern. Daher schlugPaulo Pinheiro, Vorsitzender derUnabhängigen InternationalenUntersuchungskommission derUN für die Arabische Repu blikSyrien, in der UN-Generalversammlungim Oktober dieses JahresAlarm: „In den letzten zehnJahren gibt es keinen Beweis dafür,dass sektorale einseitigeZwangsmaßnahmen zu positivenVeränderungen im Verhalten derRegierung geführt haben. Es sinddie einfachen Menschen, die dieHauptlast zu tragen haben. Syrienist nach wie vor Schauplatzder größten Flüchtlingskrise derWelt, mit mehr als sieben MillionenSyrern, die aus dem Land geflohensind.“Verkennt der Westen die zerstörerischenAuswirkungen vonSanktionen – sowie auch, dasses oft nicht um Demokratie oderMenschenrechte geht, sondernum die Bestrafung von Regierungen,die nicht mit dem Westenverbündet sind? Abdulkader Sinno,Professor für Politikwissenschaftund Nahoststudien an derIndiana University in Bloomington,USA, fasst die möglichen Folgeneiner solchen Sanktionspolitikauf der Plattform East AsiaForum am Beispiel Afgha nistansso zusammen: „Die westlichenLänder können die Auswirkungenihrer Politik weiterhindurch Ad-hoc-Nahrungsmittelhilfeverschleiern, und die Talibankönnen sich weiterhin ander westlichen Feindseligkeiträchen, indem sie gegen Frauenund Anhänger einst mit denUSA verbündeter Gruppen vorgehen.In diesem Prozess könnendie Taliban ihrem seltenen Verbündetenal-Qaida größere Autonomiegewähren.“ Das letzte Mal,schreibt Sinno, wurden ähnlicheSanktionen gegen die Taliban1999 verhängt, die zu einer engerenZusammenarbeit mit al-Qaidaführten, zu den Anschlägenvom 11. September 2001 und zu„einem globalen, von den USA geführten‚Krieg gegen den Terror‘,der noch immer nicht zu Endeist“. Ist es das, worum es bei denSanktionen geht?KLARTEXTRuinen hinter ScheinfassadenDer Kontrast könnte kaum größer sein: hier die imvergangenen Jahr verstrengerten, geradezu bitzligenVorschriften für Wohnbaudarlehen, dadas intransparente Firmengeflecht eines von jeglicherKontrolle verschonten Immobilienkonzerns. Dazu dasAufsichts versagen renommierter Investoren, Bei- undAuf sichts räte, die beflissen wegschauten, als die Gestaltungsspielräumeordnungsgemäßer Bilanzierung in derBenko-Gruppe schon ausgereizt waren.Nun stehen sie ernüchtert vor Finanzruinen hinter prestigereichen Scheinfassaden.Die Dimension des Schadensfalls verschärft die Vertrauenskrise imohnehin angeschlagenen Immobilienmarkt und kann durchaus zum Auslösereines mittleren Finanzbebens werden.Es rächt sich nun, dass nach der Finanzkrise 2008 verabsäumt wurde, die anTageswerten orientierten Bilanzierungsregeln von Immobilien grundlegend zuverändern. Diese führen nämlich im Rausch von Niedrigzinsphasen zu völligüberhöhten Wertansätzen in den Bilanzen und ermöglichen Ausschüttungennicht realisierter Scheingewinne. Sobald der Wind dreht und die Werte wegendes höheren Zinsniveaus einbrechen, droht dann allzu rasch Überschuldung. Inden nachfolgenden Insolvenzverfahren gibt es jedoch keinen Zugriff mehr aufdie während des „Hypes“ entnommenen Gelder.Eine grundlegende Reform der Bilanzierungs- und Aufsichtsregeln wäre deshalbüberfällig. Doch statt sachgerechter Arbeit, wie sie zuletzt bei der Einigungüber den Finanzausgleich geglückt war, verheddern sich die Parlamentsfraktionenzur Unzeit gerade wieder in parteipolitischen Scharmützel und produzierenjene (Untersuchungs-)Ausschussware, die das Vertrauen in „die da oben“ weiterschwächt. Wer davon wohl am meisten profitiert?Der Autor ist Ökonom und Publizist.Von Wilfried StadlerSINNVOLLESSCHENKENBereiten Sie mit einem FURCHE-GeschenkaboIhren Liebsten Freude!Sie schenken damit Zeit für neue Perspektiven,für Zugänge, die zum Weiterdenken anregen.›› Immer und überall digital und entspannt auf Papier›› Alle Artikel seit 1945 im FURCHE-NavigatorHEUTE BESTELLEN,ZU WEIHNACHTENSCHENKEN!furche.at/abo/schenkenaboservice@furche.at01 512 52 61 52

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