DIE FURCHE · 4822 Wissen30. November 2023AlleingelassenGewalt und Verratkönnen auch aufinstitutionellerEbene auftreten –und für Opfereine zusätzlicheBelastung darstellen.PsychologinJennifer Freydhat deshalb ein„Zentrum für institutionellenMut“gegründet (Bildder deutschenKünstlerin KarinBirner).„Wäre ich geblieben,ich wäre tot“(23.11.2023):Victoria Schwendenweinüberden Kampfgegen psychischeGewalt, auffurche.at.Das Gespräch führte Dagmar WeidingerZwischen 25. November und10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte,finden seit 1991die „16 Tage gegen Gewalt anFrauen“ statt (siehe auch denletztwöchigen FURCHE-Artikel zur Istanbul-Konvention). Im Rahmen der internationalenKampagne gibt es auch in Österreichzahlreiche Veranstaltungen. DasThema „institutionelle Gewalt“ steht heutebesonders im Fokus der beteiligten FrauenundGewaltschutzvereine. Die Pionierindieses Forschungsfelds ist Jennifer Freyd,Psychologieprofessorin an der UniversitätOregon in den USA, die 2010 das „Center forInstitutional Courage“ gegründet hat.Freyd wurde auch durch ihre eigeneGeschichte bekannt. Anfang der 1990erJahre – rund ein Vierteljahrhundert vor#MeToo – landete ihre persönliche Missbrauchserfahrunggegen ihren Willen inden Medien. Als Reaktion auf die Aussagenseiner Tochter gründete der Beschuldigte,ihr Vater Peter Freyd, die „False Mem o rySyndrom Foundation“, die bis 2019 bestand.Es handelte sich um eine Beratungsstellefür Menschen, denen Missbrauch vorgeworfenwird. Das umstrittene Konzept der„Scheinerinnerungen“ steht dabei im Mittelpunkt.Die FURCHE erwischte JenniferFreyd an der US-Westküste zum großenZoom-Interview.Jahrzehnte vor #MeToo stand Jennifer Freyd alsMissbrauchsopfer in der Öffentlichkeit. Heute ist siedie Pionierin in der Forschung zu institutioneller Gewalt.„Der Verratwird nichtgesehen“DIE FURCHE: Frau Professor Freyd, #MeToohat den Umgang mit sexuellen Übergriffen inder Gesellschaft wesentlich verändert. Wiewar die Situation für Sie, als der familiäreMissbrauch an Ihnen 1993 pu blik wurde?Jennifer Freyd: Dass meine Geschichte andie Öffentlichkeit kam, war nichts, das ichmir ausgesucht habe. Ich bewundere Menschen,die sich mit ihrer Erfahrung zeigen.Ich persönlich wäre viel zu schüchterndafür. Was ich damals als besondersschlimm erlebte, war, dass mir viele Menschennicht glaubten: Ich arbeitete schonan der Universität, parallel wurde ich abermedial wieder zu „Jennifer, der Tochter“.Ich bin sicher, würde meine Geschichteheute – nach #MeToo – pu blik gemacht, wäredie Rezeption eine ganz andere!Foto: Karin BirnerDIE FURCHE: In deutschsprachigen Medienist seit einiger Zeit eine heftige Diskussionüber den Wahrheitsgehalt von traumatischenErinnerungen entbrannt. Daserinnert frappant an die amerikanischen„Memory Wars“, die durch die Gründungder „False Memory Syndrom Foundation“ausgelöst wurden. Wie steht es derzeit umdiese Auseinandersetzung in den USA?Freyd: Natürlich gibt es immer noch Menschen,die das Argument der „Scheinerinnerungen“pushen, besonders als Verteidigungsstrategiein Gerichtsverfahren. MeinEindruck ist jedoch, dass es nicht mehrwirkt. Das Wissen, dass traumatische Erinnerungennicht stringent sein müssen undteilweise kommen und gehen, ist mittlerweileweitverbreitet. Zumindest in der Wissenschaftgibt es diesbezüglich schon langekeine Zweifel mehr. Auch die Strategieder Täter-Opfer-Umkehr ist heute in denUSA medial bekannt. Opfer, denen ihre Erinnerungennicht geglaubt werden, wissenmittlerweile, dass es sich um eine gezielteStrategie handeln kann. Ich habe dieseTaktik mit einem Konzept beschrieben,das sich mit den fünf Buchstaben DARVOabkürzen lässt: verleugnen, angreifen undOpfer und Täter umkehren („Deny, Attack,and Reverse Victim and Offender“). Michwundert eigentlich, dass die Debatte zuScheinerinnerungen jetzt noch in Europageführt wird.DIE FURCHE: In letzter Zeit rückt institutionelleGewalt zunehmend in das Licht derÖffentlichkeit. Sie befassen sich in IhrerForschung mit einem ähnlichen Begriff,dem institutionellem Verrat („institutionalbetrayal“). Was ist darunter zu verstehen?Freyd: Institutioneller Verrat tritt auf, wenndie Institution, der Sie vertrauen oder vonder Sie abhängig sind, Sie schlecht behandelt.Das kann ganz offensichtlich passieren,etwa wenn eine Regierung Kinder ander Grenze dazu zwingt, von ihren Elterngetrennt zu werden. Es kann aber auch wenigeroffensichtlich sein. Im Prinzip betrifftes jedes Versäumnis, Sie in einer Situationzu schützen, in der Sie ganz selbstverständlichund zu Recht davon ausgehen, Schutzzu erhalten. Dies ist etwa der Fall, wenn einMitarbeiter angibt, sexuell belästigt zu werden– danach aber weiter Opfer bleibt. DerArbeitgeber hätte die Pflicht, entsprechendeMaßnahmen zu ergreifen; sonst ist das institutionellerVerrat. Als ich vor vielen Jahrenbegann, in diese Richtung zu forschen,interessierten mich zunächst Genozide,zum Beispiel gegenüber den Native Americans:Ich finde, dass wir hier ähnliche Mechanismensehen wie bei institutionellemVerrat – nur eben in viel größerem Maßstabund gegen eine ganze Gruppe gerichtet.DIE FURCHE: Wo sehen Sie den Unterschiedzwischen institutioneller Gewalt und institutionellemVerrat?Freyd: Menschen verstehen unterschiedlicheDinge unter Gewalt, von Schlägen,Schubsen etc. bis zu psychischer Gewaltwie Beleidigungen, Erniedrigungen etc. Ichhabe mich zu Beginn meiner Forschungstätigkeitmit sexuellem Missbrauch innerhalbder Familie befasst und hier das Konzeptdes „Verratstraumas“ entwickelt. Inbeiden Fällen – in der Familie wie in der Institution– geht es im Grunde um dasselbe:den Kontrast zwischen der Schutzpflichtund dem tatsächlichen Verhalten. Ein wichtigerAspekt in diesem Zusammenhang istauch die „Verratsblindheit“: Der Verrat wirdnicht gesehen, um die Beziehung zum Täterzu schützen.
DIE FURCHE · 4830. November 2023Wissen23Jennifer Freyd (66) ist Psychologieprofes sorinan der University of Oregon. Sie forscht zuMissbrauch, Trauma und Gedächtnis.DIE FURCHE: Wie sind Sie auf das Themades institutionellen Verrats gestoßen?Freyd: Meine Doktoranden und ichführten in den 2000er Jahren mehrereStudien zu sexuellen Übergriffen unterStudierenden durch. Die Übergriffepassierten zum Beispiel während gemeinsamerSportaktivitäten oder in derMusicalgruppe. Für die Befragung entwickeltenwir das „Institutional BetrayalQuestionnaire“ (IBQ). Ich war komplettüberrascht: Es zeigte sich, dassunter den Betroffenen rund 40 Prozentauch Erfahrungen mit institutionellemVerrat gemacht hatten. Außerdem wardie allgemeine Gesundheit jener Personen,die zusätzlich zum Missbrauch institutionellenVerrat erlebt hatten, umvieles schlechter als jene derer, die Unterstützungerhielten. Häufige Symptomewaren Kopfschmerzen, Schlafstörungenund Kurzatmigkeit. In einerFolgestudie beim Militär eines anderenForschers sagten Betroffene, dassder institutionelle Verrat für sie sogarschlimmer gewesen sei als die Vergewaltigungselbst.„ Institutioneller Mut erfordert echteUmstellungen. Bisher habe ich noch keineEinrichtung gesehen, die das überzumindest zehn Jahre durchhält. “Foto: PrivatDIE FURCHE: Sie erwähnten den für IhreForschung entwickelten Fragebogen„Institutional Betrayal Questionnaire“:Ist das ein Werkzeug, das sich ganz konkretin der Praxis von Firmen, Universitäten,der Polizei oder in der Justiz anwendenlässt?Freyd: Das IBQ ist zwar prinzipiell einForschungsinstrument, kann aber auchin der Praxis als Leitfaden verwendetwerden. Es handelt sich dabei um eineArt Checkliste mit zehn Punkten, diemomentan noch auf sexuelle Übergriffezugeschnitten sind. InstitutionellerVerrat kann sich aber auch auf andereBereiche beziehen, an die man zuerstnicht denken würde, z. B. die Unterbezahlungvon Frauen – StichwortGender-Pay-Gap. Das IBQ misst, ob eineInstitution es schafft, Präventionsmaßnahmenzu setzen, um sexuelleÜbergriffe zu vermeiden. Ebenso lässtsich damit erfassen, wie rasch und hilfreichdie Einrichtung auf solche Vorfällereagiert. Im Prinzip hat also jederArbeitgeber die Möglichkeit, sich unkompliziertmit dem Thema auseinanderzusetzen.In der Praxis sehen wir leider,dass dies oft nur jene Menschen ineiner Einrichtung tun, die nicht an denSchalthebeln sitzen, sprich die Angestellten.Für eine Veränderung müsstenjedoch die Obersten die Verantwortungübernehmen und ihre Institution in dieseRichtung hin überprüfen.DIE FURCHE: Gibt es das Vorzeigebeispieleines Arbeitgebers, wo dies geglückt ist?Freyd: Ich bin vorsichtig, Namen zu nennen,denn der Kampf gegen institutionellenVerrat ist ein konstanter Prozess.Wenn Sie Ihre Gesundheit verbessernwollen, reicht es auch nicht, für zwei Monategesünder zu essen. InstitutionellerMut erfordert echte Umstellungen: Esgilt, Strukturen aufzubauen und die Entwicklungregelmäßig zu überwachen.Bisher habe ich noch keine Einrichtunggesehen, die das über zumindest zehnJahre durchhält. Ein Ziel des von mirgegründeten „Center for InstitutionalCour age“ ist es daher, die Aufmerksamkeitimmer wieder medial auf das Themazu lenken und Bildungsarbeit zu leisten.DIE FURCHE: Viele Menschen haben denEindruck, dass die Dynamik von #MeToo nachlässt und wir gesellschaftlicheinen „backlash“ erleben. Wie beurteilenSie die Situation in den USA?Freyd: Die Dynamik hält an. Es gibtnach wie vor viele Menschen, die übersexuelle Übergriffe berichten. Was mirjedoch auffällt: Es ist offenbar leichter,Verständnis zu bekommen für sexuelleÜbergriffe, die im Erwachsenenalter –vor allem im Arbeitskontext – passieren,als für Missbrauch im Kindesalter.Früh traumatisierte Menschen habenes offensichtlich weiterhin schwer, Gehörzu finden.„ Missbrauch an Kindernist der Grund für die größtenProbleme. Denn einigeder Missbrauchten kommenin hohe Positionen undnutzen ihre Macht aufschädigende Weise. “DIE FURCHE: Warum finden Kindheitserinnerungenhier weniger Gehör?Freyd: In der Gesellschaft gibt es nachwie vor einen großen Verdrängungsreflex,was dieses Thema betrifft. Dochwir haben mittlerweile Studien, die belegen,dass ein Drittel aller Mädchensexuelle Übergriffe der einen oder anderenArt erlebt. Viele Menschen wollensexuellen Missbrauch an Kindernnicht sehen. Und niemand möchte glauben,dass jemand, den man gut kennt –ein Familienmitglied, ein Arbeitskollege–, so etwas getan hat. Die meistenüberfordert das. Die Frage „Wie soll ichweiter mit diesem Kollegen umgehen?“ist schwer zu lösen. Ist es da nicht vielleichter, das Ganze einfach wegzuschieben?Dabei ist sexueller und andererMissbrauch an Kindern der Grundfür die größten Probleme in der Welt:Denn einige der Missbrauchten kommenspäter in hohe Positionen und nutzenihre Macht auf schädigende Weise.Wenn wir das Missbrauchsproblemin der Familie lösen könnten, würdenwir in einer besseren Welt leben! Ichbin dennoch optimistisch: Menschenhaben nicht nur eine Neigung, zu verleugnen;es gibt auch eine große Sehnsuchtnach Fairness.Illustration: Rainer MesserklingerNikolettAm ersten Schultag saß ich in der ersten Reihe und kritzelte blaue Bäume und rosa Häuser,während die anderen Kinder wie wild herumtobten. „Morgen bekommt ihr eine neue Schülerin“,verkündete die Lehrerin. Am nächsten Tag schritt Nikolett, ein großes, schlaksigesMädchen mit dunklem Haar und Topffrisur, schüchtern über die Schwelle. Sie setzte sich nebenmich. Ich gab ihr meine Buntstifte, mit denen sie gelbe Schwäne in meinen Block zeichnete. Indürftigem Deutsch erzählte sie mir, dass sie aus Ungarn kam. Ihre dunklen Augen schauten michrätselhaft an – wie der Dürer-Hase auf dem Zeichenblock. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wennwir in Zweierreihe in den Turnsaal hopsten, drückte sie zärtlich meine Finger. Sie war die Klassenriesin,die alle respektvoll scheuten, ich der kleine Zwerg, der von ihrer kühlen Aura profitierte.Sie, die Balletttänzerin, trippelte auf Zehenspitzen, ich, der aufgedrehte Fernsehblödel, trampeltenebenher. Zu Hause zeigte mir Nikolett ihr Stickeralbum und spielte auf ihrer Geige. MeineOhren lauschten den schiefen Tönen. Meine Augen suchten vergeblich nach einem Bildschirm. Amletzten Tag des ersten Schuljahrs fasste mich Nikolett am Arm: „Ich komme nächstes Jahr nichtwieder.“ Wochen danach schickte sie mir Postkarten voller Schönschreibschrift. Sie lebte nun inMürzzuschlag, wo ihr Vater arbeitete. Ob es dort blaue Bäume gibt, fragte ich sie. Doch Nikolett hörteauf, mir zu schreiben. Leider kann ich mich heute nicht mehr an den Nachnamen meiner ungarischenRitterin erinnern. Ein Hasenhakenschlag trennt unsere Leben. Ob Du jetzt in einem rosaHaus wohnst, mein gelber Schwan? Bitte, bitte schreib mir, falls Du das liest!Die hoffnungsvolleWeihnachtsbotschaft»In Zeiten wie diesen mag esscheinen, als ob alles, was wir mitAdvent und Weihnachten verbinden –Frieden, Freude, Zärtlichkeit undGeborgenheit –, wie eine Schneeflockein der warmen Hand zerschmilzt.Die Botschaft der Feiertageist reicher, als es uns auf den erstenBlick erscheinen mag, und sie hatjedem Zeitalter etwas zu sagen, auchunserem eigenen.« TOMÁŠ HALÍKTomáš Halík ergründet das»alles übersteigende Geheimnis«von Weihnachten und wie es sichauch heute noch entdecken lässt.Ein erbauliches Buch für diebesinnliche Zeit des Jahres.€ 20,60ISBN 978-3-451-39561-1Von Manuela TomicFURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen.In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet.GeschenktippMOZAIK
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