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DIE FURCHE 30.11.2023

DIE FURCHE · 4820

DIE FURCHE · 4820 Film30. November 2023KURZKRITIKENDisneysWunschmaschineEs ist bezeichnend, dass Disney sein100-jähriges Bestehen ausgerechnetmit einem Animationsfilm feiert, derdas Erfüllen von Wünschen zum Thema hat.„Wish“ stammt von den Machern der „Frozen“-Filmeund stellt einmal mehr Projektionsflächenfür kindliche Fantasien in magischenWunderwelten bereit. Ariana de Bosespricht und singt die gefühlt hundertste Variationeiner Prinzessinnenfigur, die denMenschen im fiktiven Inselkönigreich Rosasihre Wünsche zurückgeben will. Diesewurden ihnen vom Herrscher Magnifico abgeluchst,ohne dass er jemals die Absicht hatte,diese zu erfüllen. Das bietet zumindestAnsätze einer interessanten politischen Allegorie,auch wenn catchige Popsongs undsprechende Tiere naturgemäß im Vordergrundstehen. Trotz der vielen Anspielungenan vergangene Klassiker von Peter Panbis Bambi, die auf Teufel komm raus die Disney-Magievergangener Tage beschwörensollen, wirkt „Wish“ seltsam steril. Der Filmhat dann doch mehr mit einer Maschineauf Autopilot gemein. (Philip Waldner)WishUSA 2023. Regie: Chris Buck, FawnVeerasunthorn. Disney. 95 Min.„Anwesend-Sein“ statt„Gegenwärtig-Sein“be there“ ist eine der Anweisungen,die Choreograf Patrick De Banadem ehemaligen Direktor des „JustWiener Staatsballetts, Manuel Legris, unddessen Tanzpartnerin Nina Poláková india logischer Arbeit gibt, während er mitihnen in den schlecht beleuchteten Proberäumender Oper an der nächsten Aufführungfeilt. Ein großer Sprung nach Taiwan,ins moderne Tanzstudio des Cloud-Gate-Dance-Theaters, hinter dessen Glasfrontensich Palmen sanft im Wind biegen, ähnlichden Tänzerinnen und Tänzern unterder Leitung von Choreograf Cheng Tsunglung,der klassisches Ballett mit zeitgenössischemTanz kombiniert. Neun Monatelang war Caspar Pfaundler für seinen neuenFilm „Just be there“ auch „nur“ da – bzw.dort. Die Idee, durch die Kamera das „Gegenwärtig-Sein“der beobachteten Körperals Erfahrung für die Zuschauenden zuübertragen, ist gut, doch geht sie nicht vollendsauf und resultiert eher in 90 Minuten„Anwesend-Sein“. Ohne jegliche (inszenatorische)Dramaturgie ist auch das nicht uninteressant,aber eben nicht alles, was Kinokann bzw. könnte. (Alexandra Zawia)Just be thereA 2022. Regie: Caspar Pfaundler. 93 Min.Das Kind,das trägtDie zehnjährigeNaíma Sentíesspielt berührenddie kleine Sol, diemit dem nahen Todihres Vaters Tonazu Rande kommenmuss: ein Kind alsProtagonist einerFamilie, in der keinStein auf demanderen bleibt.Von Otto FriedrichDas Leben, vor allem in eigentlichdüsteren sozialen Verhältnissen,entpuppt sich mitunterals Groteske. Oder ist nurin dieser Form aushalt- bzw. erzählbar.Im Kino können Geschichten, diemit Übersteigerung arbeiten, mitunter einfacherund lebensnaher dargestellt werdenals in anderen Stilformaten. Man erinnertsich an Bong Joon-hos südkoreanische „Zuebener Erde und erster Stock“-Parabel „Parasite“,die es 2020 sogar zum Gewinn desHaupt-Oscars brachte. Oder auch an AlejandroGonzáles Iñárritus Erstling „AmoresPerros“ 2000, in dem er in groteskerÜbertreibung von der Gewalt in MexikosHauptstadt filmisch erzählt.Dass nun Gonzáles Iñárritus LandsfrauLila Avilés mit „Tótem“ ein neues Meisterwerkdes beschrieben Genres vorlegt, zeigt,wie wichtig solche Art Kino in Zeiten wiediesen ist. Und wie solch ein Kosmos durchdas Chaos, in das sich eine Familie kurzvor dem (Nerven-)Zusammenbruch manövrierthat, zu beschreiben ist.Tona ist Künstler und an Krebs – im Endstadium– erkrankt. Da er Geburtstag hat,will ihm seine Familie eine Party ausrichten– mutmaßlich die letzte, die er erlebenwird. Doch die familiären und pekuniärenVerhältnisse sind alles andere als geordnet:Tonas Vater ist selbst vom Krebs ge-„ ‚Tótem‘ zeigt, wie ein sozialerKosmos durch das Chaos, in dassich eine Familie kurz vor dem(Nerven-)Zusammenbruch manövrierthat, zu beschreiben ist.“DOKUMENTARFILMZwischen den IdentitätenIn Chris Krikellis’ mit demGroßen Diagonale-Preis desLandes Steiermark ausgezeichnetenDokumentarfilm„Souls of a River“ liegen Schönheitund Schrecken nahe beieinander.Denn einerseits sinddie Cinemascope-Bilder derweitgehend verlassenen Landschaftam griechisch-türkischenGrenzfluss Evros vonbestechender Schönheit, andererseitsspürt der deutsch-griechischeFilmemacher hier nichtnur seiner eigenen Identitätnach, sondern auch dem Schicksalvon Flüchtlingen, die an dieserEU-Außengrenze ertranken.Feinfühlig verbindet Krikellisdabei Erinnerungen an seineeigene Familie, die diese Rückkehrin sein Heimatland auslösen,mit Begegnungen mit demGerichtsmediziner Pavols Pavlidis,der ertrunkene Flüchtlingeidentifizieren muss. Als dritteEbene kommt auch noch diezunehmende Entsiedelung, inder fast nur noch alte Menschenzurückgeblieben sind.Wie vom Gras überwachseneEisenbahnschienen und Zapfsäuleneiner Tankstelle von diesemVerschwinden der Menschenkünden, so lässt Kamerafrau JudithBenedikt mit ruhigen Landschaftstotalenund langsamenSchwenks über den Fluss unddie Felder nicht nur in den meditativenRhythmus dieses essayistischenDokumentarfilmseintauchen, sondern löst auch„Tótem“: Der mexikanischen Regisseurin Lila Avilés gelingtin ihrer filmischen Groteske eine subtile Annäherung ansoziale und familiäre Verhältnisse in ihrem Land.Das Chaosvor dem Todschlagen: Er hat keinen Kehlkopf mehr undmuss mittels eines elektronischen Stimmgerätsmit seinen Patienten kommunizieren– er ist Psychiater und genervt von denVorbereitungen für die Party, die von TonasSchwestern Nuri und Alejandra vorangetriebenwerden.Aus dem Blickwinkel einer SiebenjährigenDas Fest selbst ist gleichfalls an Chaoskaum zu überbieten: Zuerst kommt Tonanicht, weil er sich vor Schmerzen sichkaum mehr bewegen kann. Als seine FrauLucia von ihrer Arbeit im Theater zurückkommt,schaut sie mit Tochter Sol bei Tonavorbei, der dann doch zu seiner Party geht.Doch das Fest ist eine Ansammlung vonPannen – ein Heißluftballon gerät in Brand,eine Drohne stürzt ab, die Torte verkohltim Ofen und muss neu gebacken werden.Und als schließlich noch ein esoterisch angehauchterOnkel auftaucht, der Tona eine„spirituelle Quantentherapie“ einzuredenversucht, ist das Tohuwabohu perfekt. DassGedanken an die tragischenSchicksale aus.Krikellis lotet diese Themenaber nicht schwergewichtigaus, sondern ganz dem Flussentsprechend, der immer wiederins Bild gerückt wird, bleibtdie Erzählweise poetisch undfließend. Bruchlos fügen sichdie einzelnen Ebenen zu einemberührenden Ganzen. So verlangt„Souls of a River“ in seinerlangsamen Erzählweise vomZuschauer zwar Einfühlungsvermögenund Geduld, dochlässt man sich darauf ein, sowirkt diese einerseits sehr persönliche,andererseits gesellschaftlichaktuelle Spurensucheund Reflexion über Identitätlange nach. (Walter Gasperi)sich das Sterben Tonas unter solch skurrilenUmständen vollzieht, übertüncht dieTristesse zwar. Aber die Überlebenden entkommender Auseinandersetzung mit demTod dennoch nicht.Die dramaturgische Idee, die „Tótem“ zueinem großen Film macht, ist, dass dies allesaus dem Blickwinkel der siebenjährigenSol – grandios gespielt von Naíma Sentíes– erzählt wird. Die Kleine darf langeZeit nicht zu Vater Tona, damit er kräftiggenug wird, um an der Party teilzunehmen;sie muss nach und nach für sich erarbeiten,was Sache ist und dass sie ihren Vaterverlieren wird. Bei allem Chaos entstehtso ein berührend intimer Umgang mit demTod aus der Sicht eines Kindes: Schon alleindeswegen ist „Tótem“ ein Film, denman gesehen haben muss.TótemMEX/DK/F 2023. Regie: Lila Avilés. Mit NaímaSentíes, Montserrat Marañón, Marisol Gasé,Mateo García Elizondo. Polyfilm. 95 Min.Die Erzählweise in „Souls of a River“ ist langsam,poetisch und fließend.Souls of a RiverA/D/GR 2023. Regie: Chris KrikellisFilmdelights. 83 Min.

DIE FURCHE · 4830. November 2023Film & Medien21„Auf dem Weg – 1300 km zu mir“: Denis Imbert erzählt die Geschichte von Autor Pierre unddavon, wie dieser sich selbst findet. Epikureische Philosophie und Selbstversicherung zugleich.Bebilderte LebenskunstMEDIEN IN DER KRISEDer Literat alsdilettierenderEnergieexperteVon Heidi StrobelFILMKOMÖDIEDer Culture-Clash-Komödie „Womit haben wir das verdient?“um die überständige Achtundsechzigerin Wanda und ihrezum Islam konvertierende Tochter gelang es 2018, gesellschaftlichBrisantes in einer spritzigen Komödie zu verhandeln.Fünf Jahre – mit Corona-Leugnung bis Geschlechtsidentitätsdebatten– später folgt nun „Wie kommen wir da wieder raus?“, mit derWenn Schriftsteller eine Krisedurchmachten, begaben sie sichauf eine Reise. Goethe brach nachItalien auf, als er sich künstlerisch ausgebranntfühlte. Der Franzose Sylvain Tessonhingegen wählte das eigene Land zurKur. Sein Erlebnisbericht „Sur les cheminsnoirs“ diente als Grundlage für Denis Imbertsim Original gleichnamigen Film. Nacheinem Sturz aus acht Meter Höhe findet sichAutor Pierre (gespielt von Jean Dujardin) ineiner Klinik wieder. Während seiner Rekonvaleszenzbeschließt er, Frankreich von Südnach Nord zu durchwandern.Mit ansprechendem und ausgeglichenemTon erzählt „Auf dem Weg – 1300 km zu mir“von der Lebenskunst, ist bebilderte epikureischePhilosophie und Selbstversicherungeines Schriftstellers zugleich. So konzentriertsich der Film nicht nur auf Pierresbeschwerliche Tour. Reizvolle totale Einstellungenlassen die erhabene Größe der abwechslungsreichenLandschaft, aber auchLeere und Kleinheit des Menschen miterleben.Im Gedankenstrom des Autors gleitetman dahin, erfährt in assoziativen Flashbacksdie Vorgeschichte, wobei die von Imberthinzufabulierte glücklose Liebe zu einerschönen Geliebten vielleicht verzichtbargewesen wäre. Wenn Pierre die verschiedenenRegionen durchmisst, wird das Wahrgenommenezum Gleichnis. Denn in seinerkörperlichen Verfassung spiegelt sichdie Befindlichkeit des Landes wider, dessenüberhitzter Zustand zum Gegenstand eineskulturkritischen Diskurses wird. Mit inHochleistung produzierten bäuerlichen Güternsind keine Kredite mehr zu tilgen.Dagegen zerfällt die ländliche Lebensformabseits des Getöses, von der sich derAutor Heilung verspricht, mehr und mehr.Geschäfte stehen leer, Häuser zum Verkauf.Doch die Wanderung schenkt Hoffnung.Wer die „verborgenen Wege“, die „Zwischenräume“entdecken will, sollte sich aufden Weg ins Kino machen.Weihnachtsfarce im Patchworkhaus WandaAnna Laimanee, Felix Rank, Simon Schwarz und Caroline Peters (v. li.).Oscarpreisträger Jean Dujardin spielt Autor Pierre.Auf dem Weg – 1300 km zu mir(Sur les chemins noirs)F 2023. Regie: Denis Imbert. Mit JeanDujardin, Joséphine Japy. Filmladen. 93 Min.Spreitzhofer Wandas Patchwork-Sippschaft mit der (Un-)Möglichkeit,ein biederes Weihnachtsfest zu begehen, in die Kinos jagt.Wanda (köstlich wie eh: Caroline Peters) hat als atheistische Feministinnatürlich nichts mit dem christlichen Fest am Hut undmuss der Öko-Freakness der einen Tochter mittels veganer Gansund analoger Köstlichkeiten Rechnung tragen. Die andere Tochter,Nina (Chantal Zitzenbacher, im Vorgängerfilm die muslimische Rebellin),trägt an drei Tagen der Woche Tschador (und nennt sich dabeiFatima) – aus Solidarität mit den kopftuchtragenden Musliminnenim Land, die anderen vier Tage legt sie diesen aus Anteilnahmemit den Frauen im Iran ab – und fällt sonst vor allem durch nervigeAttitüden auf, eine passende Insta-Story zu kreieren.Screwball trifft modernes Beziehungschaos: FilmemacherinSpreitzhofer gelingt es, den gesellschaftlichen Wahnsinn, der einenhierzulande umtreibt und ratlos oder verrückt macht, in ein spielfilmlangesAugenzwinkern zu verwandeln – mitunter etwas zu vielan Pointen und Durcheinander, aber doch eine Austrokomödie, diebeim Publikum reüssieren kann. Dass dabei auch der Cast prominentist – Simon Schwarz, Hilde Dalik, Pia Hierzegger, Michael Ostrowski–, scheint ebenfalls wenig verwunderlich. (Otto Friedrich)Wie kommen wir da wieder raus?A 2023. Regie: Eva Spreitzhofer. Mit Caroline Peters, Simon Schwarz,Chantal Zitzenbacher, Anna Laimanee, Felix Rank. Lunafilm. 93 Min.Nun ist ihmschon wiederetwas passiert:Robert Menasses Wirkenals politischerEssayist hatte schonmanchen Skandal zuüberstehen. So gab es vor gut fünf Jahrenden nicht entkräfteten Vorwurf, er habe Zitatedes Europapolitikers Walter Hallsteinüber ein übernationales Europa erfundenoder zumindest missbräuchlich zitiert.Kürzlich betätigte sich der österreichischeLiterat und Waldviertelbewohner ineinem Aufmacheressay der WochenendbeilageSpectrum der Presse als wortgewandterKritiker des Windenergieausbaus.Die Philippika sollte Menasse abernicht gut bekommen, warfen ihm Raumplanungs-,Nachhaltigkeits- und (Wind-)Energieexperten vor, falsche Horrorzahlenetwa über den Betonverbrauch von Windkraftanlagenoder über die Gefahr für denVogelbestand verwendet zu haben.Wer wollte, konnte die Entkräftungender Menasse’schen Behauptungen durchWissenschafter nachlesen – nicht zuletztin der Presse. Dennoch ist der Fall exemplarisch– und zwar in zweierlei Hinsicht.Erstens sind Künstler keineswegs Expertenfür eh alles. Gerade Positionierung ingesellschaftspolitisch brisanten Diskursenbedarf des Sachverstandes. Das verlangtauch vom Literaten, sich auch in einerPolemik (die gewiss eine legitime Debattenformdarstellt) an Fakten und nachgeprüfteDaten zu halten. Wer das nicht gewährleistenkann, soll die Finger von nochso gut gemeinten Ergüssen lassen.Zweitens ist es auch ein Problem von Medienqualität,wenn Texte erscheinen, dienicht journalistischen Standards (also derVerwendung nachgeprüfter Fakten) genügen.Auch von Meinungsbeiträgen ist zuverlangen, dass sie mit richtigen Zahlenund Daten operieren. Leserinnen und Leserhaben ein Recht darauf, nicht mit falschenFakten belästigt und verunsichert zuwerden. Es ist eine journalistische/redaktionelleAufgabe, dies zu gewährleisten.Insbesondere bei komplexen Themenrund um die Klimakrise darf dieser grundlegendeStandard nicht verwässert werden.Leider gibt es Beispiele zuhauf, wo dasnicht der Fall ist. Der Fauxpas des RobertMenasse war da vermutlich bloß besondersaugenfällig. (Otto Friedrich)ORIENTIERUNGBISCHOF BENNO ELBS –TROUBLESHOOTER IN VADUZSO 3. DEZ 12:30Seit zwei Monaten ist Vorarlbergs Bischof Benno Elbs auch mit der Leitungder Erzdiözese Vaduz betraut. Nach dem Abgang des umstrittenenErzbischofs Wolfgang Haas soll er im Liechtensteiner Erzbistum die Wogenglätten. Es ist nicht das erste Mal, dass der ausgebildete Psychotherapeutin innerkirchlichen Krisen als Troubleshooter zum Einsatz kommt.religion.ORF.atFurche23_KW48.indd 1 22.11.23 11:54

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