1960 ist ein Jahr des Aufbruchs,Sylvia Plath zieht nach Englandund ihr einziger zu Lebzeiten veröffentlichterGedichtband erscheint:Der Koloss. Kurz vor ihrem Tod,1963, folgt ihr einziger Roman: DieGlasglocke. In den drei Jahren dazwischenschreibt Plath unermüdlichund wird zweimal Mutter. »Esist, als ob mein Herz ein Gesichtaufsetzte und in die Welt hinausginge.«Größte Verletzlichkeit prägtdie Gedichte dieser Zeit gleichsamzuckersüßer Tage, »einzuweckenwie Obst«. Zwischen Leben schenken,dem Leben im Stillstand undVergänglichkeit entfaltet sich eineeinmalige Kraft.Das Herz steht nicht still versammeltdie neben Ariel entstandenenspäten Gedichte Sylvia Plaths, zuihrem 90. Geburtstag, erstmals aufDeutsch.DIE FURCHE · 4818 Literatur30. November 2023Von Johann HolznerEr hat schon einen Legendenstatus,wie hierzulande H. C. Artmannoder Friederike Mayröcker.Aber auch eine Bilderbuchbiografie.Geboren 1941 in Zagreb,aufgewachsen in Koper, hat Tomaž Šalamunzunächst Kunstgeschichte studiertund danach als Broker an der Börse gearbeitet,ehe er damit angefangen hat, Gedichtezu schreiben ‒ am Ende stehen mehrals 50 Gedichtbände. Gedichte in slowenischerSprache , Winke an die Sphinx, diein seiner Heimat zunächst vielfach auf Unverständnisgestoßen sind und zugleichdennoch Übersetzungen in nahezu alleeuropäischen Sprachen sowie zahlreicheAuszeichnungen erfahren haben.Um hier nur einen der wichtigsten Preisezu nennen: 2007 erhielt Šalamun gemeinsammit seinem Übersetzer Fabjan Hafnerden Preis für Europäische Poesie (der mittlerweileunter einem neuen Titel bekannt ist,nämlich als Preis der Stadt Münster für InternationalePoesie). Šalamun beherrsche,so hieß es damals in der Jurybegründung,mit größter Souveränität die unterschiedlichstenRegister, Tonlagen und Sprechweisender Lyrik. Der Dichter ging mit Kommentarensparsamer um; er hielt sich auchmit poetologischen Auskünften lieber zurückund blieb immer bei dem, was er schoneinmal in einem Interview über seine Gedichtegeäußert hatte: Sie seien ihm zugefallen,wie „Steine aus dem Himmel“.Blüte nach einer SchaffenskriseEs gab allerdings auch eine Zeit, in derkeine Steine fielen. Zwischen 1990 und1994 erlebte Šalamun eine Schaffenskrise,er arbeitete als Buchhändler und als Makleran der Triestiner Börse, und erst 1995kehrte er wieder zur Literatur zurück. –Was er ab diesem Zeitpunkt bis zu seinemTod geschrieben hat (Šalamun starb 2014in Ljubljana), dieses „Spätwerk“ liegt nunmehrin einer gediegenen zweisprachigenAusgabe vor, ausgewählt und aus dem Slowenischenübersetzt von Matthias Göritz,Liza Linde und Monika Rinck. Ein Zeugnisder bei uns wenig, viel zu wenig bekanntenosteuropäischen Avantgarde.Wobei aber selbstverständlich Brückenzu anderen Literaturen keineswegs zuübersehen sind. Die Übersetzer nennenBaudelaire, den slowenischen Dichter DaneZajc sowie die Amerikaner Frank O’Hara,John Ashbery und den erst kürzlich verstorbenenCharles Simic (der aus Belgradstammte, aber mehr als 30 Jahre lang AmerikanischeLiteratur an der University ofNew Hampshire gelehrt hat) als Vorbilder.Auch Christopher Merrill wäre an dieserStelle zu erwähnen, der Dichter, Essayist,Übersetzer und Direktor des InternationalWriting Program an der University of Iowa,an der Šalamun ebenfalls zwei Jahre langgewirkt hat; es ist jedenfalls gut möglich,Foto: © Suhrkamp Verlag.Als weiterführendeLektürezum Themalesen Sie auch„SlowenischeLiteratur trittaus dem Schatten“,furche.at.Eine Gedichtsammlung in zweisprachiger Ausgabe umkreistdas Spätwerk des slowenischen Lyrikers Tomaž Šalamun.HimmlischeVerse„ Šalamuns Poesie schürft hinund hin in den tiefsten Regionender Mythologie, ohne aber damitden Blick auf die gesellschaftlicheWirklichkeit des 20. und 21.Jahrhunderts zu verstellen. “dass er in seinem Gedicht über Gedichte„Was Poesie macht“ darauf (und dazunoch auf ganz private, an amerikanischenUniversitäten jedoch nicht gern gesehenePraktiken) anspielt.Mit Anspielungen muss man sich jagrundsätzlich höchst zufrieden geben,wenn man sich einmal einlässt auf diese Gedichte.Denn Poesie, wie Šalamun sie versteht,„trägt nicht / zum Frieden bei. Sieträgt zu Explosionen und // Schmerzen bei.“Sie listet auf, was „brennt und zerspringt“und „tötet“, was vor Augen führt, wie die„Welt kollabiert“, während das lyrische Ichkeinen Ausweg mehr weiß, „einen Steinwurfvon Gott entfernt“. – Was alles die Menschenlängst angenagt, ausgehöhlt, ins Chaosgestürzt haben, wird in diesen Gedichtenschonungslos ausgebreitet und wohl dochauch wieder aufgefangen in strengen Strukturen,in Vers- und Strophenformen, die einegewisse Ordnung sicherstellen, Einhaltgebieten, Einspruch evozieren.„Bedeckt mich. / Mit einem Hut, mit Gras,Sand, Schafböcken, komprimiert / laufenddie Luft, um eine Tragödie zu verhindern.“Derartige Verse entziehen sich jeder Interpretation,und doch ziehen sie die Leserinund den Leser in einen Bannkreis, in demunendlich viele Spuren zu entdecken sind,denen nachzugehen sich immer wiederlohnt. „Erinnert ihr euch, unter dem Giraffenhals/ war ein Zaun gezeichnet, kein sachliches/ Stöckchen?“ Mit einer Formation auspräzisen und nebulosen Etiketten werdenAssoziationen ausgelöst, die prinzipiell intausend Richtungen weiterlaufen und sichdann trotzdem festhaken können, sei es inder Erinnerung an eine Kinderzeichnung,sei es im Rückblick auf einen Spaziergangzum Centre Pompidou im Marais. Stichworteaus der Natur- und Kulturgeschichte, unterstütztvon Hinweisen u. a. auf Montaigne,auf Velimir Chlebnikov oder auch auf MarinaZwetajewa, sorgen für eine vollkommenunüberschaubare, riesige Spielfläche,auf der Wörter und Sätze, herausgelöst ausvertrauten, alltäglichen Bedeutungszusammenhängen,einen ganz neuen Anspielungsreichtumentfalten (können). Es ist dannallein die Form der Gedichte, die alle Gedankenfädenam Ende doch wieder in verbindlichfestgelegte Geleise zurückzwingt.Aleš Šteger, der aus den letzten von Šalamunnoch selbst edierten Gedichtbändeneine Auswahl getroffen und damit die entscheidendeVorarbeit für die jetzt vorliegendeSammlung geleistet hat, hat etlicheGespräche mit dem Dichter aufgezeichnetund sich dabei bemüht, ihm doch die eineoder andere Erläuterung zu entlocken. Aufdie Frage, aus welchem Raum oder wie dieeinzelnen Sätze bzw. Verse in seiner Poesiehervorbrechen, hat Šalamun klipp undklar und gleichwohl recht dunkel geantwortet:„Wie Pferdchen, die miteinanderlosgaloppieren, die da hindurchsausen. Ichschreibe es schnell auf und dann ist es da[…]. Ich erkenne […] die Sätze als das, wassie sind, und ich habe nichts damit zu tun.Das ist großartig.“ In einem der letzten Gedichteder Sammlung, es trägt den merkwürdigenTitel „Brief des jungen Doktorsan unseren Andrić“, ist etwas eingängigerfestgehalten, was Kunst, was Poesie in dieserArt zu leisten imstande ist:Wir wissen, dass es vor Turner keineSonnenuntergänge gab und wer das gesagthat und dass sie vor Dickens Nebelgar nicht kannten. Slowenienwar früher der Tartaros. […]Šalamuns Poesie schürft hin und hin inden tiefsten Regionen der Mythologie, ohneaber damit den Blick auf die gesellschaftlicheWirklichkeit des 20. und 21. Jahrhundertszu verstellen; ganz im Gegenteil, vielmehrum ebendiesen Blick nochmals zuschärfen. Was man übrigens nicht nur anamerikanischen Universitäten wahrgenommenhat, sondern schließlich auch inseinem Heimatland sehr zu schätzen wusste:Šalamun war nicht nur Mitglied der SlowenischenAkademie der Wissenschaftenund Künste, sondern eine Zeitlang auchKulturattaché der slowenischen Botschaftin den Vereinigten Staaten.Tomaš ŠalamunWSteine aus dem HimmelTomaž ŠalamunSteine ausdem HimmelBibliothek SuhrkampSteine ausdem HimmelGedichtevon Tomaž ŠalamunZweisprachige Ausgabedeutsch/slowenischSuhrkamp 2023SV243 S., geb., € 24,70GANZ DICHTVON SEMIER INSAYIFKontemplative Kürze und die Sinnlichkeit des Reisensto the hummingbird/whose wingsyou cannot see/Listen to the hummingbird/Donʼtlisten to me“, so lautet das Zi-„Listentat von Leonard Cohen, das im Gedichtband „pfeilschnellwie kolibris“ vorangestellt ist. WaltraudHaas begegnet großen Themen mit erstaunlicherLeichtigkeit. In 165 meist kurzen und bis auf wenigeAusnahmen ungereimten Gedichten entwickeltdie Dichterin eine Meisterschaft der Kürzeund entfacht dadurch eine reduzierte, besser gesagtfokussierte Fülle ganz eigener Prägung. Daheißt es an einer Stelle: „erinnerungen/mit demschmetterlingsnetz/fangen/ist mein bemühen“.Gedichte zwischen unstillbarer Lebenslust undreflexiv abgeklärtem Durchblick, aber häufig miteinem energievollen Augenzwinkern, das die Aufforderungzum Weiterspielen in sich trägt. „meinlinkes auge/ist mein habe-ich-schon-gesehen-auge/meinrechtes/mein ich-will-nichts-mehr-sehenauge/damitwill ich sagen/ich schiele immer mehr“.Mit entschlossener Ernsthaftigkeit wird jedemeinzelnen Wort nachgeblickt und nachgehört.Waltraud Haas kreiert mit Humor, feiner Ironieund spielerischem Staunen einen poetisch-philosophischenResonanz- und Erkenntnisraum mitgeradezu kontemplativer Tiefe. „nun fallen die vögel/nichtwieder zurück/auf die bäume/sonderneinfach nur/tot in den hof“.Die Entdeckung der Vielfalt Europas ist in denGedichten von Hannes Vyoral aus unterschiedlichstenPerspektiven nachzulesen und mit allenSinnen wahrzunehmen und nachzuspüren. ImGedichtband „EUROPA. eine reise“ heißt es an einerStelle: „wir hatten flügel/aus den augen wachsend/sehnsucht/weithinauf zu reichen/“.So gerät man also mit und in den 324 Gedichten,ungereimt in freien Rhythmen, durch Wälder, insGebirge, zu Vulkanen, Flussdeltas und in Städte,ins Zentrum und an die Ränder dieses abwechslungsreichenKontinentes. Und darüber hinaus erfährtman am Ende von jedem Gedicht, kursiv undklein gedruckt, Informatives zum Ort oder zurLandschaft und am Ende des Buches aufschlussreicheAnmerkungen und Erklärungen.Die intensive Bildhaftigkeit lässt die bereistenOrte unmittelbar erleben, zu Fuß, mit dem Rad,der Bahn, über Gras, Beton und über „gestapeltedächer/vom rauch aus kaminen/zusammengehalten/vomnachmittagsdämmer/“. Dieses ansteckende„/heimweh/nach der ferne/“ lässt poetischeReiseatmosphäre einatmen.Es ist ein buchstäbliches Gemisch von Erde,Himmel, Wasser, Luft mit der Schönheit und derHässlichkeit zivilisatorischer Spuren. „und dortwo ich war/bleibt erinnerung/und da wo ich seinwerde//erinnerung ‒ /die eine weiß nichts/vonder anderen“.„ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in derAlten Schmiede (nächstes: 7.12.2023) Lyrik vor.pfeilschnellwie kolibrisGedichtevon WaltraudHaasKlever 2023170 S., geb.,€ 24,00EUROPA.eine reiseAufzeichnungen& Gedichtevon HannesVyoraledition lexliszt 2023270 S., geb.,€ 22,00
DIE FURCHE · 4830. November 2023Literatur19Sie lebten im Gleichklang, sie spotteten im Gleichklang: Edmond und Jules de Goncourt. Die Tagebücherder Brüder geben Einblicke in die Welt der Pariser Kulturszene und zeigen ein Sittenbild der Gesellschaft.Jagd nach der Wahrheitdes AugenblicksVon Ingeborg WaldingerMit den Brüdern Goncourt seies ein bisschen wie mit Coca-Cola,meinte unlängstPierre Ménard, einer ihrerBiografen: Jeder kenne diesenNamen, und zwar durch Frankreichsprestigeträchtigsten Literaturpreis, denPrix Goncourt, wer genau aber hinter demNamen stecke, sei schon weniger bekannt.Edmond und Jules de Goncourt sind Monumentedes Pariser Literaturbetriebs.Ihr Wirken fiel in die Zeit des Second Empireund der frühen Dritten Republik. Diesymbiotisch verbundenen Brüder (Spitzname:„Juledmond“) teilten die Wohnung undmanche Geliebte, stimmten in ihren Anschauungenüberein und schrieben meist„vierhändig“. Sie verfassten Werke zurKunst- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhundertssowie Biografien über Marie Antoinetteoder Madame de Pompadour. AlsRomanciers begründeten sie mit „GerminieLacerteux“ den Naturalismus. Zu großerBerühmtheit gelangten Edmond und Julesde Goncourt aber durch ihr 22-bändiges„Journal“, im Untertitel „Mémoires de la vielittéraire“. Die Aufzeichnungen begannenam 2. Dezember 1851, dem Tag des Staatsstreichsvon Louis Napoléon (später KaiserNapoléon III.). Jules führte die Feder, erlagjedoch 1870 den Folgen der Syphilis. Edmondsetzte die Arbeit bis an sein Lebensendefort. Er starb im Jahr 1896.Die deutsche Autorin Anita Albus hat„Blitzlichter“ (Titel) aus den Tagebüchernzusammengestellt, übersetzt und benachwortet(Die Andere Bibliothek, 1989).Der Auswahlband wurde nun bei Galianineu aufgelegt. Das erste Blitzlicht fälltauf Tout-Paris, das sich im Bois de Boulognezum Pferderennen einfindet. Darunterder Großbankier Pereire, der StadtplanerHaussmann und all die feinen Damen:„Eine Sippschaft uneleganter, fast provinziellerMenschen, ermattet ohne die Vornehmheiteines ermatteten Geschlechts.(…) Niemals hat man sich mehr zur Schaugestellt, mehr geprahlt (…).“Zwischen Prunksucht und HeucheleiDas „Journal“ ist das Sittenbild einerGesellschaft im Kapitalismus- und Fortschrittstaumel,zwischen Prunksucht,Zügellosigkeit und Heuchelei. Und es bietetein gewaltiges Zerrbild der Literaturszene.Ins Rampenlicht rücken nebst Literatenund Künstlern illustre Exzentrikerder Aristokratie, Politiker und Bankiers,Salonnieren, Kurtisanen und Dienstboten.Die Goncourts lauerten dem Sein hinterdem Schein auf, der flüchtigen Wahrheitdes Augenblicks; das schien jede Indiskretionzu rechtfertigen. Ihrem Authentizitätsanspruchwidersprach es dabei nicht,auch aus der Gerüchteküche zu schöpfen.Die auf ihre adelige Herkunft stolzen,dank Erbschaft vermögenden Brüder frönteneinem unabhängigen Künstlerleben.Sie waren passionierte Kunstsammler undHabitués der Salons. Tagtäglich brachtensie ihre taufrischen Impressionen zu Papier:mit Esprit und stilistischem Schliff,mit Lästerzunge und Ressentiment. Sienahmen sich alle Freiheiten, zumal sieeine posthume Veröffentlichung der Tagebüchervorsahen. Das sollte eine Stiftungbesorgen, die Académie Goncourt, derenGründung Edmond per Testament verfügte.Doch schon 1885 begann er mit der Publikationentschärfter Auszüge, zunächstFoto: Getty Images / ApicLiteraturtandemDie Brüder Goncourtwarenbekannte Schriftstellerihrer Zeit.Der französischeLiteraturpreis „PrixGoncourt“ ist nachihnen benannt.im Figaro, danach in Buchform. Für vielErbitterung der Porträtierten und öffentlicheEmpörung reichte dies noch lange.Die erste unzensierte Gesamtausgabe erschien1956 ‒ im Paris-fernen Monaco.Die spitze Feder der Goncourts traf selbstden Kaiser: Eine unheimliche, eisige Gestaltsei er, eine Schurkengestalt, „ein Napoléon,in dem nicht ein einziger Tropfennapoleonischen Blutes fließt (…)“. Gnadenlosverfuhren sie auch mit Schriftstellerkollegen,zerpflückten deren Habitus undHabitate. Über Charles Baudelaire heißtes: „der Kopf eines Verrückten, die Stimmeglatt wie eine Klinge“. Arthur Rimbaud seiein „Dämon der Perversität“, und GeorgesSand eine „geniale Null“, die mit ihrerostentativen Bauernnähe eine humanitäreNummer abziehe. Selbst engste Freundegerieten ins Visier. Ihren „Bewundererund Schüler“ Émile Zola skizzierten sieals ultranervös, von scharfem Willen undwütender Energie; den Giganten GustaveFlaubert als Effekthascher, „ganz besessen„ Die Goncourts lauertendem Sein hinter demSchein auf, der flüchtigenWahrheit des Augenblicks;das schien jede Indiskretionzu rechtfertigen. “FEDERSPIELWie geht Selbstliebe?von de Sade“ und im Grunde provinziell;das „orientalische Klimbim“ seines Hausesschilderten sie mit Süffisanz. Victor Hugowiederum attestierten sie „heftigen Priapismus“und eine aufgepeitschte Kraft.Manche Zeilen im „Journal“ zeugen voneinem selektiven, auf die Finanzwelt gemünztenAntisemitismus, andere von einerpartiellen Misogynie. Das Goncourt’scheFrauenbild ist ambivalent: endlose Hämefür die „Schnepfen“ der feinen Welt, abergroße Empathie für Rosalie, die langjährigeHaushälterin und Vertraute der Brüder (sieist das reale Vorbild zur Romanfigur GerminieLacerteux). Auch Rosalies NachfolgerinPélagie genoss die Wertschätzung ihrerDienstgeber, u. a. weil sie mit einem StraußRosen durch die umkämpften Straßen derCommune schritt. Die drall-erotische HebammeMaria hingegen war nicht nur eineGeliebte der Brüder, sondern erschloss denbeiden auch die mitunter harte Realität geburtshilflicherEinsatzorte. Dazu zählteetwa ein rattenverseuchtes Barackenlager,vermietet von James de Rothschild.Spiegel des welkenden 19. JahrhundertsBestens vertraut waren die Goncourtsindes mit der Welt der Edelkurtisanen, wo„tiefer Morast“ und „unverschämter Luxus“aufeinanderprallten: „Alles in allem sindmir diese Dirnen gar nicht so unangenehm.Sie bringen ein bißchen Tollheit in die Welt.Sie teilen Ohrfeigen mit Banknoten aus.“Doch da war noch etwas, das die Brüder imfiebrigen Eros erspürten: den Verfall, denkalten Hauch des Todes. Eine Metapherauch auf das welkende 19. Jahrhundert; seineSchattenseiten spart das „Journal“ nichtaus: das Elend der unteren Schichten, aberauch die Tristesse und Heimatlosigkeit derModerne als Folgen einer atemberaubenden„Multiplikation der Horizonte“.Ingeborg Waldingerrezensierte am 22,12.2021auch „1857. Flaubert,Baudelaire,Stifter“, siehe furche.at.Heute herrschen Personalmangel undLohnverhandlungen in den Branchen.Ich bin im sozialen Dienst des Kaffeehausbesuches.Es kommen ein Krautsalat,ein Semmelknödel mit Szegediner Gulasch,Frankfurter, auch Kaffee und das Wasser fürdie anderen Tische. Einmal Fettuccine. ZweimalBier. Was möchte ich heute essen, was sollich schreiben, damit ich es mir morgen leistenkann? Ich überlege, meine Honorare zu erhöhen.Die gestikulierenden Menschen mit demKnödel auf dem Teller werden alles verdauen.Benötigen Sie diesen Stuhl? Sie können ihngerne haben, sage ich, und wenn ich dann bestellenkönnte? Ja, sicher. Und schon bin ichvergessen. Kann ich bestellen?! Ja sicher! Ja,wann? Die Hand wird gegen den Himmel geschleudert,ja, wenn ich Zeit habe! Brotkörbchenkommen wieder.Bei dieser Ignoranz kann man nicht das Honorarfür literarische Texte erhöhen. In dieSelbstabwertung strudeln ist auch keine Lösung.Lieber die leise Stimme erheben, die faktischeGeldbörsenlage überspielen, sich aufführen,als wäre man ein gerngesehener Gast. Ich hebemeinen Brustkorb, umselbstermächtigt Espressozur Theke hinzubellen.Die Stimme ist mir nun aber zu hoch, als würdesie sich ducken – ein Paradoxon beim Kaffeebestellen.Genauso beim Prosecco. Totale Ignoranzist die Folge. Ich versuche es daher mit Bier.Ein Bier! Und siehe da, es wird Notiz genommenvon mir. Welches? Ein kleines, nein, nein, eingroßes! Welches? Das hellste, sage ich schnell.So kommt das Bier. Und dazu der Espresso undder Prosecco. Ich beobachte einen Stammgast,der auch ein Bier trinkt und dann noch ein zweitesund in den Computer tippt wie verrückt. Wieist das eigentlich, wenn man sich total wohlfühlt?Oder gibt es das nicht. Obwohl. Der Typschreibt, als wollte er mir raten, den Stift ausder Hand zu legen und nach Hause zu wanken.Das kann ich mir nicht gefallen lassen. Soschreib ich.Die Autorin ist Schriftstellerin.Edmond und Jules deGoncourt: BlitzlichterAus den Tagebüchern derBrüder GoncourtHerausgegeben, übersetztund benachwortet vonAnita AlbusGaliani 2023352 S., geb., € 25,70Von Lydia Mischkulnig
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