DIE FURCHE · 4810 Religion30. November 2023Das Gespräch führteMichaela HessenbergerGerade hat der Weltverband derExorzisten, er zählt immerhinum die 900 Mitglieder, mitdem Tschechen Karel Orlita einenneuen Vorsitzenden gewählt.Auch in Österreich wird das Ritualdurchgeführt. Notwendigkeit oder aussterbendesGewerbe? Wir haben bei demniederösterreichischen Psychologen undKünstliche-Intelligenz-Forscher John Haasnachgefragt.DIE FURCHE: Wie sieht ein Dämon aus?John Haas: Um das beschreiben zu können,muss man an Dämonen glauben. Ichkann mir nicht vorstellen, dass jemand,der das Konzept eines Dämons vorher nichtgekannt hat, einen identifizieren könnte.Zum Thema passt der Exorzismus – imKern ein Gebet mit der Bitte an Gott, Menschenvom Übel zu befreien.DIE FURCHE: Der Horrorfilm „Der Exorzist“ist heuer 50 Jahre alt. Hat er Dämonen undBesessenheit ins Rampenlicht gerückt?Haas: Das Phänomen, das in der Theologie„Besessenheit“ genannt wird, ist ein sehraltes und kulturübergreifendes. Es tauchtnicht nur in der christlichen, sondern auchin der islamischen und jüdischen Welt auf.Selbst in der Mythologie der Naturvölkerfinden sich Erzählungen. Durch „Der Exorzist“wurde in der Populärkultur ein bisheute anhaltender Dämonen- und Besessenheitsboomentfacht. Nach dem Zweiten VatikanischenKonzil war das Thema ins Hintertreffengeraten; durch Horrorfilme ausden 1970ern ist es rasch wieder in den Vordergrundgerückt. Eine zweite Säule diesesBooms bildete der tragische Fall der DeutschenAnneliese Michel 1976. Auch ihre Geschichtehat Filmemacher inspiriert; dasöffentliche Interesse am Dämonischen iststetig steigend, wie Publikationen belegen.DIE FURCHE: Dabei ist im Fall der AnnelieseMichel wohl ziemlich alles schiefgegangen,was hätte schiefgehen können.Haas: Aus heutiger Sicht sind sich die meistenExpertinnen und Experten sicher, dassAnneliese Michel an einer speziellen Formder Epilepsie litt, die sich verkomplizierte.Am stärksten ist zu kritisieren, dass dieklassischen Berufe, die sich damit hättenbefassen sollen – Psychologen oder Psychiater–, gar nicht recht zum Zug kamen. Stattdessenhaben zwei römisch-katholischePriester in den Monaten vor Michels Tod1976 insgesamt 67-mal den Großen Exorzismusan ihr vollzogen. Übrigens kam es inGLAUBENSFRAGEAutorität wächstNachdem vor Kurzem der Schlusstext derWeltsynode veröffentlicht und bald daraufauch auf Deutsch erschienen war,fragte ich die Studierenden in meiner Vorlesung,wer den Text gelesen oder auch nur malreingeschaut hatte. Betretenes Schweigen. Alsich dann sagte, ich hätte es jedenfalls nichtgetan, antworteten sie freimütig, dass sie garnicht daran gedacht hatten. Niemand hatte sichfür den Text interessiert.Hier zeigt sich der bittere Autoritätsverlust,den die römisch-katholische Kirchenführungderzeit erleidet. Nicht einmal Theologiestudierende(und viele der Theologielehrenden) erwartenAufschlussreiches von Texten, die dortentstehen. Wer sie nicht liest, muss nicht befürchten,Wesentliches zu verpassen.Aber es gibt Hoffnung: Autorität wächst immervon unten. Häufig entwickelt sie sich sogarim Widerspruch zu der Amtsgewalt, die entscheidungsbefugtist; die zwar das Sagen, aberin entscheidenden Fragen letztlich nichts Relevanteszu sagen hat. Wenn das Scheitern der50 Jahre„Exorzist“In William FriedkinsFilm vollzieht JesuitenpaterMerrin(Max von Sydow)den Großen Exorzismusan einemzwölfjährigen„besessenen“ Mädchen(Bild oben).Gibt es Besessenheit, oder handelt es sich da um eingebildetenUnsinn? Derartige Fragen beschäftigen Menschen bis heute.Ein Gespräch über Dämonen und deren Austreibung.Mystischer Restim Menschseinder Zeit des Papsttums von Johannes Paul II.zu einer Renaissance der Exorzismen.DIE FURCHE: Expertise in Sachen unerklärlichePhänomene beansprucht die katholischeKirche ja seit Jahrhunderten für sich.Heute gibt sich die Kirchenführung in Österreichbedeckt, doch jede Diözese sollüber eigene Exorzisten verfügen. Ein aussterbendesoder ein gefragtes Handwerk?Haas: In einer modernen, aufgeschlossenenKirche halte ich Exorzismen für eineVon Hildegund KeulAmtsgewalt ein Autoritätsvakuumerzeugt, erhaltenandere AutoritätenRaum. Natürlich ist dabeidie universitäre Theologiegefragt und herausgefordert. Aber genausospannend ist das, was sich in Gemeinden undüber sie hinaus tut. Neue Formen von Spiritualitätentstehen an den Grenzen des Christlichenund laden ein, diese Grenzen in beide Richtungenzu überschreiten.So auch beim „Lebendigen Adventskalender“,der Anfang Dezember erneut startet (www.lebendiger-adventskalender.de). Menschen kommenzusammen, um ein Licht in dunkler Zeit zuentzünden. Sie folgen einer Verheißung, der siemiteinander Raum geben wollen. Nicht alles gelingt,was hier in Wort und Ton kommt. Aber dennochlässt sich auch dieses Jahr sicher so manchesKleinod entdecken. Autorität wächst. Von unten.Die Autorin ist katholische Vulnerabilitätsforscherinan der Universität Würzburg.aussterbende Praxis, weil die neue Offenheitder Kirche und die Expertise von Psychiaterinnen,Psychologen und Psychotherapeutenimmer weniger potenzielleFälle offenlassen für jene, die einen Grundsehen, einen Exorzismus durchzuführen.DIE FURCHE: Wenn wir über die Grenzen desErklärbaren sprechen – wo enden validewissenschaftliche Erkenntnisse?Haas: Das, was wir Glauben und Wissennennen, sind aus meiner Sicht zwei Betrachtungsweisenoder Seiten einer Medaille,die man subjektive Gewissheit nennenkönnte. Glaube und Wissenschaft sindfür mich Werkzeuge, um diese subjektiveGewissheit und damit auch existenzielleZufriedenheit zu erlangen. Psychologieund Psychiatrie kennen Trance- und„ Ob Besessenheit jemals völligausgeforscht und erklärt werdenkann? Davon gehe ich nicht aus.Im Unerklärbaren liegen ja einStück weit die Faszination unddie Qualität unseres Daseins. “Besessenheitszustände.Allerdings beschreibensie diese nur, wollen sienicht erklären und habenauch Mittel und Wegeder Behandlung, diesich allerdings nicht„Exorzismus“ nennen.DIE FURCHE: Sie definieren:„Besessenheit bezeichnetden angenommenenund zumindestzeitweilig negativen Einflusseiner äußeren Wesenheitauf das ErlebenZum Themaauch: „‚GroßerExorzismus‘:Die katholischeKirche und dasumstritteneRitual“ von DorisHelmberger,5.12.2013,siehe furche.at.Foto: Gerald RiedlerFoto: IMAGO / United ArchivesJohn Haas, Psychologe und Buchautor,hat sich u. a. mit Verschwörungsmythenauseinandergesetzt.und Verhalten einer Person.“ Ist Besessenheitnun Realität oder Unsinn?Haas: Das ist eine wahrheitstheoretischeFrage, die ich als Psychologe nicht beantwortenkann. Bei näherer Betrachtung fälltauf, dass Beobachter den vermeintlich besessenenMenschen nicht zutrauen, dieseVerhaltensweisen aus freien Stücken anden Tag zu legen. Die sogenannten Besessenenverhalten sich wesensfremd, sind alsobeispielsweise extrem bösartig oder aggressiv,meist ganz unvermittelt.DIE FURCHE: Strenge wissenschaftliche Kriterienlassen sich in Sachen Besessenheitalso nicht anlegen?Haas: Klassischerweise arbeitet die Wissenschaftmit einer begründeten Vermutungaus einem gemeinhin etabliertenWissensbereich heraus. Im Optimalfall sichernwiederholbare Experimente dieseVermutung ab. Ein solches Vorgehen könnenwir bei Zuständen, die als Besessenheitbezeichnet werden, nicht erwarten.Hier bleiben fast nur Einzelfallbeschreibungenübrig. Die allermeisten lassensich psychologisch beziehungsweise psychiatrischerklären und stellen sich dannals Ausdruck eines psychotischen Geschehens,einer dissoziativen Störung oderals Folge des Konsums von psychotropenSubstanzen oder gar als Epilepsie heraus.DIE FURCHE: Was passiert dabei im menschlichenGehirn?Haas: Unser Gehirn ist zu wesentlich mehrimstande als dazu, was es im Regelfallleistet. Doch der Preis für die exorbitanteLeistungsfähigkeit ist seine Fehleranfälligkeit.Durch Stress, kulturelle Erwartungen,Gehirnerkrankungen oder die Einnahmevon Substanzen können Menschenin Zustände kommen, die so bizarr und wesensfremdanmuten, dass ein Laie annehmenmuss, dass das nicht aus der Personselbst erwachsen kann. Was aber dahinterliegt,sind biochemische Ausnahmezuständemit einem sichtbaren Verhalten,das durch die Bezeichnung „Besessenheit“für die Umwelt fassbar wird. Ein weitererVorteil dieser Bezeichnung ist der, dasssich die betroffene Person durch dieses Etikettleichter in eine passive Rolle einfindenkann und auf Hilfe von außen angewiesenist. Nicht zuletzt befriedigt ein Exorzismusauch das dramaturgische Bedürfnis vielerBetroffener und zeichnet sie als quasi einzigartigaus.DIE FURCHE: Gibt es also für jedes anormalePhänomen letztlich eine Erklärung?Haas: Das zu behaupten, wäre von mirvermessen. Ich glaube sogar, dass es immenschlichen Dasein so etwas wie einen„mystischen Rest“ gibt, der uns antreibt,motiviert und staunen lässt. Ob Besessenheitjemals völlig ausgeforscht und erklärtwerden kann? Davon gehe ich nicht aus. ImUnerklärbaren liegen ja ein Stück weit dieFaszination und damit die Qualität unseresDaseins.DIE FURCHE: Wird uns die Künstliche Intelligenz(KI) helfen können, hinter paranormalePhänomene zu blicken oder sie gar zuenttarnen?Haas: Nein, das denke ich nicht, da die Weltdes sogenannten Übersinnlichen für unsschwer zu fassen ist. Vorausgesetzt, es gibtsie überhaupt. Der Künstlichen Intelligenzfehlt schlichtweg dieSinnlichkeit und Körperlichkeit.Es gibt Fragen,auf die es einfachkeine Antworten gibt.Damit sollten wir lebenlernen. Befragen wir dieKI nach Besessenheit,wird sie uns sicher eineAntwort liefern. Daraufist sie trainiert. Wiezutreffend diese Antwortletzten Endes ist,sei dahingestellt. Kurzum:Der Mensch ist undbleibt auch in Zeiten derKI Wunderwerk undWundertüte zugleich.
DIE FURCHE · 4830. November 2023Gesellschaft11Bulgarien gehört zu den Ländern mit der höchsten Kinderarmutsrate. Die Volksgruppe der Roma trifft das besonders. Fehlende Teilhabe undsoziale Ausgrenzung gehören für sie zum Alltag. Die Hilfsorganisation „Concordia“ will einen Ausweg bieten. Ein Lokalaugenschein.Die vererbte Armut einer NationVon Helena Tatjana PichlerBilyana wartet vor der Tür. Aufdem Arm hat sie ihren jüngstenSohn, kaum neun Monate alt,an der anderen Hand zieht ihreTochter. Die Straße hinauf zumWohnanhänger, wo die 25-Jährige mit ihreninsgesamt fünf Kindern und ihrem Mannwohnt, ist nicht betoniert und matschig. AmVortag hat es geregnet. Trotzdem tragen diedrei nur Sandalen über den Socken.Die Familie lebt auf engstem Raum amRande des Dorfes Malki Iskar, rund 90Kilometer nordöstlich der bulgarischenHauptstadt Sofia. Der Vater arbeitet wie dieanderen Männer des Dorfes in der Forstwirtschaftund ist nur abends zu Hause. Drinnenist gerade einmal Platz für drei Betten, einenKühlschrank und einen kleinen Tisch, derals Arbeitsfläche dient. Fließendes Wassergibt es nicht. Zum Waschen nutzt die Familieeine große Badewanne, die ansonsten unterdem Wagen verstaut wird. Die Situationder anderen Familien im Viertel unterscheidetsich kaum. Wie Bilyanas Familie zählenauch sie sich zur bulgarischen Minderheitder Roma, die mehr als ein Zehntel der Landesbevölkerungausmacht.TeufelskreisArmut ist inBulgariens RomaviertelnseitGenerationenein ständigerBegleiter. DieTeilhabe an SozialundBildungsangebotengiltaber als Schlüsselfaktor,umden Kreislauf zudurchbrechen.Die Armut der NachbarschaftIn Bulgarien gibt es viele solcher Viertel.Sie werden mahalas genannt, vom türkischenWort mahalle, was so viel wie Nachbarschaftoder Stadtteil bedeutet. Heutewerden damit vor allem ärmere Stadt- oderDorfteile bezeichnet, in denen größtenteilsRoma leben. Schätzungen zufolge gibt esum die hundert mahalas im ganzen Land,etwa ein Viertel von ihnen besteht aus illegalenBauten und verfügt über keine offiziellenAdressen. Das hat Folgen, denn bisherkonnte nur Ausweispapiere beantragen,wer eine Adresse hat. Ohne persönliche Dokumentesind Betroffene sowohl von Sozialleistungenals auch von Grundrechten wiedem Wahlrecht ausgeschlossen. Nun soll esmittels Geburtsurkunde möglich sein, diePapiere zu beantragen. Bis die bürokratischenVersäumnisse vollständig aufgeholtsind, wird es aber noch dauern.Trotz unterschiedlichster staatlicherStrategien der vergangenen Jahre sinddie Roma daher weiter von Ausgrenzungbetroffen. Einem Bericht der „MinorityRights Group Europe“ (MRGE) zufolgezeigt sie sich bei Einstellungsverfahren fürArbeitsplätze ebenso wie in den Wohnverhältnissenund dem Zugang zu öffentlichenDienstleistungen. Auch jener zu Bildungseinrichtungenist eingeschränkt. Nicht nurdas mangelnde Angebot – im gesamtenStadtteil Fakulteta, der 60.000 Roma beherbergt,gibt es etwa keinen einzigen öffentlichenKindergarten –, sondern auch finanzielleBarrieren halten Eltern davon ab,ihre Kinder einzuschulen, erklärt OgnyanIsaev, Direktor des Programms für Bildungschancender Stiftung für Sozialleistungen.Selbst Teil der Roma-Community,fokussiert er sich in seiner Arbeit besondersauf die Aufhebung der Segregation innerhalbdes bulgarischen Schulsystems. Offiziellsollen Kinder unabhängig von ihrer Herkunftgleichbehandelt werden. UnsichtbareBarrieren, wie die bis vor Kurzem noch geltendeGebühr von 30 Euro für den Kindergartenbesuch,treffen die ärmere Bevölkerungsschichtjedoch stärker. Nebenkostenwie Schulmaterial, Bücher oder Fahrkartenfür öffentliche Verkehrsmittel sind für vieleFamilien schon bei einem Kind kaum zustemmen, geschweige denn bei mehreren.Faktoren wie diese führen zu erheblichenUnterschieden im Bildungsniveauder ethnischen Gruppen: Während immerhin80 Prozent der selbstidentifiziertenFotos: Thomas SeifertBulgaren ab sieben Jahren die Sekundarstufeoder höher abschließen, sind es beiden Roma nur etwas mehr als 15 Prozent.Ein Grund für diese dramatisch niedrigeZahl ist auch die offene Diskriminierungder Roma und ihrer Kinder. „Die Lehrersind oft voreingenommen, und das bekommendie Kinder im Unterricht zu spüren“,erklärt Isaev. Zusammen mit den anderenFaktoren führe dies dazu, dass Eltern ihreKinder nur ungern in die Schule schicken.Hilfe für das Leben mit SchulkindernZurück in Malki Iskar zeigt Bilyana stolzein gerahmtes Zertifikat. Es hängt überdem Bett, das sich drei ihrer Kinder teilen.Der Älteste wurde für besondere schulischeLeistungen ausgezeichnet.Sie selbst hat als 15-Jährige die Schuleabgebrochen. Das erste Kind bekam sie einJahr später. Um außerhalb der Schule dieUnterstützung zu bekommen, die Bilyanaihren Kindern nicht bieten kann, besuchensie seit wenigen Wochen das Tageszentrumder „Sozialprojekte Concordia“. Seit zweiJahren bietet das Team unter Leiterin YordankaIvanova den Kindern im Dorf eineAufsicht bei den Hausaufgaben, Nachhilfebei Bedarf und eine abwechslungsreicheFreizeitgestaltung. Auch psychologischeBetreuung wird angeboten. Meist sind esgrundlegende Dinge wie logisches Denkenund die Fähigkeit, Emotionen richtig auszudrücken,bei denen die Hilfe der Psychologingebraucht wird. 47 Kinder kommenderzeit regelmäßig nach Ende des Unterrichtsvorbei. Oft haben die Eltern selbstkeine abgeschlossene Schulausbildungoder zu wenig Zeit, um ihre Kinder im Alltagzu unterstützen. Auch sie sind eingeladen,das Tageszentrum zu nutzen. Vormittagswerden Kurse für junge Mütterangeboten. Themen wie Kindererziehungund Familienplanung werden besprochen,aber die Workshops bieten auch Zeit fürden Austausch und eine Möglichkeit fürdie Frauen, Freundschaften zu schließen.Lesen Sie auchdas Interview„Was fehlt, isteine Strategie“(30.4.20) mitOsteuropa-Kenner NorbertMappes-Niediekauf furche.at.„ Bilyanas Ältester wurde für schulischeLeistungen ausgezeichnet. Sie selbst hatals 15-Jährige die Schule abgebrochen.Das erste Kind bekam sie ein Jahr später. “Die 25-jährige Bilyana ist fünffache Mutter. Mit ihrem jüngsten Sohnauf dem Arm zeigte sie der FURCHE, wie sie mit ihrer Familie lebt.Bulgarien hat eine der am schnellstenschrumpfenden Bevölkerungen der Welt. Inden letzten drei Jahrzehnten ist die Zahl derBulgarinnen und Bulgaren um ein Viertelvon fast neun Millionen auf heute 6,5 Millionenzurückgegangen. Hält der Trend an,wird sie bis 2050 weiter auf rund 5,4 MillionenMenschen sinken. Gleichzeitig liegt derAnteil der von Armut betroffenen Menschenbei über 30 Prozent. Jener der armutsgefährdetenKinder liegt mit 33 Prozent noch etwashöher. Zu lückenhafter Bildung, fehlendenAusweisdokumenten und Diskriminierungkommt hinzu, dass sich Bulgarien zuletzt ineiner politischen Krise befand. Das Land hatin zwei Jahren fünf Parlamentswahlen abgehalten,die letzte im April dieses Jahres.Seit Juni regiert nun eine proeuropäischeKoalition. Gemäß des Regierungsübereinkommensübergibt der derzeitige demokratischeMinisterpräsident Nikolaj Denkowdas Amt nach neun Monaten an die konservativeMarija Gabriel. Unterdessen will dieparteilose Sozialministerin Ivanka Shalapatovaihre Amtszeit nutzen, um das Sozialsystemzu reformieren, ist sie doch nachwie vor auch Vorstandsmitglied des internationalenNGO-Netzwerks für frühkindlicheEntwicklung.Wenn Bildung mehr Wert bekommtEin Ausbau der Sozialleistungen soll endlichdie Grundlage dafür schaffen, dass sichvon Armut betroffene Menschen aus eigenerKraft aus ihrer Situation befreien können.Zudem sollen soziale Berufe attraktiverwerden, um helfende Hände zu gewinnen.„Unsere Strategien können noch so gut sein“,so Shalapatova, „am Ende darf die Umsetzungnicht daran scheitern, dass wir nichtgenügend Leute haben.“ Ob dies den erwartetenWandel bringt, wird aber von der weiterenpolitischen Entwicklung abhängen.Armut ist ein Teufelskreis in Bulgarien.Ein Generationentrauma, das von den Großelternan die Eltern und schließlich an dieKinder weitervererbt wird – Umstände, diesich ohne Reform des Sozialsystems nichtändern werden. „Ist diese Grundlage abereinmal gegeben, braucht es nur noch Zeit“,sagt Ivanova, „Zeit, um auch in den kommendenJahren unsere Arbeit tun zu könnenund die Kinder und ihre Familien zuunterstützen.“ Umfassende Bildung sei dererste Schritt, um später erfolgreich in denArbeitsmarkt einzusteigen und den Kreislaufzu durchbrechen, ist sie überzeugt:„Die Kinder wollen lernen. Das muss gefördertwerden. Dann können sie es schaffen.“Die Recherche erfolgte im Rahmeneiner Reise auf Einladung von„Concordia Sozialprojekte“.
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