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DIE FURCHE 30.11.2023

DIE FURCHE

48 · 30. November 2023DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 6,–„Der Verrat wirdnicht gesehen“Ein Gespräch mit derUS-Psychologin JenniferFreyd, der Pionierin in derForschung zu institutionellerGewalt. · Seiten 22–23Nahost: Wo die moralischen Grenzen liegen Vom unaufhaltsamen Niedergang der Religion Der Duft der PrärieDer Kriegsethiker Philipp Gisbertz-Astolfi über zivileOpfer in bewaffneten Konflikten und darüber, wannes sie in Kauf zu nehmen gilt. · Seite 8Religionswissenschafter Franz Winter über eineStudie, die weit Dramatischeres vorhersagt als denMitgliederschwund der Kirchen. · Seite 9Früher galt Country als Hinterwäldlermusik.Heute ist das Genre ein Anlaufpunkt für Musikerin Umbruchsituationen. · Seite 17Das Thema der WocheSeiten 2–4Foto: IMAGO / United ArchivesFoto: iStock/Mark_KADiekleinenDingeWer das großeGlück sucht, wirdvom Alltag oftenttäuscht. Dabeihaben Routineund Sicherheitmehr zu bieten,als man meint.Besessen vonbösen GeisternAuch 50 Jahre nachdem derHorrorschocker „Der Exorzist“ (Bild)die Kinokassen füllte, sind Dämonenund deren Austreibung nicht ausAlltagskultur und öffentlichemBewusstsein verschwunden.Im Gegenteil. Ein Zeichen für einenmystischen Rest des Menschseins?Seite 10Wut, Empörung und gnadenlose Wahrheitsansprüche prägen den öffentlichen Diskurs. DochDemokratie braucht den Kompromiss. Überlegungen anhand von 50 Jahren Fristenregelung.Reif für den Konflikt?AUS DEM INHALTWerden die Falschen bestraft?Wenn von Sanktionen die Rede ist, denktman vor allem an Russland. Doch der Westensanktioniert viele weitere Länder – undverursacht damit auch Probleme.Seiten 6–7Von Doris HelmbergerSind Sie ein Antisemit? Oder sindSie islamophob? Ist das Töten jüdischerBabys ein Akt der Befreiung– oder leben in Gaza samt undsonders nur Terroristen? Vor dieseEntscheidungsfragen hat Die Tagespresseunlängst ihre Leserinnen und Leser gestellt.Gut einen Monat nach dem 7. Oktoberhätten sich Millionen Menschen in Österreichnoch immer nicht zweifelsfrei positioniert,lautete die Klage.Das war natürlich ironisch gemeint – wieimmer auf diesem gut gemachten Satireportal.Dennoch ist der Wirklichkeitsgehaltverstörend hoch. Die genozidale Terrorattackeder Hamas auf Israel hat den in derCorona-Pandemie verschärften sowie imrussischen Angriff auf die Ukraine weiterdynamisierten quasi-religiösen Ad-hoc-Bekenntniszwangauf die Spitze getrieben.Das ist nicht nur schwer auszuhalten, sondernauch gefährlich: Denn diese Radikalisierungdes öffentlichen Diskurses, diesesAusblenden aller Grautöne, diese durch„soziale Medien“ getriebene kollektive Regressionauf die bloße Empörung und in derFolge auf Wut und Hass gegenüber Andersdenkendenhaben ihren Preis. Und der istnicht weniger als die liberale Demokratie.„ Dilemmata ernstnehmen,um Kompromisse ringen:Ohne diese Tugendenist Demokratie nichtzu haben.“Um sie zu bewahren, braucht es schließlichmehr als das Funktionieren ihrer Säulenund Institutionen – was bekanntlichschwierig genug ist. Es braucht das Bewusstsein,dass die eigene Wahrheit, sei eseine leidenschaftliche Meinung oder einereligiöse Überzeugung, bei der Wahrheitdes anderen endet; und dass am Ende – horribiledictu – auch der andere recht habenkönnte. „Demokratie ist eine Lebensform“,brachte es Dienstag dieser Woche eine Tagungüber die „Krise der Demokratie unddie Rolle der Religion“ auf den Punkt. Undsie muss täglich neu eingeübt werden.Geschichte eines KulturkampfsWie schwierig, aber essenziell das Aushaltenvon Konflikten und das Ringen umpolitische Kompromisse in einer liberalenDemokratie sind, zeigt auch ein Blick aufeines der großen gesellschaftlichen Reizthemen:den Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch.Vor genau 50 Jahren,am 29. November 1973, wurde im österreichischenNationalrat die sogenannteFristenlösung verabschiedet – mit 93SPÖ-Ja-Stimmen gegen 88 Nein-Stimmenvon ÖVP und FPÖ. Wenig später erhobdie ÖVP im Bundesrat Einspruch. MittelsBeharrungs beschluss wurde das Gesetzfreilich am 23. Jänner 1974 durchgesetztund ist im Jänner 1975 in Kraft getreten(vgl. Seite 16).Es war ein unvergleichlicher Kulturkampf,der diese Entscheidung begleitethat – und bis heute begleitet. Belege für dieUnversöhnlichkeit der Debatte finden sichzuhauf auch in der FURCHE. Insbesonderedie katholische Kirche sieht die Regelungbis heute als offene Wunde. Tatsächlichfehlen auch einige der damals einstimmigbeschlossenen „flankierenden Maßnahmen“.Dennoch war dieser Kompromisszwischen dem Selbstbestimmungsrechtder betroffenen Frau und dem Lebensrechtdes Kindes aus heutiger Sicht ein Zeichendemokratiepolitischer Reife.Nicht auszudenken, wenn eine solcheEntscheidungsfindung in Zeiten „sozialerMedien“ hätte getroffen werden müssen.Und tatsächlich ist das Thema Abtreibungbis heute ein politischer „Triggerpunkt“.Fundamentalistische, von Neurechten gestützteKräfte betrachten Abtreibung als„Mord“ und höhlen systematisch Frauenrechteaus, nicht nur in den USA. Und auchdas Verunmöglichen eines Schwangerschaftsabbruchs,wie zuletzt in Vorarlberg,unterläuft den Kompromiss. Umgekehrtgeht aber auch das Schlagwort „Mein Bauchgehört mir“ am realen Dilemma vorbei.Dieses ernst nehmen, um politischeKompromisse ringen und Konflikte aushalten:Ohne diese Tugenden ist Demokratieweder in dieser Frage noch grundsätzlichzu haben.doris.helmberger@furche.atRuinen hinter ScheinfassadenWilfried Stadler zum Absturz der Benko-Gruppe: Nach der Finanzkrise 2008 wurdeverabsäumt, Bilanzierungsregeln für Immobiliengrundlegend zu verändern. Seite 7Der Konflikt im KlassenzimmerAntisemitismus an heimischen Schulenspitzt sich seit dem 7. Oktober zu. FürKulturvermittler ist das eine besondereHerausforderung. Seite 12Jagd nach dem AugenblickEdmond und Jules de Goncourt lebten undspotteten im Gleichklang. Die Tagebücherder Brüder geben Einblicke in die Weltder Pariser Kulturszene. Seite 19Das Chaos vor dem TodDer mexikanischen Regisseurin Lisa Avilésgelingt in ihrer filmischen Groteske „Tótem“eine subtile Annäherung an soziale und familiäreVerhältnisse in ihrem Land. Seite 20furche.atÖsterreichische Post AG, WZ 02Z034113W,Retouren an Postfach 555, 1008 WienDIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 WienTelefon: (01) 512 52 61-0

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