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DIE FURCHE 30.04.2024

DIE

DIE FURCHE · 18 4 Das Thema der Woche Europas Fundament bröckelt 2. Mai 2024 Von Christoph Grabenwarter Knapp fünf Jahre nach der Entstehung des Europarates trat die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in Kraft. Mit ihr wurde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingerichtet. Auch er feiert in diesem Jahr somit einen runden – nämlich seinen 70. Geburtstag. Die EMRK ist in kürzester Zeit zum wichtigsten internationalen Menschenrechtsinstrument geworden und ist es bis heute geblieben. Sie prägt die Grundrechtsentwicklung in den allermeisten Mitgliedstaaten des Europarates, angetrieben von einer aktiven und auf Rechtsfortbildung angelegten Rechtsprechung des EGMR. Zusatzprotokolle zur Abschaffung der Todesstrafe, zu weiteren Justizgarantien und mit besonderen Gleichbehandlungsgeboten haben den Grundrechtsbestand im Lauf der Zeit verdichtet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wird 70 Jahre alt. Doch zu feiern gibt es wenig, bilanziert der Präsident des Verfassungsgerichtshofes. Ein Lagebild. Übernationale Urteilskraft Drei Zäsuren gilt es zu beleuchten Österreich trat der EMRK 1958 bei, kurz nach dem Staatsvertrag und fünf Jahre nach Inkrafttreten der EMRK. Für Österreich hat die EMRK deshalb besondere Bedeutung, weil sie 1964 in den Verfassungsrang gehoben wurde und weil man sich bei der Ausarbeitung und Beschlussfassung der Bundesverfassung im Jahr 1920 entschieden hatte, die Grundrechte aus der Dezemberverfassung 1867 zu übernehmen. Stellt man sich die Grundrechte als Landschaft vor, so wäre die EMRK das Zentralmassiv dieser Landschaft. Von ihr gehen bis heute wesentliche Impulse beim Schutz individueller Rechte aus, sei es bei neuen Bedrohungen in Zeiten einer Pandemie, im Datenschutz, beim Schutz des Lebens, in der Meinungsfreiheit, beim Klimaschutz oder im Asyl- und Fremdenrecht. Vergessen wir nicht, dass eines der ersten Urteile gegen Österreich der Journalist Peter Lingens erstritten hat, der in Österreich dafür verurteilt wurde, weil er dem damaligen Bundeskanzler Bruno Kreisky für seinen Umgang mit der FPÖ Opportunismus vorgeworfen hatte. Auch mit dem Fall des Rundfunkmonopols, mit der Stärkung der Waffengleichheit im Strafverfahren oder mit der Einführung der zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit ist die EMRK auf das Engste verknüpft. Drei Zäsuren haben die ersten 70 Jahre der EMRK bestimmt. Die erste Zäsur war der Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989. Er brachte binnen weniger Jahre eine Verdopplung der Mitgliedstaaten nicht nur des Europarates, sondern auch der EMRK. Über „ Das Rechtsschutzsystem ist seit längerem mit Anfragen hinsichtlich seiner Effektivität konfrontiert. In Großbritannien gibt es regelmäßig Debatten über einen Austritt. “ 20 neue Rechtsordnungen, zwei Dutzend neue Richter, neue Menschenrechtsfragen im Zusammenhang mit der Bewältigung von Diktaturen kamen hinzu. Diese Entwicklung bedingte die zweite Zäsur, die Reform des Rechtsschutzmechanismus. 45 Jahre lang war dem EGMR eine Menschenrechtskommission vorgeschaltet, die besetzt mit hervorragenden Experten in quasi-gerichtlicher Arbeitsweise die Praxis prägte, in den ersten Jahrzehnten entschied der Gerichtshof gerade einmal zwei Dutzend Fälle, die Richterinnen und Richter kamen nur wochenweise nach Straßburg. Die mit mehr Staaten rasant ansteigende Zahl der Fälle machte die Einrichtung eines ständigen Gerichtshofes unausweichlich. Die dritte Zäsur bildet das Ausscheiden Russlands aus der EMRK und aus dem Europarat im Jahr 2022. Alexej Nawalny konnte sich wegen einer Verhaftung im Jahr 2012 und wegen des Giftanschlags 2020 noch an den EGMR wenden und die Feststellung von Menschenrechtsverletzungen erwirken. Bei allem, was ihm nach 2022 bis zu seinem Tod vor weni- gen Wochen widerfuhr, blieb er schutzlos. Ebenso schutzlos bleiben heute Millionen Menschen in Russland und in der Ukraine, die von teils schwersten Menschenrechtsverletzungen in einem zur Diktatur gewordenen Staat betroffen sind. So gibt es aus Anlass des Jubiläums eigentlich wenig zu feiern. Das Rechtsschutzsystem ist seit längerem mit Anfragen hinsichtlich der Effektivität der Umsetzung seiner Urteile konfrontiert, nicht nur in Russland vor 2022. In Großbritannien gibt es in regelmäßigen Abständen Debatten über einen Austritt auch aus der EMRK, die ihren Ursprung in der Rechtsprechung des Straßburger Gerichts zum Wahlrecht für Strafgefangene haben und zuletzt vor allem durch die Rechtsprechung des EGMR im Fremdenund Asylrecht befeuert wurden. Foto: Gerhard Sokol, Gerhard Sokol / KURIER / picturedesk.com, Votava / brandstaetter images / picturedesk.com Der Jurist, Universitätsprofessor und Richter Christoph Grabenwarter leitet seit 2020 als Präsident den österreichischen Verfassungsgerichtshof. Foto: ©VfGH / Katharina Fröschl-Roßboth Exempel Eines der ersten Urteile gegen Österreich erstritt der Journalist Peter Lingens (re.). Dieser war in Österreich dafür verurteilt worden, weil er Bruno Kreisky Opportunismus vorgeworfen hatte. Diese Rechtsprechung ist vielleicht die folgenreichste. Wenige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer, am 7. Juli 1989, also genau vor 45 Jahren, entschied der EGMR, dass die Auslieferung eines flüchtigen Verbrechers durch Großbritannien an die USA das Recht auf Schutz vor menschenunwürdige Behandlung nach Art. 3 EMRK verletze, wenn es begründete Anhaltspunkte dafür gibt, dass der betroffene Mensch im ersuchenden Land der Folter oder unmenschlicher Behandlung ausgesetzt sein wird. Diese Entscheidung wurde auf Abschiebungen im Fremdenrecht übertragen und bildet die Grundlage dafür, dass Europa bis heute der einzige Kontinent ist, in dem der Schutz vor politischer Verfolgung vor einem übernationalen Gericht gerichtlich geltend gemacht werden kann. Staatliche Gerichte sind verpflichtet Auch sind staatliche Gerichte verpflichtet, diesen Schutz zu gewähren. Wer immer über die Frage der Zukunft des Asylrechts und -verfahrens in Europa nachdenkt, hat diese Rechtslage und diese Rechtsprechung seinen Überlegungen zugrunde zu legen. Schließlich muss zum Jubiläum auch die Frage nach institutionellen Reformen gestellt werden. Seit 15 Jahren prüft ein Expertenausschuss die Qualität der Kandidaten für Richterstellen in Straßburg. Dieser Ausschuss hat wesentlich zur Qualität der heute amtierenden Richterinnen und Richter beigetragen. Es ist an der Zeit, diesen Ausschuss in der EMRK rechtlich zu verankern. Gleichzeitig sollte das System von Dreiervorschlägen der Regierungen an die Parlamentarische Versammlung des Europarates überdacht werden. Was ursprünglich als Element demokratischer Legitimation gedacht war, hat seine Erwartungen nicht erfüllt. Das Verfahren hält qualifizierte Personen häufig von einer Bewerbung ab. Die Qualität eines Gerichts aber steht und fällt mit der Qualität seiner Richterinnen und Richter. Nächste Woche im Fokus: Das Interesse an Wildpflanzen boomt ebenso wie die Lust, sich mit selbst angebautem Bio-Gemüse zu versorgen. Wir haben uns umgesehen, was man aus dem eigenen Grün alles herstellen kann – und wie der „essbare Garten“ zum sinnlichen Kunstwerk wird. Ein Fokus über die Nutz- und Liebesbeziehung zu Pflanzen.

DIE FURCHE · 18 2. Mai 2024 Politik/International 5 Von Tobias Müller Als der freiheitliche EU- Abgeordnete Roman Haider im März 2024 Voice of Europe ein Interview gibt, nimmt die österreichische Öffentlichkeit dies kaum zur Kenntnis. Warum auch? Viele Menschen haben bis dato noch nie von dieser Website gehört, eine der Online- Hauspostillen jener Parteien, die im EU-Parlament die rechtsextreme Fraktion Idenity and Democracy (ID) bilden. Haider, vorgestellt als „wohlbekannt in Österreich wie Europa wegen seines unerschütterlichen Einsatzes für nationale Souveränität und konservative Werte“, analysiert dort die Bauernproteste in Europa, verteufelt den Green Deal und die Sanktionen gegen Russland. So weit, so erwartbar. Parallel zur stabilen Wählerschaft der rechtsextremen und rechtspopulistischen EU-Fraktion zugehörigen Parteien, die sich in den vergangenen 20 Jahren auf dem Kontinent ausbreitete, entstanden auch eine ganze Reihe von Medien, nicht zuletzt online, die diese Entwicklung publizistisch und ideologisch unterfütterten. Akteure aus dem entsprechenden Umfeld tauchen dort regelmäßig auf, etwa im Februar 2024, als eine Schlagzeile lautete: „Austria: Anti-globalist Freedom Party chief Kickl says ‚remigration‘ is necessary“ (zu deutsch: Antiglobalistischer FPÖ-Chef Kickl sagt, ‚Rückwanderung‘ sei notwendig“). Wer es noch nicht bemerkt hat: Der Besuch einer Seite von Voice of Europe (VoE) räumt auf mit der überholten Einschätzung, Nationalisten aus verschiedenen Ländern könnten nicht zusammenarbeiten. Die Beschaffenheit dieser Zusammenarbeit freilich ist es, die das Interview Haiders wenige Wochen später ins Rampenlicht bringt: Die tschechische Regierung macht kurz vor Ostern bekannt, dass der dortige Geheimdienst BIS (in Prag ansässig) Voice of Europe als Instrument russischer Propaganda enttarnt habe. Der Inhalt sei „vollständig von Russland kontrolliert und finanziert“ gewesen, politische Akteure für prorussische Statements bezahlt worden. Hunderttausende Euro seien bar bezahlt oder in Krypto-Währungen überwiesen worden, um territoriale Integrität, Souveränität und Freiheit der Ukraine in Frage zu stellen. Die tschechische Zeitung Deník N berichtet, unter anderem seien Politiker aus Deutschland, Frankreich, Polen, Belgien, Ungarn und den Niederlanden kontaktet und teils auch finanziert worden. Österreich wird in dieser Liste zumindest nicht direkt genannt. Die FPÖ lässt Anfang April mitteilen, Haider sei interviewt worden, wie man „grundsätzlich mit allen Medien“ spreche und diesen auf Anfrage auch Stellungnahmen liefere. Dafür jedoch seien „weder Geld noch sonstige Leistungen angeboten oder angenommen“ worden. Von der FPÖ über die Fidesz bis hin zu Le Pens „RN“ pflegen und pflegten Europas Rechte enge Beziehungen zur russischen sowie chinesischen Führung. Eine Recherche zur Dimension des Netzwerks. Die völkische Weltanschauung und ihr Machtzirkel Oligarchen als Finanziers In den anderen genannten Ländern herrscht große Aufregung. In Deutschland rückt kaum überraschend die Alternative für Deutschland (AfD) ins Blickfeld, da sie ebenfalls von Deník N in Zusammenhang mit russischen Einflussnehmern genannt wird. Maximilian Krah, der Spitzenkandidat für die EU-Wahlen Anfang Juni, reiste – nach eigenen „ Martin Sellner feiert Putin in einem Interview als ‚wahren Patrioten und echten Identitären‘. “ Angaben unbezahlt – für ein Interview nach Prag. Petr Bystron (Ex-Vorsitzender des AfD-Landesverbandes Bayern; seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages; er stand unter Beobachtung des Bayerischen Verfassungsschutzes, weil er „Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen aufzeige“) wurde auf Voice of Europe interviewt, ebenso wie Filip Dewinter, graue Eminenz des belgischen Vlaams Belang, und der verschwörungsaffine niederländische Antiglobalist Thierry Baudet, Gründer der Partei Forum voor Democratie (FvD). Alle beteuern, nie Geld aus Moskau empfangen zu haben. Die Niederlande sind auch der Ort, an dem der VoE Internetauftritt einst seinen Lauf nahm – als tendenziöser Nachrichtenüberblick mit deutlich populistischer Schlagseite gegen Zuwanderung und die Europäische Union. Die Investoren wollten daraus ursprünglich eine niederländische Version der US-amerikanischen Alt-Right-lastigen Breitbart News Network machen, verkauften sie aber zum Jahreswechsel 2019/20 nach Tschechien. Als treibende Kräfte erweisen sich der prorussische ukrainische Ex-Politiker, Oligarch und Putin-Vertraute Viktor Medwedtschuk als Finanzier und dessen rechte Hand Artem Martschewskyj. Die Kreml-freundliche Haltung in diesen Kreisen ist seit langem offensichtlich. Die französische Front National (heute Rassemblement National) Marine Le Pens, in den Zehner-Jahren eine der Architektinnen der identitären Fraktion im EU-Parlament, finanziert ihre Wahlkämpfe in jener Zeit mit Millionenkrediten aus Moskau. Die italienische Lega Nord unterzeichnet 2017 ein Kooperationsabkommen mit der Putin-Partei „Einiges Russland“. Ein Jahr zuvor hat die FPÖ mit dieser einen Freundschafts-Vertrag geschlossen. Auch die Identitäre Bewegung Österreich (IBÖ) unterhält gute Beziehungen nach Russland, was im BVT die Anti- Spionage-Abteilung auf den Plan ruft. Martin Sellner, sogenannter Chefideologe der europäischen Identitären, feiert den Kriegsherren Wladimir Putin in einem Interview als „wahren Patrioten und echten Identitären“. Der Niederländer Baudet (Historiker, Jurist, Ultranationalist) erklärt sich 2022 in einer bizarren Video-Botschaft gar zu einem Fan Putins, nennt diesen einen „Helden“, der „gewinnen“ und unbedingt unterstützt werden müsse. Baudets Partei entstammt übrigens einer gleichnamigen EUkritischen Initiative. 2016 verhindert diese per Referendum, dass die Niederlande die Ratifizierung des EU-Assoziationsvertrages mit der Ukraine aufschob. In dessen Vorfeld unterhält Baudet enge Kontakte zu Wladimir Kornilow, Direktor eines von Gazprom finanzierten Propaganda-Instituts. Lesen Sie hierzu den Text „Identitäre Wende: Wie Identitätspolitik entstand“ von Khaled Hakami und Ilja Steffelbauer (15.9.21) auf furche.at. Collage: Alissa Neubauer (unter Verwendung von Bildern von: Getty Images / Sergei Guneyev, Lintao Zhang , Alex Halada) Explosives Netzwerk Sogenannte antiglobalistische Ideologen wie Martin Sellner (Mitte) bauen auf ihre globalen Verbindungen und suchen seit jeher die Nähe zum russischen und chinesischen Regime. Michael Carpenter, im Pentagon damals als Vize-Staatssekretär für Russland und die Ukraine zuständig, wird dem investigativen niederländischen TV-Magazin Zembla später sagen: „Wir verstanden damals nicht, dass dies der Anfang einer Bewegung war, die sich danach bei den US-Wahlen, dem Brexit-Votum und so vielen anderen politischen Prozessen wiederholen würde. Es war das erste Mal, dass wir eine deutliche russische Hand sahen, die den Ausgang einer öffentlichen Wahl beeinflussen wollte.“ Manch einer mag sich in diesen Tagen fragen, wie all dies über Jahre hinweg innerhalb der Europäischen Union kaum jemanden beunruhigen konnte. Womit wir bei Österreichs „Dritten Nationalratspräsidentem“ Norbert Hofer (FPÖ) wären, der sich im April, kurz nach Bekanntwerden der Voice of Europe-Affäre, mit denkbar fadenscheinigen Worten und Statements von besagtem Abkommen distanziert. Dieses sei ein „Papier“, das „keine der beiden Seiten mit Leben gefüllt“ hätten. Zudem habe man russische Politiker, FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE

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