DIE FURCHE · 18 22 Wissen 2. Mai 2024 Von Martin Tauss Tierische Gefühle HUMAN SPIRITS Oktopusse schätzen Schmerzmittel: Im Experiment mieden die Kraken eine Kammer, in der sie eine Injektion mit Essigsäure bekommen hatten. Erhielten die Tiere dort jedoch eine lokale Betäubung mit Lidocain, entwickelten sie sogar eine Vorliebe für diesen Raum. „Bei einer Ratte oder einem Menschen würden wir aus diesem Muster schließen, dass die Säureinjektion Schmerzen verursachte, die durch das Lidocain gelindert wurden“, heißt es in der „New Yorker Erklärung zum Bewusstsein von Tieren“, die kürzlich von einer internationalen Koalition von Wissenschaftlern vorgestellt wurde. Schauplatz war die Konferenz zur „Emerging Science of Animal Consciousness“. „ Allen Kriegen und Krisen zum Trotz: Aus den neuen Befunden zum Bewusstsein bei Tieren erwächst hoffentlich ein höheres zivilisatorisches Niveau. “ AUS DEM FURCHE-NAVIGATOR „Selbst“ ist nicht nur der Mensch Von Klaus M. Stiefel Haben Tiere ein Bewusstsein? Diese Frage ist zuletzt immer wichtiger geworden – in der Biologie, in der Hirn- und Bewusstseinsforschung, und vor allem in der Ethik. In der FURCHE schrieb der Biologe Klaus M. Stiefel am 14.6.2019 über die Wurzeln der Selbsterkenntnis im Tierreich: „Die fantastischen Forschungsarbeiten von Jane Goodall und Kollegen in Tansania haben gezeigt, zu welch hochentwickelten Fähigkeiten Schimpansen in der Lage sind. Auch den Spiegeltest bestehen sie mit Bravour. Alle, die in den 1970er-Jahren als Kinder ferngesehen haben, Stirbt die Pressefreiheit, stirbt die Demokratie. kennen Flipper, den schlauen Delfin. Und auch Flipper erkennt, wenn man ihm einen Punkt auf die Delfinnase malt. Bei diesen Meeressäugetieren ist es etwas schwieriger, einen Spiegeltest durchzuführen, denn die Tiere haben natürlich keine Hände, mit denen sie einen Farbfleck wegwischen können. In diesem Fall drehen und wenden sich die Tiere wiederholt so, dass sie den Farbfleck im Spiegel betrachten können. Auch Elefanten meistern den Spiegeltest. Erneut handelt es sich um Tiere, die ein großes Gehirn und ein komplexes Sozialleben haben. Der ständige Kontakt und Austausch mit Artgenossen sind es wohl erst, die ein „Selbst“ im Kontrast zum „Du“ definieren. Etwas überraschend ist vielleicht, dass auch Krähen sich selbst im Spiegel erkennen können. (...) Unter den Vögeln bestehen auch Elstern, Tauben und Keas (...) den Spiegeltest. Zu aller Überraschung hat auch der in tropischen Korallenriffen beheimatete Putzerfisch den Spiegeltest bestanden.“ DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Das Fazit in diesem Fall: „Wir sollten bereit sein, die gleichen Schlussfolgerungen für einen Oktopus zu ziehen (wie beim Menschen, Anm.).“ Das ist nur eine von vielen Studien, die von der „New Yorker Erklärung“ angeführt werden, um eine immer deutlichere Erkenntnis zu belegen. Demnach gibt es „starke wissenschaftliche Hinweise“, dass nicht nur Vögel und Säugetiere bewusst empfinden, sondern auch viele wirbellose Tiere wie Insekten, Kopffüßer und Krustentiere (siehe auch Seite 23). Bei dieser Diskussion geht es also längst nicht mehr nur um unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, sondern weit hinab auf der Leiter der Evolution. Dass etwa Flusskrebse angstähnliche Zustände verspüren können, zeigten Studien, in denen die Tiere zum Beispiel Elektroschocks ausgesetzt waren. Umgekehrt reagierten die Tiere positiv auf angstlindernde Medikamente. Ein anderes Experiment lässt vermuten, dass Strandkrabben abwägen können, was für sie das geringere Übel ist – Stromschläge oder grelle Beleuchtung. All das weist darauf hin, was man sonst gern verdrängt, nämlich wie sehr Tiere leiden können. Wir sitzen mit ihnen im selben Boot: Sie möchten nicht von ihren Kindern getrennt werden, streben nach Wohlbefinden und einem langen Leben. Mit diesen Befunden aus den Tiefen der Evolution erwächst eine neue Ethik. Und – allen Kriegen und Krisen zum Trotz – hoffentlich ein höheres zivilisatorisches Niveau. Pressefreiheit ist nicht selbstverständlich, und auch wir müssen diesen Grundpfeiler der Demokratie schützen. Nicht nur am 3. Mai, dem internationalen Tag der Pressefreiheit. Mehr auf voez.at DU BIST, WAS DU LIEST.
DIE FURCHE · 18 2. Mai 2024 Wissen 23 Von Martin Tauss Bienen zählen, erkennen Gesichter und nutzen Werkzeuge. Nicht nur in der fabelhaften Welt der Biene Maja, wo Tiere mit menschlichen Eigenschaften lustige Abenteuer erleben – auch in der Welt der wirklichen Bienen, die jedoch so fremdartig ist, dass diese winzigen Tiere den Forschenden zunehmend als „irdische Aliens“ erscheinen: „Tatsächlich unterscheidet sich ihre Wahrnehmung vollkommen von unserer, wird von völlig anderen Sinnesorganen beherrscht, und ihr Leben steht im Zeichen ganz anderer Prioritäten (…)“, schreibt der Biologe Lars Chittka in seinem grandiosen Wissenschaftsbuch „Im Cockpit der Biene“. Darin präsentiert der deutsche Professor an der Queen Mary Universität in London bahnbrechende Studien, die neue Einblicke in die Lebenswelt dieser Insekten eröffnen. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Art von Ritterrüstung, ein außenliegendes Skelett. Darunter keine Haut, Ihre Muskeln kleben direkt an der Rüstung. Unter dieser Schalung befindet sich Ihr größter Trumpf: ein Stachel mit chemischer Waffe, mit der Sie andere Kleintiere töten und sogar Menschen oder Bären große Schmerzen zufügen können. Natürlich halten Sie sich beim Einsatz dieser Waffe zurück. Sie wissen, dass das auch für Sie selbst lebensgefährlich werden könnte. Antennen mit Magnetsinn Bienen sind auch als Individuen hochintelligent. Neue Studien zeigen, dass sie eine Form von Bewusstsein haben. Wie wäre es, in ihre Welt einzutauchen? Irdische Aliens Um zu Ihrer Nahrung zu kommen, müssen Sie oft weit zwischen einzelnen Blüten hin- und herfliegen. Noch dazu, wo es unzählige Konkurrenten gibt, die es auf die gleichen Leckerbissen abgesehen haben. Zum Glück haben Sie Antennen auf dem Kopf, multifunktional wie ein Schweizer Messer: Damit können Sie nicht nur hören und schmecken, sondern auch Magnetfelder fühlen. Souverän navigieren Sie im großräumigen Umfeld. Sie lieben diesen Blick von oben. Von bunten, duftenden Punkten in saftigen Wiesen werden Sie magisch angezogen. Sie wissen instinktiv, dass das köstliche Blüten sind. Sex ist für Sie nicht wichtig – Sie sind ja auch unfruchtbar, Fortpflanzung ist Sache der Königin. Umso lustvoller ist für Sie der sinnliche Kontakt mit den Blüten. Sie tauchen ein in diese „Geschlechtsorgane der Pflanzen“: Ihre Farben, Muster und Düfte sollen Tiere dazu bringen, den Pollen von männlichen auf weibliche Blütenteile zu übertragen – auch über große Distanzen. Sie lassen sich gerne verführen, denn im Gegenzug bekommen Sie köstlichen Nektar. Alles in der Natur hat seinen Preis, auch Ihre Arbeit; heute sagt man „ökologische Dienstleistung“ dazu. Aus der üppigen „Werbung“ der Blumen haben Sie schon gelernt, auf die Qualität der angebotenen „Produkte“ rückzuschließen, so wie Kunden im Supermarkt eine Vorliebe für bestimmte Marken entwickeln. Aber passen Sie nur auf, dass sich Ihre Aufmerksamkeit nicht verliert! In der betörenden Vielfalt an biologischen Signalen müssen Sie effizient sein und die Blumenarten mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis erkennen. Bei jeder Blume gilt es, eine „Knobelbox“ zu öffnen. Ihre Mechanik ist manchmal so kompliziert wie die eines Schlosses. Ganz schön knifflig! Der „Markt der Natur“ ist schnelllebig: Manche Blumen blühen nur kurz. Blüten werden von Konkurrenten geplündert oder der Nektar versiegt, noch bevor die Sonne untergegangen ist. Sie müssen am Ball bleiben und diese Informationen fortlaufend aktualisieren. Das Leben ist kein Honiglecken: Gelegentlich müssen Sie zehn Kilometer fliegen und tausend Blüten aufsuchen, nur um Ihren Magen ein einziges Mal zu füllen. Um einen Teelöffel Honig zu produzieren, braucht es hundert solcher Ausflüge. Bei all diesen Touren sollten Sie die Lage des Nests unbedingt im Gedächtnis behalten – auch wenn die Flugroute noch so gewunden war und Sie durch Windstöße von der bekannten Route abgekommen sind. Im Nest der westlichen Honigbiene ist es stockdunkel. Wie ein fensterloser Wolkenkratzer mit hundert Stockwerken; es wimmelt wie auf einem indischen Hauptbahnhof. Ständig laufen Ihre Artgenossen die Wände rauf und runter. Hier werden unzählige Informationen ausgetauscht – vor allem chemisch (über Pheromone) und elektrostatisch (über Haarzellen). Außerdem gibt es ein seltsames Bewegungsritual, den „Bienentanz“, der bereits von Aristoteles beschrieben wurde: symbolische Bewegungen, die auf die Lage von Blumen hindeuten. Gebannt beobachten Sie eine Tänzerin Foto: Getty Images / Dimijana Gedächtnis Bienen müssen sich an nahrhafte Blumen erinnern und jene meiden, wo Gefahren lauern. Auch müssen sie die Lage ihres Nests im Gedächtnis behalten, auch wenn die Flugroute noch so gewunden war. auf der Wand. Da es dunkel ist, müssen Sie die tanzende Biene berühren, um ihre Botschaft zu entschlüsseln. Dazu legen Sie Ihre Fühler auf den wackelnden Hinterleib der Tänzerin. Schon bald sind Sie im Bilde. All das ist Ihnen nicht gleich zugeflogen. Als Sie noch jung und unerfahren waren – also in den wenigen Tagen vor Ihrem dreiwöchigen Erwachsenenleben –, gingen Sie auf Jungfernflug. Ein gefährliches Abenteuer! Als ob man ein Volksschulkind in der Wildnis aussetzen würde. Bis zu zehn Prozent Ihrer Artgenossen bleiben dabei auf der Strecke; sie verlieren die Orientierung oder werden Opfer von Vögeln oder Spinnen. Um als Biene zu bestehen, braucht es „ Um als Biene zu bestehen, braucht es vor allem eines: Grips. Schließlich gilt es Tag für Tag, komplexe Entscheidungen zu treffen. “ vor allem eines: Grips. Tag für Tag gilt es, komplexe Entscheidungen zu treffen. Ein Bienenhirn besteht aus circa einer Million Nervenzellen. Das ist im Vergleich zum menschlichen Gehirn mit 86 Milliarden bescheiden, doch jede dieser Zellen ist so komplex verzweigt, dass man ihre Struktur mit einer ausgewachsenen Eiche vergleichen könnte, bemerkt Lars Chittka. Der Bienenforscher möchte mit seinem Buch zur Überzeugung beitragen, dass jede einzelne Biene ein faszinierendes Bewusstsein hat und sogar über Metakognition verfügt: also sich zum Beispiel „ihrer Umwelt bewusst ist und Kenntnis von diesem Wissen hat, wozu auch autobiographische Erinnerungen gehören“; oder „dass sie weiß, was sie mit ihren Aktionen bewirkt“. Diese Insekten sind demnach nicht nur intelligent, sondern wohl auch sehr gefühlsbegabt: „Vielleicht besitzen Bienen einzigartige Gefühlszustände, die mit der Aufregung beim Schwärmen einhergehen oder mit der Genugtuung, eine besonders nektarreiche Blumenart zu entdecken (…)“ Grund genug, diese winzigen Lebewesen, denen der Mensch so viel verdankt, umso mehr zu schützen (siehe auch Seite 22). Im Cockpit der Biene (Orig.: The Mind of a Bee) Wie sie denkt, fühlt und Probleme löst Von Lars Chittka Folio-Verlag 2024 321 Seiten, geb., € 26,- KREUZ UND QUER WAS MÄDCHEN WERT SIND – EINE MUTTER IM IRAN DI 7. MAI 22:35 Drei Töchter hat Mina bereits zur Welt gebracht. Doch es muss ein Sohn, ein männlicher Stammhalter der Familie geboren werden: So verlangt es die strenge Tradition im Iran, so verlangt es auch Minas Mann. Als sie neuerlich schwanger wird, droht ihr Mann, sie zu verlassen und sich eine neue Frau zu nehmen, sollte sie keinen Sohn gebären. Ein intimes Porträt über gesellschaftspolitischen Druck und familiäre Zwänge im Iran. religion.ORF.at Furche24_KW18.indd 1 23.04.24 12:54
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE