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DIE FURCHE 30.04.2024

DIE

DIE FURCHE · 18 18 Musik & Theater 2. Mai 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 17 Glanz und Elend In der symbolhaft-überfrachteten Szenerie des „Lohengrin“ in der Wiener Staatsoper stechen einzelne Stimmen glänzend hervor. der springende Punkt der Meldung schon erkennbar werden“, erläuterte Räuscher. Da den Sukkus eines Satzes meist das Verb enthält, ist es möglichst weit nach vorne zu stellen. Räuschers Beispiel: „Im Reichstag wurde der neue Steuergesetzesentwurf abgelehnt mit 256 Stimmen gegen 193“. Die Stimmenverteilung ergibt für die Zuhörerschaft erst Sinn, wenn sie weiß, ob der Gesetzesentwurf angenommen oder abgelehnt wurde. Wobei Räuscher mit dem Subjekt des Satzes eigentlich auch nicht zufrieden sein konnte: Komposita und Substantivierungen waren seinen Stilregeln zufolge zu vermeiden. Besser wäre demgemäß: Entwurf zum neuen Steuergesetz. Der Einfluss der beiden Sprachmeister Ebner und Kraus auf Räuscher ist unverkennbar. Klare Sprache Es ging ihm aber nicht nur um Einfachheit und Klarheit in der Sprache, sondern auch darum, Hörmissverständnisse zu vermeiden. In Paragraf 15 der Stilregeln legte er etwa fest, dass Negierungen mit „kein“ zu vermeiden wären, da der erste Buchstabe leicht überhört werden könne, wenn das Wort auch ohne diesen Laut Sinn ergibt. Er empfahl stattdessen eine Umschreibung mit „nicht“. In diesen Zusammenhang gehört auch das Missverständnis bei den Wahlen in Salzburg. Räuscher warnte vor der Verwechslung klanglich ähnlicher Namen. Er hätte vermutlich dafür plädiert, die Parteinamen auszusprechen, also die Freiheitliche und die Sozialdemokratische Partei. In der Zeitschrift Rufer und Hörer, den Monatsheften für den Rundfunk, erläuterte Josef Räuscher im Mai 1932 noch einmal zusammenfassend seine Stilregeln. Anschaulich schildert er darin, warum es akustisch nur zwei sichere Satzzeichen gibt: Stimme heben und Stimme senken. „Selbstverständlich könnte ein gut angebrachter Doppelpunkt auch zu Gehör gebracht werden“, doch sollte man „den eigentlich nur als Augenwirkung sicheren Eindruck des aufgesperrten Mauls der beiden Punkte“ vermeiden, indem man einen Punkt setzt. Eine inhaltliche Richtlinie, die zwar nicht in die Paragrafen, aber in seine „Zeitungsschau“ Eingang gefunden hat, wird bis heute vom ORF praktiziert: „Erst das Wetter, dann die Politik, die aber minutenlang.“ Kurz nach Erscheinen dieses Artikels war es vorbei mit dem Experimentierfeld Radio. Nach den Reichstagswahlen im Sommer 1932 zog das NSDAP-Mitglied Erich Scholz in die der Dradag übergeordneten Reichsrundfunkgesellschaft ein und beschloss „Leitsätze für die Neure gelung des Rundfunks“. Josef Räuschers Tage in der Dradag waren gezählt. Am 31. Juli schickt er das letzte Mal seine „Politische Zeitungsschau“ in den Äther, danach geht er auf Urlaub. Im September trifft er sich mit Scholz zur Vertragsauflösung. Noch vor dem Jahreswechsel übernimmt Josef Räuscher eine Leitungsfunktion im Berliner Tageblatt. Nach der Machtübernahme der Nazis und darauffolgender Entlassung des renommierten Chefredakteurs Theodor Wolff im März 1933 ist auch für Räuscher Berlin kein Ort des Bleibens mehr. Er geht als Korrespondent nach Paris. Dort erkrankt er 1936 schwer und stirbt am 23. Jänner 1937. Im St. Pöltner Boten erschien einige Tage nach seinem Tod ein Nachruf, in dem es unter anderem hieß: „Nur 48 Jahre alt geworden, hatte er ein reiches Leben hinter sich, das er mit seiner Geistigkeit erfüllte.“ Das Theater an der Wien feiert Arnold Schönberg, Christian Thielemanns fulminantes Dirigat lässt die Szenerie des neuen Staatsopern-„Lohengrin“ geradezu vergessen. Hommage und Thriller Von Walter Dobner Die Zahl 13 war Arnold Schönbergs Schicksal. Am 13. September 1874, einem Sonntag, wurde er in Wien geboren. An einem Dreizehnten, wie er stets befürchtete, ist er auch gestorben: am 13. Juli 1951 in Los Angeles. Diesmal war es allerdings ein Freitag. Was liegt daher näher, den vor 150 Jahren geborenen Erfinder der auch als Dodekaphonie bekannten Zwölftontechnik mit einem sich um diese Zahl 13 drehenden Musiktheaterabend zu gedenken – und zwar nicht mit einer üblichen Hommage, sondern einem revueartigen Gang durch sein Werk. Damit wird auch aufgezeigt, dass der wirkungsmächtigste Komponist des letzten Jahrhunderts zuweilen gleichzeitig an so unterschiedlichen Werken arbeitete, wie den fürs Kabarett erdachten „Brettl-Liedern“ und den in romantischer Gigantomanie schwelgenden „Gurre-Liedern“. Mit Ausschnitten aus beidem beginnt „Freitag, der Dreizehnte“, die Produktion des Musiktheaters an der Wien im klassizistischen Ambiente des in Hernals situierten Reaktor – einst ein beliebtes Unterhaltungsetablissement. Sie wurde unversehens zu einer doppelten Hommage. Denn inmitten der Proben ist, für alle überraschend, der Spiritus Rector und wesentliche Konzeptor dieses perspektivischen Schönberg-Unterfangens, der auch an Wiens Staatsoper hochgeschätzte Dirigent Michael Boder, verstorben. So fungiert nun an seiner Stelle seine Assistentin Anna Sushon mit dem brillanten Klangforum Wien und dem exquisiten Arnold Schoenberg Chor als Reiseführer durch diesen 100- minütigen Abend. Verteilt auf drei Orte – die Bibliothek, das Kino und den großen Saal des Reaktors – werden Ausschnitte aus 16 Werken Schönbergs präsentiert, ergänzt durch das Richard-Strauss-Lied „Zueignung“ und dem auf der Klarinette intonierten „Erbarme dich“ aus Bachs Matthäus-Passion. Es sind mit höchster Sachkenntnis ausgewählte, klug aufeinander abgestimmte Beispiele aus dem Œuvre ei- nes Großen, dem Religion und Politik wiederholt Inspirationsquellen waren – wie seine unvollendet gebliebene Oper „Moses und Aron“, „Kol Nidre“ oder „Ein Überlebender aus Warschau“ beweisen. Auch diesen Opera begegnet man in dieser aufregenden Zusammenschau. Man erfährt auch, dass Schönberg Strauß-Walzer für kleine Besetzungen arrangiert, mit seinem Melodramen-Zyklus „Pierrot lunaire“ ein die Idee der Commedia dell’arte aufgreifendes, avanciertes Nachtstück geschrieben, sich zudem als Kartenspiel-Designer hervorgetan hat. Man wird an diesem „Abend für Arnold Schönberg“ mit einer Vielzahl oft unerwarteter Bilder konfrontiert, die gleichermaßen zum Nachdenken animieren, rätseln lassen oder amüsieren. Daran haben auch zwei „ Man wird an diesem ‚Abend für Arnold Schönberg‘ mit einer Vielzahl oft unerwarteter Bilder konfrontiert. “ glänzende Singschauspielerinnen wesentlichen Anteil: die in einem Karo-Kleid des Fin de Siècle kokett gehüllte Magdalena Anna Hofmann und die virtuos in die Rolle des Pierrot schlüpfende Christine Schäfer. Ereignis Lohengrin Szenenwechsel. Führt uns Richard Wagner mit seinem „Lohengrin“ auf eine falsche Fährte? Steht gar nicht der Gralsritter im Zentrum dieser dreiaktigen romantischen Oper? Handelt es sich vielmehr um einen Thriller mit Elsa im Mittelpunkt, die aus Machtgelüsten zur Mörderin ihres Bruders Gottfried wurde? So jedenfalls will das Regieteam Jossi Wieler/Sergio Morabito diesen in der Staatsoper aufgeführten „Lohengrin“ verstanden wissen. Darüber erfährt man allerdings im Programmheft mehr als auf der Bühne. Dafür hat sich Anna Viebrock augenscheinlich von der Architektur des Wiener Entlastungsgerinnes inspirieren lassen – eine ebenso eigenwillige Entscheidung wie ihre Kostüme. Denn jene suggerieren, dass diese Oper offensichtlich zwischen dem Deutschen Kaiserreich und der Gegenwart spielt. Warum, das bleibt wie so vieles in dieser symbolhaft-überfrachteten Szenerie offen, die schon bei den Salzburger Osterfestspielen 2022, wo sie erstmals zu sehen war, auf alles andere als Zustimmung gestoßen ist. Nicht ganz auf seinem gewohnten Niveau agierte Georg Zeppenfeld als König Heinrich, um einiges mehr an Glanz hätte man sich von Wiens neuem Lohengrin, David Butt Philip, gewünscht. Die im Haus am Ring vielbeschäftigte Malin Byström bringt weder die Bühnenpersönlichkeit noch die vokalen Mittel für die gerade hier als angeblich Böse gezeichnete Elsa mit. Das lässt sich auch mit viel Emphase nicht übertünchen. Solide Martin Gantners Telramund, zu wenig markant der von Attila Mokus gezeichnete, sich zuweilen als Dirigent gerieren müssende Herrufer. Souverän die von Thomas Lang einstudierten Chöre, die auf dieser von Abschrankungen dominierenden Bühne meist ebenso verloren wirken wie die Hauptdarsteller, da sie vielfach auf sich alleine gestellt sind. Dennoch war es eine umjubelte „Lohengrin“-Premiere. Zu verdanken ist dies zum einen Anja Kampe. Sie scherte sich offenkundig nicht um die theoretischen Überlegungen der Regie, verlieh damit – zudem auf höchstem stimmlichem Niveau – der Ortrud genau jenes Profil, das man von dieser fiesen Intrigantin gewohnt ist. Und was Christian Thielemann dem brillanten Staatsopernorchester alles an Nuancen, an Dramatik wie höchst erfüllter Lyrik herausholte, auch darüber lässt sich nur in allerhöchsten Tönen schwärmen. Foto: (c) WienerStaatsoper / MichaelPoehn Freitag, der Dreizehnte MusikTheater an der Wien, 3., 5., 7.5. Sonderprojekt im Reaktor Geblergasse 40, 1170 Wien Lohengrin Wiener Staatsoper, 2., 5., 8.5.

DIE FURCHE · 18 2. Mai 2024 Ausstellung 19 Eine Kunst, die aufruft, die Welt besser zu machen: Zenita Komads Werke im Kulturzentrum Kultum in Graz haben eine eindeutige Botschaft: „Nie wieder Krieg!“ Sie laden zum Mitwirken ein. Der Stift, der Faden, die Schrift Von Brigitte Schwens-Harrant Ist man erst einmal die Treppe im 330 Jahre alten Klostertrakt der Minoriten in den ersten Stock gestiegen, wo sich neu renoviert das Kultumuseum in Graz befindet, empfängt einen zunächst ein Haufen Steine. Trümmer einer Baustelle oder Trümmer nach einer Zerstörung? Steine, die man wütend wirft, oder Steine, die man in respektvollem Erinnern auf Gräber legt? Das Ding an sich sagt ja wenig aus über seine Benützung durch uns Menschen. An der Wand montiert ist ein Objektbild mit Bewegungsmelder und der Aufschrift: „Gott möge ihnen verzeihen bitte, weil ich kann es noch nicht“. Der Satz sitzt – und er hallt nach, während man durch die Räume geht, in denen Zenita Komads Werke gezeigt werden. „Nie wieder Krieg!“ Das ist Titel, Motto und Mission zugleich. Auffällige Dinge, die weiters durch die Ausstellung begleiten, sind der Stift, der Faden, die Schrift. Komads Installationen lassen Worte neu lesen. „Keine Nation wird gegen eine andere das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen“, zitiert eine die Propheten Jesaja und Micha. Und anderswo findet sich – die Buchstaben ebenfalls auf Lehmtafeln, zudem verspannt mit Fäden – der poetisch formulierte Traum: „Es wird Frieden sein unter den Zweigen!“ Auch aus den Grafiken der 1980 in Klagenfurt geborenen Künstlerin ruft die Schrift: „Vergebung ist die größte Rache“, „Aug um Aug und die ganze Welt wird erblinden“ und „Wer schweigt stimmt zu“. Ist so ein Anspruch zu direkt? Aber geht man nicht gerade auch in diesem alten klösterlichen Gemäuer immer auch an Bildern vorbei, aus denen Worte drängen? So verkündet etwa im Stiegenaufgang zum Minoritensaal ein Deckengemälde: „UT SANOR VULNEROR“, also „Um heil zu werden, werde ich verletzt“. Zu denken gab man damals, zu denken gibt Zenita Komad heute. Ihre Installation im ehemaligen Refektorium knüpft an vertraute, alte Emblematik an (und diese zeigt sich darin gleichzeitig erstaunlich zeitgenössisch, weil Meme aller Art die Kultur der Gegenwart prägen). In dem altehrwürdigen Raum brachte sie Porträts an, die wie Ahnenbilder mit den vorhandenen Deckenbildern eine Verbindung eingehen. Sie zeigen Personen, die man mit Friedensideen verbinden kann – Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Yoko Ono, Julian Assange, Emily Greene Balch, Hannah Arendt, Bertrand Russell und viele mehr. Doch die vertraute Ikonografie wird durchbrochen wie die Bilder selbst. Aus Bertha von Suttner greifen Hände mit Puzzleteilen ins Leere – oder eben den Besuchern und Besucherinnen entgegen. Netzwerken für Frieden Aus den Mündern der Porträtierten ragen Stifte. Von diesen spannen sich rote Fäden quer durch den Raum, gehalten werden sie von zwei Händen an den Enden des Raums, die jenen berühmten in Michelangelos „Schöpfung“ in der Sixtinischen Kapelle nachempfunden sind. Nicht nur menschlicher Geist (im Plural) ist hier im Spiel, sondern auch etwas Göttliches. Komad webt in diesem „Friedensbüro“ Porträts und Hände zu einem Netzwerk. Der Tisch mit Beinen aus Friedensbüchern „Kultum: das Kulturzentrum mitten in Graz“ von Brigitte Schwens-Harrant, 2.6.2022, furche.at Foto: KULTUM / Johannes Rauchenberger Friedensbüro Porträts verbunden zu einem wichtigen Gedankennetzwerk präsentiert Zenita Komad in der aktuellen Ausstellung in Graz. lädt Besucherinnen und Besucher ein, sich selbst mit Sätzen an dieser Vernetzung zu beteiligen. Post-its liegen bereit. Ist das alles zuviel des Guten? Oder ist das alles vielleicht des Guten sogar noch zu wenig? Denn gelangt man in jenen Raum, den Thomas Palme gestaltet hat, hört sich das Helle, Zuversichtliche auf. An der Wand gegenüber der Tür hängen zwei Porträts: Jean Améry und Paul Celan, beide überlebten die Schoa, beide haben sich später das Leben genommen. Ihnen gegenüber an der Wand steht bescheiden mit Stift an die Wand geschrieben eine Zeile aus einem Gedicht von Rajzel Zychlinski: „GOT HOT FARBAHALTN SAJN PONEM“. Gott hat verborgen sein Gesicht. Palme thematisiert in seinem Gastbeitrag zu Komads Ausstellung die Schoa, den 7. Oktober 2023 in Israel und die gegenwärtige Situation. Was für ein Kontrapunkt. Dies ist der Raum des Gegenteils. Des Krieges. Des Bösen. Der Bestialität. Die Zeichnungen von Thomas Palme zeigen die Hölle, die Menschen einander auf Erden bereiten. Mit ihrer Ausstellung „Nie wieder Krieg!“ stellt Komad einige Fragen. Etwa jene: Wo stehen wir, wie verhalten wir uns? Ja, merkt man spätestens hier, in diesem Raum: Zenita Komad hat recht. Ohne die eindeutige Entscheidung zum Guten gibt es kein friedliches Zusammenleben. Gegen Bestialität kann man sich nicht halb entscheiden, sondern nur ganz. Kunst als Aufruf, die Welt besser zu machen? Ja. Nichts weniger als das. Zenita Komad: NIE WIEDER KRIEG! KULTUMUSEUM Graz, bis 26.5.2024. kultum.at Auch das Museum moderner Kunst Kärnten in Klagenfurt zeigt zur Zeit Werke von Zenita Komad: Zenita Komad: Der Krieg ist aus! Museum moderner Kunst Kärnten Bis 19. 5. 2024, mmkk.ktn.gv.at WIEDERGELESEN Vom Einzelnen, der niedergetreten wird Von Anton Thuswaldner Ein Sammelband mit Essays über den 1928 geborenen Christian Geissler trug den Titel: „Der Radikale“. Tatsächlich passt der Begriff gut zu Geissler. Er studierte evangelische Theologie, konvertierte zum Katholizismus, um 1962 aus der Kirche auszutreten. Damit begann ein Prozess der Politisierung. 1967 trat er der illegalen KPD bei, verließ sie ein Jahr später wieder. Gemeinsam mit Gudrun Ensslin und Bernward Vesper gab er 1964 eine Anthologie mit Literatur gegen die Atombombe heraus. Zur Roten Armee Fraktion stand er lange mit kritischer Sympathie. In seiner Ostermarschrede 1961 prangerte er die als korrupt bezeichnete Haltung des gewöhnlichen Massemenschen an, der sich Rechtfertigungen für „Massenvernichtung lebendiger Menschen“ ausdenkt. Dagegen führte er den Fall von Claude R. Eatherly an, der als Major der amerikanischen Luftwaffe den Befehl zum Abwurf der ersten Atombombe gab und darüber verrückt wurde. Er rechtfertigte sich später nicht, bekannte sich schuldig und endete „in einem Irrenhaus für Kriegsveteranen“. Mit seinem ersten Roman „Anfrage“ riskierte Geissler 1960 viel, zumal er das Schweigen der bundesrepublikanischen Gesellschaft über die Ermordung der Juden im Nationalsozialismus brach, was in Zeiten des Wirtschaftswunders als unhöflicher Akt aufgenommen wurde. Als „fünfundzwanzigjährigen Halbstarken“ und „überspannten Flegel“ diffamierte man den Verfasser in rechten Kreisen und stellte die Frage, ob er nicht des Landesverrats angeklagt werden sollte. Gleichzeitig war die Zustimmung beachtlich, in seriösen Kritiken erkannte man die Bedeutung des Romans sofort. Dass eine Ausgabe in der DDR umgehend folgte, ist keine Überraschung. Im Mittelpunkt des Romans steht der junge Klaus Köhler, der sich nicht damit abfinden will, dass die Gesellschaft von den Verbrechen der jüngsten Geschichte nichts wissen will. Er trifft auf Personen, die sich rechtfertigen und kein Schuldbewusstsein erkennen lassen. Dass es an Einzelnen liegt, die Wunden nicht verheilen zu lassen, schrieb Geissler in einer Ausgabe des Buches von 1978, denn die sind es, „die unruhig werden, die versuchen, sich zu wehren, die aber, so oder so, schließlich niedergetreten werden“. Geschichte wird nicht abgetan als etwas, was längst abgeschlossen ist. Geissler beobachtet ihr langes Nachwirken und wie sich Verlogenheiten zu falschen Wahrheiten, mit denen es sich bequem leben lässt, umgedeutet werden. Keine Frage, das ist ein Buch, das in unsere Zeit passt, in der Wahrheit ja auch eine verhandelbare Größe geworden ist. Anfrage Roman von Christian Geissler Verbrecher 2023. 344 S., geb., € 30,90

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