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DIE FURCHE 29.12.2024

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DIE FURCHE · 98

DIE FURCHE · 98 Politik/International29. Februar 2024Von Manuela TomicAuf die Frage, wen ersich als künftigen US-Präsidenten wünsche,antwortete RusslandsStaatschef WladimirPutin jüngst: „Biden, er ist erfahrener.Er ist vorhersehbar, erist ein Politiker der alten Schule.“Wie soll man diese Aussage nunverstehen?Klar ist, dass Putin Joe Bidenin den USA mehr schadet, wenner sich für ihn ausspricht. Unddas weiß er. Die US-Amerikanerkönnten es so deuten, dass Bidennicht stark genug wäre, sich gegenPutin zu wehren. Ein gekonnterSchachzug des russischen Diktators.Und dieser kommt DonaldTrump nicht ungelegen. Die Präsidentschaftswahlin den VereinigtenStaaten am 5. November könnteso richtungsweisend sein, wieschon lange nicht. Sie könnte diegesamte europäische Sicherheitsarchitekturverändern. Erst kürzlichdonnerte Trump, Putin sollejene NATO-Länder, die ihren Beitragim Verteidigungsbündnisnicht leisten, gerne angreifen. Unddas ist nur eines seiner unzähligenausufernden Kommentare.Gewinner und VerliererAber wie konnte es überhauptso weit kommen, dass jemand wieTrump schon seine zweite Amtszeitanstrebt? Jemand, der alle Regelnder Ethik und Moral bricht,der höchst unberechenbar ist,frauenverachtend und ein rhetorischerRaufbold?Der US-amerikanische PhilosophMichael J. Sandel versuchtin der Neuauflage seines Buches„Das Unbehagen in der Demokratie“,erschienen bei S. Fischer, daraufeine Antwort zu finden. Erpromovierte an der Oxford-Universitätund lehrt seit den 1980er-Jahren Politische Philosophie ander Harvard University.Sandel ist Mitbegründer derkommunitaristischen Strömung.Lesen Sie auchden Artikel „TaylorSwift: Stars,Stripes und Politik“von MichaelKrassnitzer (21.Februar 2024)auf furche.at.Der US-amerikanische Philosoph Michael J. Sandel übt in seinemBuch „Das Unbehagen in der Demokratie“ scharfe Kritik an denliberalen Eliten. Und das nicht zu Unrecht.„Die kosmopolitischeEthik ist falsch“Er und seine Anhänger forderneine Politik, die sich am Gemeinwohlorientiert und die Zivilgesellschaftstärkt. Sandels Buch, das1996 zum ersten Mal erschienenist, kann man also auch als Manifestdes Kommunitarismus lesen.2023 hat er eine Neuauflage geschrieben.Denn diese schien, soder Autor, notwendig. Er widmetsich darin den Regierungsjahrenvon Bill Clinton, George W. Bushund Barack Obama sowie DonaldTrump und der COVID-19-Pandemiesowie der zunehmenden Globalisierung,in der Sandel denzentralen Grund der heutigen demokratischenSchwäche sieht.„ Für eine gewisse Zeit versprachder Nationalstaat die Antwort,Identität und Selbstbestimmungmiteinander zu verknüpfen.Doch der Staat als politischeGröße hat ausgedient. “„Die Trennung zwischen Gewinnernund Verlierern hat sichjahrzehntelang vertieft – sie hatunsere Politik vergiftet und unsauseinandergebracht“, schreibtSandel. „Seit den 1980er- und1990er-Jahren haben unsereregierenden Eliten ein Projektder neoliberalen Globalisierungvollzogen, das denen an der Spitzeenorme Profite, den meisten arbeitendenMenschen jedoch Jobverlustund stagnierende Löhnebrachte.“ Die Befürworter desSystems meinten, der wachsendeWohlstand werde auch den „Verlierern“zu besseren Lebensbedingungenverhelfen. Doch dieserkam dort nie an, schreibt Sandel.Und nicht nur das Geld schiendie Gesellschaft zunehmend zuspalten. Längst bildeten sich qualifizierteEliten, die mit Unternehmern,Fachkräften in aller Weltmehr gemeinsam hatten als mitden Bürgern ihres eigenen Landes.Und dann kam Trump mit seinem„Make America great again“und stach in die offene Wunde jener,die sich von der vom Marktgetriebenen technokratischenRegierungsweise abgehängt fühlten.Auch wenn Trump in seinerersten Amtszeit hauptsächlichWohlhabenden zu Steuererleichterungenverholfen hat, kann ermit der Wut der „Systemverlierer“auch heute noch punkten.Ein weiterer Erfolgsfaktor istTrumps Rückzug auf nationalstaatlicheGrenzen. Die Mauerzu Mexiko wird, bei aller Problematik,dabei auch als Schutzwallverstanden. Denn, so konstatiertSandel: Die Spaltung der Gesellschaftvollzieht sich vor allemFoto: Canvaräumlich. Eine Gesellschaft warvor der Globalisierung auf einenOrt beschränkt, bewohnt vonMenschen, die über ihre gemeinsamenöffentlichen Belange nachdachten.Heute leben wir, so Sandel, ineiner höchst mobilen kontinentalenGesellschaft von wimmelnderVielfalt. Die Reichen nehmenlängst nicht mehr am öffentlichenLeben teil, sondern schotten sichab, in Privatschulen, Privatkrankenhäusernund so genanntenGated Communities. Wie kommtman da also wieder raus?Guter alter Nationalstaat?Sandel sieht die Lösung in derSelbstreflexion der Kosmopoliten:„Die kosmopolitische Ethikist falsch – nicht, weil sie versichert,wir hätten gegenüber derMenschheit insgesamt gewisseVerpflichtungen, sondern weilsie darauf beharrt, dass die umfassenderenGemeinschaften, indenen wir leben, immer den Vorrangvor den spezielleren habenmüssen.“ Für eine gewisse Zeitversprach der Nationalstaat dieAntwort, Identität und Selbstbestimmungmiteinander zu verknüpfen.Doch der Staat als politischeGröße hat längst ausgedient.Der Anreiz, an Wahlen teilzunehmen,könnte, wenn man sich dasvergegenwärtigt, schwinden oderWahlen könnten künftig nurmehrdazu verwendet werden,um politischen Unmut zu äußern.Doch es braucht sowohl denNationalstaat als auch die Stadtvierteloder andere gemeinschaftlich,vor allem örtlich organisierteInteressensgruppen, um dieDemokratie zu stärken. Diese Interessensgruppenhaben womöglichauch ein gemeinsames identitätsstiftendesNarrativ. Dasbedeutet nicht gleich, dass mandieses rechten Gruppierungenüberlassen muss. Ebenso brauchees bei aller Auslagerung der Fachkräfteein neues würdevolles Arbeiten.Es geht um Anerkennung,nicht nur um finanzielle.Gemeinsame Tugenden„Da Menschen Geschichten erzählendeWesen sind, sind wir verpflichtet,gegen den Trend zur Geschichtslosigkeitaufzubegehren“,schreibt Sandel. Wichtig wäre esalso, Gemeinschaften, die uns inder Welt vom Stadtviertel bis zurNation verorten, als moralisch relevantzu bezeichnen und nicht alsrückwärtsgewandt abzutun.Sandels Fazit, dass Menschen,egal wie globalisiert die Welt ist,auch den Austausch mit ihrer unmittelbarenNachbarschaft brauchenund sich mit jenen sinnstiftendidentifizieren, die in einerähnlichen Region, mit einer ähnlichenSprache aufgewachsensind, ist schlüssig. Die Selbstreflexion,zu der Sandel linksliberaleEliten zwingt, tut gut. Er zeigt auf,dass die absolute Abkehr des Staatesals Gemeinschaftskonstruktauch eine Lücke hinterlassen würde.Obwohl kritisch anzumerkenist, dass auch Sandel mit seinenTheorien über Eliten den Toposvon „denen da oben“ bedient. Dieserwird sowohl von links als auchvon rechts gerne verwendet, umvermeintliche Vereinfachungenzu erzeugen. Aber er bildet auchdie Grundlage für gefährliche Verschwörungstheorien.So oder so:der Vormarsch des neoliberalenIndividualismus lässt sich kaumwegreden.Schon Aristoteles lehrte, dassPolitik nicht allein dazu da sei,Handel und Austausch zu erleichtern,sondern auch um des gutenLebens willen. Bürger zu sein heiße,über die beste Art zu leben zuverhandeln – über die Tugenden,die uns erst zu vollwertigen Menschenmachen. Sandel ist sich sicher:Dieses Ideal müsse wiederbelebtwerden. Putin würde dasnicht gefallen.Das Unbehagen inder DemokratieVon Michael J. Sandel,S. Fischer 2023512 S., geb., € 33,50

DIE FURCHE · 929. Februar 2024Religion9Fliegende Blätternennt ChristianLehnert seineReflexionen undMeditationenzur Apokalypsedes Johannes. Eingeistlich-literarischesMeisterwerk.Von Otto FriedrichDie Passion, genauer:der Prozess Jesu istauch ein Ausgangspunktder – literarischenwie existenziellen– Beschäftigung von ChristianLehnert mit der Apokalypse. Derdeutsche Dichter, ein Poet erstenRanges und evangelischer Pfarrerim Osten Deutschlands, siehtdarin einen Augenblick, in dem Geschichteund Ewigkeit ineinanderfallen,und dieser Augenblick hatdie Gestalt einer krisis – das griechischeWort steht, schreibt Lehnert,für einen Gerichtsprozess.Schon in diesen wenigen Andeutungenwird klar, auf welch sanfte,aber hintergründige, um nicht zusagen hinterfotzige Weise ChristianLehnert die Themen, die Menschenbewegen über die Religion,die Mythologie, die Mystik, aberauch über konkrete Erfahrungins Spiel bringt, sodass der Leseretwa bei der Einführung des Begriffs„Krise“ in den Text noch garnicht ahnt, wie sehr der Autor hier,hinter seinen Reflexionen rundum den Tod Jesu, von den Krisender Gegenwart mitspricht.Geschichts- und ReligionsstundeEs sind Entdeckungen derartigerArt, die Das Haus und dasLamm. Fliegende Blätter zur Apokalypsedes Johannes, Lehnerts neueste– ja was? – Erzählsammlung,Meditationsreihe, Großreflexion,Geschichts- und Religionsstundein Essayform – ausmacht. FliegendeBlätter hat Lehnert schon einmalaufgesammelt – 2017 im BandDer Gott in einer Nuß, wo es um Liturgieund Sprechen von und überGott ging.Die neuen fliegenden Blättersind im Vergleich zu den immerwieder anekdotisch verdichtetenReflexionen über Liturgie sperrigerund auf den ersten Blick wenigerzugänglich. Aber wer sichauf diesen von Lehnert hier vorgelegtenKosmos (das große Wort istbeileibe keine Übertreibung!) einlässt,merkt bald: Hier wird in kleinenErlebnissen wie in großen Gedankengängendie existenzielleNot des Zeitgenossen verhandelt,der sich aktuell so vielen Ratlosigkeitengegenübersieht, dass auchpolitische und gesellschaftlicheGefährdungen unübersehbar sind.Das letzte Buch der christlichenBibel, die Offenbarung des Johannes,die Apokalypse, eignet sich dafürvorzüglich, macht Lehnert aufjeder der gut 250 Seiten seines Buchesdeutlich. Schon seine Übertragungendes griechischen Wortes– Bloßlegung oder Entbergungbeispielsweise – zeigen, dass fürLehnert in den alten Begrifflichkeitenauch die Zeitläufte mitgemeintsind, in welche der Menschheute geworfen ist: ein biblischerText an der Schnittstelle jüdischer,hellenistischer, gnostischer undchristlicher Erfahrungen.In den Worten des Sehers, dersich Johannes nennt, „spricht“Gott, und indem er spricht, bringter hervor , und er sagt, was ist undwas war, was sein soll und was wird.Und weiter: Das schließt alles Künftigemit ein. Mit solchem Argumentist für Lehnert die Apokalypse, diebekanntlich voller, für heutigeZeitgenossen durchaus verstörendeBildgewalt ist, ein Gegenwartswieein Zukunftstext.Zecken als dämonische WesenEs wäre nicht Christian Lehnert,würde er das, was er über die Offenbarungdes Johannes zu sagenhat, nicht in einen ureigenen Rahmen,den er gleichzeitig wiederund wieder durchlöchert, setzen:Der Titel Das Haus und das Lammdeutet eine formale Trennung an:In den 14 mit Haus übertitelten Kapitelnzieht sich das fiktionale Ichdes Buches ob einer Lebenskrisein einen verfallenen Bauernhof imöstlichen Erzgebirge zurück.In naturmystischen Schilderungen,die auch eine poeti sche Beschreibungdes Handwerkens, umdie morschen Balken des Gehöftsmühsam zu sanieren, sein können,erschließt der Dichter eine Welt,die vermodernd vergangen unddennoch gegenwärtig scheint. Immerwieder flackern Erinnerungen,auch erzählte, an die letztenJahre in der DDR oder die Vertreibungder Deutschsprachigen ausdem tschechischen Teil des Erzgebirges1945 auf.Die Naturbeobachtungen changierenzwischen surrealer Komikund realen Phobien. So beschreibtLehnert etwa die Zecken im Fellseines Hundes: Erwischte er sie, sozerbiss er den ledernen Hautsackund leckte sein halbverdautes Blutauf. Der Ich-Erzähler verfällt beidiesen Zecken gar in einen geradezureligiösen Furor: Mitleidlosgalt es sie zu vernichten – ein kategorischerImperativ. Sie schmarotzten,waren widerlich, übertrugengefährliche Keime, sie glichen achtbeinigenDämonen ohne erkennbarenKopf, ein Böses im Wald.Lesen Sie auchdas Interviewmit ChristianLehnert: „Hineinsprechenindas Ungesagte“,vom 1.6.2022,nachzulesen auffurche.at.Seckauer Apokalypse: Engelkapelle in der Abtei Seckau, Fresken mit Motiven aus der Offenbarung des Johannes von Matthias Boeckl (1952–60).Krise – biblischproduktivDoch auch in einem der 13 mitLamm überschriebenen Kapitel,die im Buch jeweils auf einen HausAbschnitt folgen, findet sich eineAbleitung über die Zecke, diemit dem Bild des Wartens in derApokalypse in Korrespondenz gebrachtwird. Für die Zecke ist, soschreibt Lehnert, ihr ausdauerndesTun, die wesentliche Erfüllungihrer Zeit, das Warten. Sie wartet biszur Entkräftung. Sie hält still. IhreSeele liegt auf Lauer, reglos, ein leeresGefäß, Hunger, der Hunger – sieist der Fischer, der nichts fängt, derSammler, dem sich nichts zeigt, derverstummte Fischer, der Prophetohne Gesichte.Man erinnert sich ob solcherNaturmetapher an ein Gottesbild,das Lehnert vor sechs Jahren inDer Gott in einer Nuß entwickelthat: „Gott“, das bedeutet jetzt: Eslauscht und wartet.„ Hier wird in kleinen Erlebnissen wie ingroßen Gedankengängen die existenzielleNot des Zeitgenossen verhandelt, der sichso vielen Ratlosigkeiten gegenübersieht.“Foto: Wikipedi (cc-by-sa 3.013)Siehe auchdie Rezensionzu ChristianLehnerts „DerGott in einer Nuß“ vom 17.8.2017,nachzulesen unter „Ein Zeitgenosseredet von Gott“ auf furche.at.In den Lamm-Kapiteln entfaltetder Autor eine Theologie, Philosophie,aber auch geschichtliche Verortungdes Buches Apokalypse –er führt Thomas Müntzer und dieBauernkriege zur Reformationszeitebenso an wie die aus der Offenbarungentwickelte Drei-Zeiten-Lehredes mittelalterlichen GeschichtstheologenJoachim von Fiore.Es geht ans EingemachteViele von den Dystopikern derWelt bemühten apokalyptischenBilder bringt Lehnert zur Spracheund deutet sie zwischen Landschaftsreflexionenim Erzgebirgeund Weltverbundenheit im Heute.So schreibt er zum Bild des TausendjährigenReiches: Wie kannich es lesen mit dem Wissen desMenschen des einundzwanzigstenJahrhunderts, der zurückschautauf Millionen Hingeschlachtete imNamen innerweltlicher Eschatologien?Und er rekurriert dabei gleichermaßenauf den Kommunismuswie auf die NS-Endlösung.Fast im Vorübergehen gelingtLehnert auch, die Theodizee, dieFrage nach Gott angesichts desLeids zu thematisieren und siegleichzeitig offenzulassen. Auchdas legt er anhand der Apokalypsedes Johannes dar: Solche FliegendenBlätter zu lesen ist ein geistlicheswie ein literarisches Erlebnis.Wer daran zweifelt, dass es indiesem biblischen Buch ans existenziellEingemachte geht, derwird durch Christian Lehnert einesBesseren belehrt. Und wie!VORSORGE& BESTATTUNG11 x in WienVertrauen im Leben,Vertrauen beim Abschied01 361 5000Das Haus unddas LammFliegende Blätterzur Apokalypsedes Johannes.Von ChristianLehnert. Suhrkamp2023, 267 S.,geb, € 27,50www.bestattung-himmelblau.atwien@bestattung-himmelblau.at

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