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DIE FURCHE 29.12.2024

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DIE FURCHE · 96

DIE FURCHE · 96 Politik29. Februar 2024Paul Lendvai über den Tod Alexej Nawalnys, den „Mythos“ der EU-Erweiterung,„Eliten“ und Medien als Feindbilder, das Kurz-Urteil und den Zustand der SPÖ.Das Gespräch führte Doris HelmbergerEr gilt als Doyen des österreichischen,ja europäischen Journalismus:der 1929 in Budapest geboreneund 1957 nach Österreichgeflohene Paul Lendvai. Bis heuteist der mittlerweile 94-Jährige als Leiterdes ORF-Europastudios sowie als Standard-Kolumnistaktiv, zudem erschien vorKurzem sein mittlerweile 21. Buch: „Überdie Heuchelei“ (Zsolnay Verlag). DIE FUR-CHE hat ihn ins Podcast-Studio eingeladen,um über Doppelstandards und politischeScheinheiligkeiten – global und national –zu sprechen.„Die Heuchelei istein Großbetrieb“DIE FURCHE: Herr Lendvai, was bewegt Sieso sehr an der Heuchelei, dass Sie ihr ein eigenesBuch gewidmet haben?Paul Lendvai: Eigentlich wollte ich überdie „falschen Propheten“ in Medien, Politikund Diplomatie schreiben. Die Heucheleiwäre schon davon ein wichtiger Teil gewesen.Der Verlag hat mich dann aber davonüberzeugt, sie in den Titel zu nehmen. AlsVorbereitung habe ich noch fast alle Büchervon Thomas Bernhard neu gelesen. Es ist jaso: Die Heuchelei ist ein Großbetrieb.DIE FURCHE: Ihr Buch beginnt mit den politischenMorden, die den Aufstieg des ehemaligenKGB-Agenten Wladimir Putinsprägen. War der Tod Alexej Nawalnys einweiterer in dieser Reihe – oder zeigt sich darinetwas Neues?Lendvai: Es gibt zwei Ereignisse, die michselbst noch überrascht haben. Das eine ist,dass Nawalny nicht nur durch einen Mordin Fortsetzungen gestorben ist, sonderndass auch seine Leiche lange nicht freigegebenund seine Mutter damit erpresst wurde.Das ist in dieser Art noch nie vorgekommen.Zweitens hat Putin zwar schon vorlangem gesagt, dass er nichts so sehr hasstwie Verräter. Und wir haben auch gesehen,wie abgesprungene GeheimdienstlerProbleme bekommen haben oder BorisNemzow, einst Premierministerkandidatunter Jelzin, in Sichtweite des Kreml umgebrachtwurde. Doch dass zuletzt ein kleinerNiemand, ein Pilot eines russischen Helikopters,der sich in die Ukraine und dannnach Spanien abgesetzt hatte, in seiner Garagemit sechs Schüssen hingerichtet wurdeund dann in Moskau – zu sehen auchin Fernsehsendungen – darüber ein Jubelgeschreiausbricht und man das gleichsamzugibt, das passiert zum ersten Mal. Diesezwei Facetten zeigen die fortgesetzteEntmenschlichung einer Diktatur. Umsobedauerlicher ist, dass viele Politiker imWesten weder Bücher noch längere Essayslesen, in denen die Karriere des russischenPräsidenten und das Agieren des Geheimdienstesgenau beschrieben wurden. Ignoranzist eine große Stütze der Diktatur.ZUR PERSONDer „Neuösterreicher“Am 24. August 1929 als Sohn jüdischer Elternin Budapest geboren, begann Paul Lendvai nachdem Krieg ein Jus-Studium sowie seine Tätigkeitals Journalist. 1953 wurde er verhaftet underhielt drei Jahre Berufsverbot. Im Zuge desUngarn-Aufstands floh er 1957 nach Wien underhielt 1959 die österreichische Staatsbürgerschaft.Von 1960 bis 1987 war Lendvai Auslandskorrespondentfür die Financial Timesin Wien , 1973 gründete er die (2020 eingestellte)Europäische Rundschau, 1982 wurdeer Leiter der ORF-Osteuropa-Redaktion. (dh)Fotos: Carolina FrankDas vollständigeGespräch mitPaul Lendvaihören Sie imFURCHE-Podcast:furche.at/podcastDIE FURCHE: Sie haben 2019 in einem „Standard“-Interviewanlässlich 30 Jahre „Wende“gesagt, dass es Putin nur um Macht geheund keine Ideologie dahinterstehe. Wiepasst das dazu, dass sich Putin – zuletzt ineinem Interview mit dem rechten US-ModeratorTucker Carlson – immer mehr in derRolle des Geschichtelehrers gefällt?Lendvai: Daran, was er bisher gemachthat, ändern auch seine historischen Erklärungennichts – die übrigens auf dem Niveaueines schwachen Volksschullehrerssind. Das ist einfach eine Verpackung. WederPutin noch Xi Jinping noch Viktor Orbánkann ja sagen: Ich möchte einfach ander Macht sein und Luxusresidenzen haben.Man muss das verpacken. Aber dieseVerpackung muss für ihn selbst unddie Bevölkerung überzeugend sein. Wennman bedenkt, dass er schon als Jugendlicherzum KGB wollte und offen sagte, dassder Zerfall der Sowjetunion die größte geopolitischeKatastrophe des 20. Jahrhundertswar, wird verständlich, dass sich alleLänder, in denen russische Minderheitenleben, bedroht fühlen – von Litauen undEstland bis Kasachstan. Die Ukraine isteine Sonderfrage. Russland ist durch denKrieg der Geburtshelfer der ukrainischenNation geworden – auch wenn die Ukrainernoch im Tod zu Russen gewandelt werdensollen.DIE FURCHE: Bleiben wir beim Krieg in derUkraine: Nach dem Tod Nawalnys und derDrohung Donald Trumps, Europa notfallsnicht mehr zu schützen, zeigt sich die EUzwar wieder geschlossener und diskutiertein Paris sogar die Entsendung von Bodentruppen.Doch die Waffen- und Munitionslieferungensind deutlich gesunken. Unddie US-Republikaner blockieren im Senatweiter ein Waffen-Hilfspaket. Hat die Ukrainede facto den Krieg schon verloren?Lendvai: Ich hoffe nicht, aber man kannnichts wissen. Wenn die Ukraine bis Endedes Jahres durchhält und Joe Biden die US-Präsidentenwahl wieder gewinnt, dann seheich Chancen, dass es nicht zur totalenNiederlage kommt. Aber wenn Trump gewähltwird, dann wird es schlimm, nichtnur für die Ukraine, sondern auch für uns.Wenn man sieht, mit welcher Angst undVorsicht die deutsche Regierung agiertund wieviel wertvolle Zeit bislang verlorenwurde, dann sehe ich eine Niederlage aufRaten, die eine echte Gefahr für alle StaatenEuropas bedeuten könnte.„ Leider lesen viele Politiker im Westen keineBücher und Essays, in denen Putins Agierenbeschrieben wurde. Ignoranz ist eine großeStütze der Diktatur.“Kennerund MahnerVon den Nazis verfolgtund von denStalinisten vertrieben,beobachtetPaul Lendvai seit1957 von Österreichaus die politischenEntwicklungen –v.a. in Osteuropa.DIE FURCHE: In Europa wird nun auch eineAufrüstung durch Atomwaffen diskutiert.Kommissionspräsidentin Ursula von derLeyen regt auch einen neuen EU-Verteidigungskommissaran.Lendvai: Das alles wird ein Prüfstein seinfür die Solidarität und Verteidigungsfähigkeitder Europäischen Union – vor allem,wenn man bedenkt, dass die EU aus27 Staaten besteht und es darunter mitViktor Orbán einen echten Putin-Freundgibt. Vergessen wir auch nicht: Es gibtzwei Kriege, nämlich auch einen im NahenOsten, der ebenfalls katastrophaleAuswirkungen hat und die Haltung gegenüberder Ukraine und überhaupt gegenüberDiktaturen beeinflusst. Die Fragewird auch sein, was für Emmanuel Macronund Olaf Scholz wichtiger ist: diese Solidaritätoder die Proteste der eigenen Bauern. Esgibt einen berühmten Sager vom früherenEU-Kommissionspräsidenten Jean-ClaudeJuncker: „Wir alle wissen, was zu tun ist,aber wie werden wir dann gewählt?“ DieFrage der Atombomben ist zwar publikumsträchtig,aber nicht so aktuell. Dass die Franzosen200 oder 300 Atombomben haben, istzwar ein gewisser Schutz. Wichtiger ist aberder Faktor, dass sich die Briten – außerhalbder EU stehend – in der NATO gegenüber derUkraine bisher viel eindeutiger verhaltenhaben als die Franzosen oder Deutschen. Insofernsehe ich noch viele offene Fragen.DIE FURCHE: Geklärt ist nun zumindest derNATO-Beitritt Schwedens. Viktor Orbánhat seinen Widerstand dieser Tage aufgegeben.Wie ordnen Sie das ein?

DIE FURCHE · 929. Februar 2024Politik7Lendvai: Diese völlig unverständlicheVerzögerung hat die NATO in einer kritischenSituation geschwächt und Putins Positiongestärkt. Das Orbán-Regime hat dieGründe dafür nie erklären können. Diesesschändliche Kapitel werden erst künftigeHistoriker aufklären können. UngarnsVerlässlichkeit als NATO-Mitglied bleibtdamit mehr denn je fraglich.DIE FURCHE: Fraglich ist auch ÖsterreichsSicherheitsstrategie. Zwei Jahre nach der„Zeitenwende“ wartet man noch immer aufdie nationale Sicherheitsdoktrin – oderAnsätze einer ernsthaften Neutralitäts-Diskussion.Zugleich kauft man militärischesGerät in Milliardenhöhe. Was gibt Österreichaus Ihrer Sicht Sicherheit?Lendvai: Die Sicherheit Österreichs hängtin erster Linie von der persönlichen Kompetenzund der politischen Sauberkeit derwichtigsten Entscheidungsträger ab. Diekatastrophalen Entscheidungen hinsichtlichder Gasversorgung spiegeln den Einflussder „Putin-Versteher“. Angesichts deraußenpolitischen Linie der FPÖ, die in Umfragenführt, wäre aber eine Neutralitätsdiskussionim Wahljahr für jede Partei politischerSelbstmord. Ich selbst betrachtedie Stärkung der politischen und sozialenStabilität als Grundlage unserer Sicherheit.Die Aufrüstung des Bundesheeres hat nurdann einen Sinn, wenn die besten Fachleutedie Entscheidungen treffen. Es wird eineWeile dauern, bis wir uns vom Ruf des unsicherenKantonisten befreien können. Derheuchlerische Flirt des Bundeskanzlers mitOrbán und Serbiens Präsident AleksandarVučić ebenso wie die sinnlose BrüskierungBulgariens und Rumäniens haben bleibendeSpuren hinterlassen.DIE FURCHE: Apropos Stabilität: Am Westbalkanist sie brüchig. Sie selbst sprechenvon einer „tickenden Zeitbombe“. Umsomehr fordern viele den Start von EU-Beitrittsverhandlungen(vgl. „Lass uns streiten“auf S. 14). Was ist hier Ihre Position?Lendvai: Ich war ein überzeugter Advokatder schnellen EU-Erweiterung, aber rückblickendglaube ich, dass die rasche Aufnahmevon Rumänien, Bulgarien und soweiter ein Fehler war. Denn die EU hat einKonstruktionsproblem: Wenn ein Landerst einmal Mitglied ist, kann man nichtsmehr wirklich an seinem Zustand ändern.Wir sehen das am Beispiel Ungarn undder Debatte über den berühmten Paragraphen7 und die Stimmrechts-Suspendierung.Heute bin ich skeptisch, was eineAufnahme von Bosnien, Albanien oder Serbienbetrifft – und das sollte man offen aussprechenkönnen. Besser wäre es, andereKooperations-Möglichkeiten zu suchen.Diese Erweiterung ist ein Mythos und wirdin Jahrzehnten nicht passieren. Wichtigerist derzeit das Überleben der EuropäischenUnion als funktionierende Gesellschaft.DIE FURCHE: Dass dadurch der EinflussRusslands und Chinas am Westbalkan weitersteigen würde, fürchten Sie nicht?Lendvai: Aber dieser Einfluss ist dochlängst da! Und er kann nur von innen geändertwerden – und nicht durch Phrasen vonaußen. Wobei die wirtschaftlichen SchwierigkeitenChinas ohnehin eine größere Wirkunghaben werden als jede EU-Resolution.DIE FURCHE: Kommen wir zum „Überlebender EU als funktionierende Gesellschaft“:Bei den EU-Wahlen wird allgemein eindeutlicher Rechtsruck erwartet. Ist er nochzu verhindern?Lendvai: Ja, wenn man gute Kandidatennach Brüssel schickt und nicht nur abgetakeltePolitiker, die man zu Hause nichtmehr haben will. Wenn man an den kürzlichverstorbenen Jacques Delors denkt –das waren noch führende Figuren! Auchmit Juncker und jetzt mit Ursula von derLeyen haben wir Glück gehabt. Ich hoffe,dass sie wiedergewählt wird und dieserrechte bzw. rechtsextreme Flügel nicht zustark wird. Man sollte auch den Meinungsumfragennicht zu viel Macht einräumen.DIE FURCHE: Ein zentrales Feindbild derRechtspopulisten sind „das System“ und„die Eliten“. Hat diese Kritik einen wahrenKern?Lendvai: Winston Churchill hat gesagt:„Die Demokratie ist vielleicht ein schlechtesSystem – aber wir haben kein besseres.“ Natürlichgibt es in einer liberalen DemokratieDinge, die nicht funktionieren. Aber Diktaturenhaben noch größere Probleme, weil ihreFähigkeit, Dinge zu korrigieren, null ist.DIE FURCHE: Mit der Kritik der „Eliten“ einhergeht oft Kritik an „den Medien“ und derenAbgehobenheit. Sie selbst haben im Interview2019 über Ihre eigene Professionnoch gesagt: „Wir sind ein Maßstab.“Lendvai: Natürlich gibt es auch Fehler inZeitungen – oder Heuchelei. Und wie beiRichtern oder Polizisten gibt es auch beiJournalisten solche und solche. Ich habe22 Jahre lange für eine der besten Zeitungender Welt, die Financial Times mit Sitz inLondon, gearbeitet. Aber dort gibt es auchdie schlechtesten Zeitungen der Welt. Diegroße Macht ist heute ohnehin vorbei, jetztkönnen Sie, wenn Sie berühmt sind, in densozialen Medien hunderttausende Followerund Followerinnen haben. Dennochhalte ich Qualitätsjournalismus sowie dieTrennung von Fakten und Meinung für eineSäule der liberale Demokratie.„ Solange die ÖVP-Führung vonder Kurz-Mannschaft beeinflusstwird, bleibt sie verwundbar. AberÖsterreichs Zukunft hängt vomÜberleben der ÖVP und SPÖ ab. “DIE FURCHE: Was die Fakten sind, war beimProzess gegen Sebastian Kurz heftig umstritten.Vergangenen Freitag wurde der erin erster Instanz zu acht Monaten Haft bedingtverurteilt – wegen Falschaussage vordem Ibiza-Untersuchungsausschuss. Kurzfühlt sich „unfair“ behandelt, ÖVP-Chef Nehammernimmt das Urteil „zur Kenntnis“:Welche politischen Folgen sehen Sie?Lendvai: Dieses Urteil stellt die Weichenfür die künftigen Prozesse, die den „Kurz-Mythos“ endgültig zerstören werden. Solange die ÖVP-Führung von der Kurz-Mannschaft beraten und beeinflusst wird,bleibt sie politisch verwundbar. Österreichspolitische Zukunft hängt aber vom Überlebender ÖVP und der SPÖ ab. Kärnten, Steiermarkund Tirol sollten den Weg zeigen –nicht Salzburg, Ober- und Niederösterreich.DIE FURCHE: Sie haben Kurz in Ihrem Buchscharf kritisiert und als „Virtuosen der Heuchelei“bezeichnet. Auch im U-Ausschusshat man sich vor allem an ihm und der ÖVPabgearbeitet. Wer profitierte, war freilichdie FPÖ, deren Ibiza-Skandal eigentlicherAuslöser war. War der U-Ausschuss und dieArt, wie er geführt wurde, im Nachhineinbesehen ein Fehler?Lendvai: Das Problem ist die Schnelllebigkeitder Politik – und das Kurzzeitgedächtnisder Menschen wie der Journalisten.Sie können sich nicht mit zwei oderdrei Skandalen gleichzeitig beschäftigen,sondern immer nur mit einem. Ibiza warein Skandal der FPÖ, aber auch einer derÖVP, weil Kurz diese Leute an die Macht gebrachthat. Dass zuletzt nur die ÖVP im Fokusstand, war ungerecht, denn keine politischePartei ist frei von Bestechung oderfaulen Kompromissen. Aber die Art, wiedie ÖVP jetzt dasteht, ist der Preis, den manfür den einstigen strahlenden Helden zahlt.KLARTEXT„Üblicherweisekommen die Leutezu mir“, meintePaul Lendvai beimBetreten der Hainburgerstraße33.Doch für das Podcast-Gesprächmitder FURCHE (imBild mit ChefredakteurinDoris Helmberger)machte ereine Ausnahme.Lesen Sie dazuauf furche.atauch LendvaisText „Ich bin ein,Neuösterreicher‘“(10.6.1965)anlässlich desFalls Borodajkewycz.Hätte, hätte, Lieferkettehätte, Fahrradkette“: Mit dieserRedewendung ironisieren unsere deut-„Hätte,schen Nachbarn verkorkste Situationen,von denen im Nachhinein alle zu wissenglauben, wie es besser gegangen wäre. Wasaber tun bei Problemlagen, die so komplex sind,dass Wunschdenken machbaren Lösungen imWege steht?Der Versuch der EU, mit einem strengen Lieferkettengesetzalle Vorprodukte verpflichtendauf ihre menschenrechtskonforme und umweltgerechteHerstellungsweise zu überprüfen, veranschaulichtbeispielhaft, wie schwierig dieseFrage zu beantworten ist.Denn viele der regulatorischen Vorgaben, mitdenen dem europäischen Wertekanon weltweitGeltung verschafft werden soll, erweisen sichals wirklichkeitsfremd und kostspielig. Mittenin der schwächelnden Konjunktur entstehendaraus Wettbewerbsnachteile und unkalkulierbareRechtsrisiken, die selbst größere Unternehmenüberfordern. Zumal der bisherige europäischeAnsatz dem trügerischen LeitbildDIE FURCHE: Nicht viel besser als die ÖVPsteht die SPÖ derzeit da. Zuletzt hat GewerkschafterJosef Muchitsch die Linie vonParteichef Babler offen kritisiert.Lendvai: Ich glaube, dass Andreas Bablerdie letzte kleine Chance ist für diese Partei.Man kann ja nicht im Jahresrhythmusden Parteivorsitzenden absägen. Und niemandist unbelehrbar. Das Wichtigste fürmich ist die Integrität eines Politikers –und dass er nicht von fremden Mächtenbeeinflusst ist. Das macht auch die FPÖfür mich zu einer Sicherheitsgefahr.DIE FURCHE: Aber nochmals zu Babler:Müsste er nicht in die Mitte rücken, umKanzlerchancen zu haben? Das fordern jaauch andere partei-interne Stimmen..Lendvai: Man soll auch die Gewerkschafternicht zu Göttern machen. Und: Kritik amParteichef sollte man eher bei einem Bierformulieren als in den Medien. Es ist unglaublich,dass diese Partei, die „Freundschaft“predigt, eine solche intriganteSchlangengrube ist.DIE FURCHE: Auch außenpolitisch ist manein unsicherer Kantonist: Christoph Matznetter,SP-Nationalrats-Abgeordneter undObmann des außenpolitischen Ausschusses,forderte nach dem Tod von Nawalny,dass dieser Tod „lückenlos aufgeklärtund bei Fremdverschulden die Täter ausgeforschtund bestraft werden“ müssten.Lendvai: Der Herr Matznetter ist wahrscheinlichein besserer Steuerexperteals Formulierer politischer Stellungnahmen.Man muss auch wissen, dass er beider russisch-österreichischen Freundschaftsgesellschafteine gewisse Rollegespielt hat. Es geht im Fall Nawalny janicht um eine Leiche, die in der Donau gefundenwurde und bei der man den Täternicht weiß. Der Zustand dieser Partei unddie hauptsächliche Beschäftigung mit Intrigenstatt mit den großen politischenFragen, ist eine Katastrophe: für die SPÖselbst, für die Arbeiterbewegung und fürdas gesamte Land.Über die HeucheleiVon Paul Lendvai,Zsolnay 2024176 S., geb., € 24,50einer ever converging unionfolgt, in der suprastaatlichesRecht in jedem der27 Mitgliedsstaaten zu geltenhat. Dass die dafür alsVorbild geltenden USA in der Realität den genauumgekehrten Weg gehen und die Regulierungvon Umweltstandards weitgehend den Bundesstaatenüberlassen, wird dabei übersehen.Es war deshalb durchaus berechtigt, dassDeutschland und Österreich mit ihrer Stimmenthaltungjüngst den Aufschub der Beschlussfassungüber das endgültige Gesetzeswerk bewirkthaben. Damit ist Zeit gewonnen, um statteinzelbetrieblicher Berichtspflichten auf dieSchaffung multilateraler handelspolitischerRegeln auf Ebene der Welthandelsorganisationzu drängen, die zur Einhaltung sozialer undökologischer Standards verpflichten. Denn nurmachbare Lösungswege führen zu wünschenswertenWirklichkeiten.Der Autor ist Ökonom und Publizist.Von Wilfried Stadler

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