DIE FURCHE · 924 Ausstellung29. Februar 2024Von Isabella MarboeDie Erfahrung vonTrauma und Gewalthat keine Worte. Sielässt diejenigen, diesie machen mussten,sprachlos zurück. An den Spurenin Körper und Seele leiden Traumatisiertelebenslang.Die Comic-Zeichnerin Una findetin „Becoming Unbecoming“ein sprechendes Bild dafür: eineleere, weiße Sprechblase wird zurLast, die ihre geknickte Protagonistinwie einen zentnerschwerenSack am Rücken trägt. Auf demBildstreifen darunter jagen dreiWölfe über ein Feld, sie kehrenimmer wieder, ebenso wie dieweiße Blase, die sich im Laufe derGeschichte verändert. Wie dietraumatische Erfahrung, die beijedem „Trigger“ wiederkehrt. Erinnernist ein dynamischer Prozess,Ausgangspunkt für diesenComic war der „Yorkshire Ripper“Peter William Sutcliffe, der in fünfJahren mindestens 13 Frauenermordete.Gewalt ist derzeit allgegenwärtig,nirgendwo ist die Auseinandersetzungmit deren Auswirkungenauf die Psyche besseraufgehoben als im Wiener SigmundFreud Museum. Dort ist inFreuds früheren Wohnräumendie Comic-Ausstellung „Gewalterzählen“ zu sehen. Das MediumComic entstand zeitgleich mitder Psychoanalyse um 1900. Vergleichbarmit den Funktionender Traumarbeit, wie sie Freudals Verschiebung und Verdichtungbeschrieb, können Comicsdie Emotionen ihrer Figuren verfremdetund überzeichnet zumAusdruck bringen.Zeichenstile und HandschriftenGewaltim BildVier Jahre arbeiteteUlli Lust an ihremautobiographischenComic-Epos„Heute ist der letzteTag vom Rest deinesLebens“ ,erschienen imavant-verlag.Lesen Sie auchden Beitrag vonIsabella Marboe:„Architektur-Comics: ‚Wirbesticken hierkeine Kissen‘“,3.3.2021, furche.at.Zeichnungen, Sprechblasen, Texte und die Leerräume dazwischen: DasErzählen von Geschichten im Comic kennt viele Wege, selbst Traumatavermag es darzustellen. Die Comic-Ausstellung „Gewalt erzählen“ imWiener Sigmund Freud Museum zeigt das sehr anschaulich.Geschichtenvom ÜberlebenGewalt ist ein weites Feld, derFokus richtet sich hier auf „Sexualisierteund geschlechterbezogeneGewalt“, „Coming-of-Age“,„Schoa“ sowie „Krieg, Flucht undMigration“. Diese Themen werdenin Graphic Novels, Undergroundund Alternative Comics behandelt.Kuratorin Marina Rauchenbacherund Daniela Finzi wähltenArbeiten von über 30 internationalenKünstlern und Künstlerinnenaus unterschiedlichen Entstehungszeitenvon den 1970erJahren bis heute.„Wir wollten auch eine historischeTiefe aufzeigen“, sagt Rauchenbacher.„Außerdem solltenspezifische Zeichenstile erkennbarund eine Handlung nachvollziehbarsein. Es ging nie darum,einfach etwas zu zeigen. Der Kontextist sehr wichtig.“ Weitere wesentlicheKriterien waren diebesondere Ästhetik und künstlerischeHandschrift, Voyeurismusvermied man, die Comics sindvergrößert dargestellt, sodassman sie auch gut lesen kann. Jedesist mit ein paar charakteristischenSeiten vertreten und durcheinen kurzen Text ergänzt, derdie Geschichte andeutet. Sogarein paar Originalzeichnungenfinden sich hier, „Persepolis“ vonMarjane Satrapi wird im Film gezeigt.Außerdem gibt es einige Comic-Exemplarezum Durchblättern,in denen man sich wirklichverlieren kann.Der Einleitungstext zum KapitelSchoa stellt den kleinen Comic„Mickey au Camp de Gurs“ vor. Imhärtesten aller Internierungslagerdes Vichy-Regimes zeichneteder Lagerinsasse Horst Rosenthal1942 diesen und zwei weitere Comics,bevor er nach Ausschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordetwurde.In diesem Kapitel ist auch dasepochale, zweibändige Meisterwerk„MAUS – A Survivor’s Tale“(1986) von Art Spiegelman, demSohn eines Holocaust-Überlebendenvertreten. Er findet eine Form,das Grauen zu abstrahieren unddoch ganz authentisch zu bleiben.Der Comic überlagert die Zeitebenen,im Gespräch zwischen Vaterund Sohn vermittelt sich die erzählteVergangenheit des polnischenJuden Wladek, der Ghetto,Auschwitz und den Todesmarschüberlebte. Art Spiegelman reflektiertin der Darstellung auch dieUnschärfen der Erinnerung unddie Auswirkungen der Traumataauf die nächste Generation. Judensind als Mäuse, Polen undDeutsche als Schweine und Katzendargestellt. „MAUS“ ist längstein Klassiker und das wohl meistgeleseneComic zum Thema. Esist in seiner Eindringlichkeit bisheute unerreicht.Die Geschichte der Schoa ist damitnoch lange nicht zu Ende erzählt.Eine Generation später reflektierendie österreichischenZeichner Regina Hofer und LeopoldMaurer in ihrem Comic „Insekten“(2019) den familiären„ Gewalt ist ein weites Feld, der Fokus richtet sich hier auf‚Sexualisierte und geschlechterbezogene Gewalt‘, ‚Coming-of-Age‘,‚Schoa‘ sowie ‚Krieg, Flucht und Migration‘. “Bild: Ulli Lust & avant-verlag, 2009Umgang mit der SS-Vergangenheitdes Großvaters. Ihre strengegrafische Ästhetik ist ebensoholzschnittartig reduziert wiedie Sätze des Täters. Hier werdenOpfer zu Stricherllisten.Der Themenkomplex „Sexualisierteund geschlechterbezogeneGewalt“ nimmt am meisten Raumein, er ist gesellschaftlich besondersrelevant. Weibliche Zeichnerinnensind offensichtlich öfterGewalt ausgesetzt: Sie sind deutlichin der Überzahl. Viele habenstarke (auto)biografische Bezüge,was diese Geschichten besonderseindringlich macht. Hier trittauch Aline Kominsky-Crumb, dieFrau des prominenten New YorkerZeichner Robert Crumb, endlichaus dem Schatten ihres Gatten.Ihr Stil ist ähnlich explizitund brachial wie der seine, erpasst zur dargestellten, selbst erlebtenGewalt und macht zugleichdie Ohnmacht des Kindes sichtbar.Die doppelseitige Episodeaus „Love That Bunch“ (1990) berührt.Die Reaktion der kleinenAline auf die beiläufig alltäglicheVergewaltigung der Mutter durchden brutal-proletoid gezeichnetenVater ist der Vorsatz, eine guteSchülerin zu sein.„Heute ist der letzte Tag vomRest deines Lebens“ ist ein Satzaus dem Tagebuch des erlebnishungrigen,ziemlich unbedarftenPunk-Mädchens Ulli, das miteiner nymphomanischen Freundinohne Pass, Geld, zweiterKleidungsgarnitur und Sprachkenntnisvöllig spontan und ahnungslosnach Italien aus- undaufbricht. Die Künstlerin UlliLust erzählt die atemberaubendeGeschichte von sexueller Nötigung,struktureller Gewalt gegenFrauen und einer von toxischemMachismo geprägten, sizilianischenGesellschaft sehr stoischin dem bahnbrechenden Comic„Heute ist der letzte Tag vom Restdeines Lebens (2009).“ Sie stelltedem Museum eine Originalzeichnungdaraus zur Verfügung: Solässt sich vergleichen, wie der Comicbis zum Druck verändert wurde.Die Episode zeigt eine lakonischeVergewaltigung und findetBilder für die ohnmächtige, hilfloseWut danach sowie für die Auflösungder körperlichen Integrität.Die Macht von SpracheDie Künstlerin Anke Feuchtenbergerbeschäftigt sich auch starkmit Kunst von Frauen in der Psychiatrie.Sie holt innere Gebotewie „Du musst gefallen!“, Verbotewie „Pass auf! Du kannst fallen!“und Urteile wie „Nun bist du eingefallenes Mädchen“ – „und jetztein schwerer Fall“ auf ihre Bildflächeund macht so ganz nebenbeidie Macht von Sprache deutlich.Journalistische und fiktionaleAnsätze finden sich vor allem imKapitel „Krieg, Flucht und Migration.“Der US-Amerikaner Joe Saccomachte das Genre der Comic-Reportage populär. Sacco reisteoft in Konfliktgebiete, er ist mitseinem Band „Palestine“ (1993–1995) und „Safe Area Gorazde(2000)“ über den Krieg in Bosnienund Herzegowina vertreten. „ExitWounds“ von Rutu Modan beleuchtetden Nahostkonflikt ausder Perspektive einer jungen israelischenSoldatin, die mit einemjungen Mann nach der Gewissheitsucht, ob dessen Vaterbei einem Anschlag auf die StadtChadera ums Leben kam. Die Comic-KünstlerinKate Evans verarbeitetin dem Comic „Threads“(2017) ihre Erfahrungen als Helferinin den französischen FlüchtlingslagernDunkerque undCalais. Auch der Krieg in der Ukraineist in „Berichte aus der Ukraine.Tagebuch einer Invasion“(2022) von Igort schon vertreten.Jede Geschichte folgt hier ihreneigenen Gesetzmäßigkeiten, findetihre eigene Erzählform undihren eigenen künstlerischenAusdruck. Die Vielfalt ist absolutfaszinierend.Gewalt erzählenEine Comic-AusstellungSigmund Freud MuseumBis 8. April 2024www.freud-museum.at
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