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DIE FURCHE 29.12.2024

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DIE FURCHE · 920

DIE FURCHE · 920 Film29. Februar 2024SPIELFILMBarbarischeIdylleSandra Hüller spieltin „The Zone of Interest“Hedwig Höß,die Ehefrau des Auschwitz-Kommandanten,die in ihrem Heim undGarten so lebt, als gebees die Judenvernichtungnebenan nicht..Greta Grinevičiūtė und Kęstutis Cicėnas indem poetischen Film „Slow“.Ein sensiblesGespür für „Liebe“Zeitgenössisch ist ein Film beiseiner Entstehung in gewisserWeise immer: Unmöglich losgelöstvom Kontext, in dem er erdachtund gemacht wird, egal welchenThemas. In der neuen Arbeit derlitauischen Regisseurin MarijaKavtaradzė geht es dazu noch um einezeitgenössiche Tänzerin: Elena (großartiggespielt und getanzt von GretaGrinevičiūtė) ist eine selbstbewussteund lebensbejahende junge Frau, diein ihrem Job ihre kreative Berufungleben kann. Als sie einen Tanzworkshopfür gehörlose Jugendliche leitet,lernt sie den GebärdendolmetscherDovydas (Kęstutis Cicėnas) kennen –und bei beiden ist es unwiderstehlicheAnziehung auf den ersten Blick.Beide sind Single, einer Beziehungsteht theoretisch nichts im Weg, außer– zumindest vorerst – sie selbst.Dovydas bezeichnet sich als „asexuell“,für Elena komplett unverständlich,wie soll das gehen? Wie die beidenab da zueinander finden – undwarum sie das überhaupt wollen –, arbeitetKavtaradzė authentisch, poetischund mit einem sensiblen Gespürfür „Liebe“ heraus, die sich weder historischverorten noch „zeitgenössisch“deklinieren lässt.Nicht nur eine, sondern sogar zweigroßartige Sexszenen, bei denen „lediglich“getanzt wird, sind umwerfenderAusdruck einer (wohl) stetszu wiederholenden, beidseitigen Entscheidungzweier Personen für etwas,das größer, wichtiger und bestimmenderist als sie selbst. Ein tollerSoundtrack, vorwiegend mit Songsder schwedischen Soulsängerin IryaGmeyner aka April Snow, unterfüttert„Slow“ zusätzlich mit viel Verveund Körpergefühl. (Alexandra Zawia)SlowLT/E/S 2023. Regie: Marija Kavtaradzė,Mit Greta Grinevičiūtė, Kęstutis Cicėnas,Stadtkino, 108 Min.Von Matthias GreulingEs ist ein starker Film,der auch starke Nervenerfordert: „The Zone ofInterest“ von JonathanGlazer spielt in Auschwitz,ohne jemals das Grauen desLagers zu zeigen: Vielmehr spieltsich die Handlung in der Villa desAuschwitz-Kommandaten RudolfHöß und seiner Familie ab, die direktans Lager grenzt. Dort führenHöß (Christian Friedel) und seineFrau (Sandra Hüller) mit den Kindernein scheinbar idyllisches Lebenmit Garten, Pool und schönenFesten. Dass Frau Höß die vomHimmel fallende Asche der verbranntenJuden zum Düngen ihrerPflanzen verwendet, ist dabei nureines der vielen Details, die diesenFilm so unfassbar machen, weil erzeigt, wie man einst dem Massenmordgegenüberstand: Man hatihn als größtmögliche Normalitätzu verstehen versucht.DIE FURCHE: Dieser Film löst Beklemmungenaus. Wie stellt mansich die Dreharbeiten vor?Christian Friedel: Ich glaube, eswar wichtig, dass wir Menschen gebliebensind an dem Filmset. Wirhatten Gespräche über dieses Thema.Das Set war in der Nähe desKonzentrationslagers 1, direkt inder Nähe von dem Original-Haus,wir haben jeden Tag diese Verantwortunggespürt, diesen Ballast derGeschichte, das war sehr intensiv.DIE FURCHE: War es notwendig, denFilm in der Nähe des eigentlichenTatorts zu drehen? Man hätte auchin ein Studio gehen können?Friedel: Jonathan Glazer wollte fastdokumentarisch an dem Stoff forschen,und da war es ihm wichtig,„ Ich fand es wichtig, dass wir vor Ortgedreht haben und nicht in einem Studio,wo man alles schön ausleuchten könnte.Es ging darum, Realitäten zu spüren.“Christian Friedel spielt in Jonathan Glazers Film „The Zone of Interest“den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß. Im FURCHE-Interviewerzählt er, welche Belastung das mit sich brachte.Die Normalitätdes Mordensdass wir vor Ort sind. Vor allem wares wichtig, dass wir uns alle derVerantwortung der Opfer gegenüberbewusst bleiben. Ich merktevon Tag zu Tag, wie sehr die Bedeutung,vor Ort zu sein, zunahm. Ichhabe vor den Dreharbeiten das Lagererstmals besucht, als Mensch,aber auch als Schauspieler, der dieseRolle spielen wird. Ich fand eswichtig, dass wir vor Ort gedrehthaben und nicht in irgendeinemStudio, wo man alles schön ausleuchtenkönnte. Es ging vielmehrdarum, Realitäten zu fühlen oderzu spüren. Das hat sehr geholfen.DIE FURCHE: Der Kniff des Filmsist es, zu zeigen, dass Sie und IhreFilm-Ehefrau Sandra Hüller in größterNormalität versuchen, ihr verbrecherischesWerk zu verrichten.Friedel: Jonathan Glazer hat sechsJahre recherchiert, hat Zeitzeugengetroffen, die im Haus von Höß gearbeitethaben. Wie wir uns verhalten,diese Normalität, das ist eineMischung aus dieser Rechercheund den Erinnerungen. Es ist einFilm über ein Paar, das sich mit diesemSystem arrangiert hat, welchesverantwortlich war für eines derschlimmsten Verbrechen derMenschheitsgeschichte. Und gleichzeitigwaren es Menschen wie duund ich, und ich glaube, um diesesBewusstsein herstellen zu können,dafür war es wichtig, dass unserVerhalten nicht nur in einem historischenKontext stand, sonderndass es nachvollziehbar und fastmodern war.DIE FURCHE: Wenn man sieht, wiedie Asche der verbrannten Totenzum Düngen des Gartens genutztwird, da wird einem schon anders.Friedel: Diese Macht der Bilder istgewaltig. Wenn man den Film mehrmalssieht, entdeckt man in vielenSzenen immer wieder neue, kleinePuzzleteile, die die Dimensiondieses Verbrechens und des Umgangsdamit verdeutlichen.DIE FURCHE: In einer Szene wird RudolfHöß plötzlich von einem star-DOKUMENTARFILMMit Sch#!$e die Welt rettenKomposttoiletten lindern die Wassernot in Afrika – undbei weitem nicht nur dort.Während seiner zehnjährigen Recherche,die Regisseur Rubén Abruña in16 Städte auf vier Kontinenten führte,begleitete ihn stets ein überdimensioniertesEmoji in Sch#!$e-Form. Mit einem Tabu belegt,bleibt dennoch die Frage: Wohin mit allden menschlichen Fäkalien? „Auf die Äcker!“,ist die Antwort des Dokumentarfilmers, denn:„Diese Methode ist seit Jahrtausenden erprobt,welche Beweise brauchen wir noch, dass siefunktioniert?“ Ein Fortspülen in die Kanalisationvergeude eine „nützliche Ressource, diewiederverwendet werden kann“ – und so lautetAbruñas kreislaufwirtschaftliches Motto „Gettingthe poop in the loop“.Laut UNICEF haben mehr als 3,5 MilliardenMenschen keinen Zugang zu hygienischenToiletten. Die „Komposttoilette“ sei die Antwortauf die Düngemittelknappheit vieler afrikanischerLänder, meint Patrick Mavon, der in UgandasHauptstadt Kampala ein „Slum-Forschungslabor“eingerichtet hat. Mit Unterstützung derUS-NGO Give Love entwickelt er ökologische Alternativenzu den vorherrschenden Latrinen.Die Idee der Kompostierung treibt auch denaustralischen Unternehmer Hamish Skermeran, der Musikfestivals rund um die Welt miteiner Batterie von Komposttoiletten ausstattet.An weiteren Best Practices zeigt RegisseurAbruña Wohngruppen in Hamburg und Genf,die aus menschlichen Exkrementen Strom undDünger erzeugen. In Schweden hat ein Ingenieureine Trockentoilette entwickelt, die ausUrin Dünger herstellt.Abruña zeigt sich optimistisch: „Die Wiederverwendungvon Exkrementen bedeutet, dasswir den Verbrauch fossiler Brennstoffe erheblichreduzieren, Trinkwasser sparen, die Umweltschützen, Energie erzeugen, Leben rettenund die Klimakrise abmildern können.“(Rudolf Preyer)Holy ShitD/CH 2023. Regie: Rubén Abruña. Erzähler:Christoph Maria Herbst. Filmdelights. 86 Min.

DIE FURCHE · 929. Februar 2024Film21ken Würgereiz überfallen. Sie würdengerne, aber Sie können garnichts auskotzen. Ist das das Gewissen,das sich hier – letztlich erfolglos– meldet?Friedel: Für mich ist diese Szeneein Hinweis, dass der Körper dieWahrheit spricht und dass dieseWahrheit tief in dem Körper hinterso vielen verschlossenen Türenliegt, weil sie nach hinten verdrängtwurde. Auf einmal rebelliert derKörper, und diese dunkle Seelewill herausbrechen. Um das zuzeigen, half uns vor allem der Ton:Ich glaube, der eigentliche Hauptdarstellerdes Films ist diesesSound-Gewand und das, was mannicht sieht. Das, was wir erzählen,ist auch nicht so wichtig, das sindmanchmal Belanglosigkeiten. Aberdas, was man spürt, was man nichtsieht, das eröffnet eine sehrgruselige Dimension, finde ich.DIE FURCHE: Noch ein Wort zu MichaelHaneke, der sie kinomäßigauf die Landkarte gesetzt hat mit„Das weiße Band“.Friedel: Haneke ist für mich einMentor und nach wie vor bin ichihm unendlich dankbar, denndurch „Das weiße Band“ haben sichsehr viele Türen geöffnet, unter anderemauch für diesen Film. Ichglaube, dass Jonathan Glazer durchHaneke auf mich aufmerksam gewordenist. Ich finde, „Das weißeBand“ hat ja mehrere Verbindungenzu diesem Film. In „Das weißeBand“ sieht man eine Tür zehn Minutenlang und hört, was hinter dieserTür passiert, aber man sieht esnicht. Hier sieht man einen Film anderthalbStunden und es fehlen einemebenso die Bilder zu dem, wasman hört. Noch eine Verbindung:Die Kinder aus „Das weiße Band“könnten die Menschen gewordensein, die wir in „The Zone of Interest“darstellen.The Zone of InterestUSA/GB/PL 2023. Regie: JonathanGlazer. Mit Christian Friedel, SandraHüller. Constantin. 105 Min.Christian Friedel (44) wurde 2009 durchseine Rolle als Dorflehrer in MichaelHanekes „Das weiße Band“ bekannt.Foto: Neil Grabowsky (cc by 2.0)„Dune: Part Two“: Denis Villeneuve kann Frank Herberts Romanendlich filmisch zum Abschluss bringen. Wirklich großes Action-Kino.SciFi-Mythos purDie Sandwürmer,Dutzende Meterlange Kolosse, diesich durch den Sandvon Arrakis wühlen,kommen in „Dune:Part Two“ endlichzum Kino-Einsatz.Von Otto FriedrichDas Problem an Frank Herberts Kultroman„Der Wüstenplanet“ („Dune“) aus1965 ist, dass die mehr als komplexeHandlung eine Herausforderung für jede Filmadaptiondarstellt. Davon weiß David Lynch, dersich 1984 an den Stoff wagte, ein Lied zu singen:Er war mit der schnittmäßig arg verstümmeltenKinoversion völlig unzufrieden.Der Kanadier Denis Villeneuve wollte derartigemFilm-Torso entgehen, als er 2021 „Dune“auf die Leinwand setzte. Und das gelang ihmauch – allerdings um den Preis, dass er im zweieinhalbstündigenEpos gerade die Ausgangssituationder Geschichte abhandeln konnte. Nureine halbe Sache, fand der FURCHE-Kritikervor drei Jahren. Aber – was 2021 noch nichtklar war – auch dieser „halbe Film“ wurde einKassenerfolg, sodass Villeneuve das „To be continued“,mit dem „Dune“ endete, tatsächlichrealisieren konnte. Und so kommt mit „Dune:Part Two“ nun tatsächlich die zweite Hälfte derAtreiden-Saga in die Lichtspieltheater. Und mitdiesen noch einmal gut zweieinhalb Stundenkann das Filmprojekt tatsächlich der Romanvorlagenahekommen.Ein Film spielt alle StückelnOb man allerdings – ohne den Roman vorhergelesen zu haben – alle Nuancen des Films versteht,darf – wie beim ersten Teil – bezweifeltwerden. Wer also „Dune: Part Two“ in allen Facettengenießen will, dem sei die Lektüre derVorlage weiterhin empfohlen.Was Denis Villeneuve in „Dune: Part Two“auf die Kinobühnen stellt, spielt tatsächlichalle Stückeln und wird fürs SciFi-Genre gewissstilbildend bleiben. Und zum zweiten Malmuss Hans Zimmers Musik genannt werden:Dem Deutschen in Hollywood kann zurzeit niemanddas Wasser reichen, ein weiterer Oscar,nach dem für den ersten Teil, sollte schon in derPipeline sein – wie auch die Technikpreise fürSound, Visuelle Effekte, Schnitt, Bauten etc. beiden Oscars 2025 purzeln könnten.Nach der Ermordung seines Vaters Leo Atreideshat sich Sohn Paul bei den Fremen auf demGewürzplaneten Arrakis versteckt und will denVater rächen sowie die herrschenden Harkonnenbesiegen. Die Fremen vermuten in Paul ihrenlang erwarteten Erlöser, und man kann nun dabeizuschauen, ob dem jungen Mann die Führerrolleauch gelingt. Insbesondere die Sandwürmer,die die eigentlichen Herrscher über Arrakissind, kommen in „Dune: Part Two“ endlichauch filmisch zum Einsatz. Paul besteht die ersteMutprobe, indem er lernt, die grauslichen Viecherrichtig zu steuern. Die Liebe zum Fremen-Mädchen Chani, die sich schon im ersten Teilangebahnt hat, bricht sicht nun endgültig Bahn;ob sich diese aber in den politischen Unwägbarkeitenbewährt, die auch bei einem Sieg Paulszum Tragen kommen, ist eine andere Frage.Denis Villeneuve kann bei den Schauspielerneinmal mehr aus dem Vollen schöpfen, diesmalgelingt Timothée Chalamet in der Hauptrolledes Paul die tragende Performance, die auchdie Nuancen zwischen Jüngling und reifemFremen-Führer meistert. Desgleichen kannZendaya als Chani, die diesmal vom Drehbuchverwöhnt wird, auftrumpfen. Von der „Dune“-Mannschaft glänzen wieder Rebecca Ferguson,Javier Bardem, Stellan Skarsgård, neu hinzukommt unter anderem Austin Butler in der Rolledes Harkonnen-Nachfahren Feyd Rautha.Religiöse Motive wie im Roman hat der Filmweiter übernommen. Der Kampf zwischen Gutund Böse sowie um Erlösung bietet Stoff fürdementsprechende Auseinandersetzung. Der„Dune“-Mythos wird so schnell nicht vergehen.Dune – Part TwoUSA 2024. Regie: Denis Villeneuve. Mit TimothéeChalamet, Zendaya, Rebecca Ferguson, Austin Butler,Javier Bardem. Warner. 166 Min.SPIELFILMDie Komplexitätsexueller BegierdePakistan ist ein Land, das ehermit internationalen Negativschlagzeilenals einer lebendigenFilmkultur für Aufmerksamkeitsorgt. Als erster pakistanischer Film,der in Cannes einen Preis gewinnenkonnte, beweist Saim Sadiqs Debüt„Joyland“, dass es auch eine andereSeite dieses Landes gibt.Haider (Ali Junejo) entspricht sogar nicht dem Männlichkeitsidealseiner konservativen Familie: SeineFrau (Rasti Farooq) arbeitet in einemSchönheitssalon während Haidersich um den Haushalt kümmert, undKind ist auch noch keines unterwegs.Als er schließlich einen Job als Background-Tänzerfür die Bühnenshowder Transfrau Biba (Alina Khan) ergattert,muss er es seinem Vater (SalmaanPeerzada) gegenüber geheimhalten. Er verliebt sich in die charismatischeBiba und eine Affäre nimmtihren Lauf, die bald zur Katastropheführen muss.Das Leben in der Stadt Lahore wirdvon der exzellenten Kameraarbeit authentischeingefangen, während diedifferenzierte Figurenzeichnung andie neorealistischen Ausprägungendes indischen Kinos (Satyajit Ray) erinnert.Wenn sich Haiders Frau alsdie eigentlich tragische Figur herausstellt– sobald ihr Mann arbeitet, wirdsie gezwungen, ihren Job aufzugeben– mündet der Film in eine Kritikam pakistanischen Patriarchat, beider sich das westliche (Festival-)Publikumleichttut, sie zu beklatschen.Dennoch muss man „Joyland“ für seinenmutigen Blick auf die Komplexitätsexuellen Begehrens gratulieren,einen Mut, der fast zum Verbotdes Films in Pakistan geführt hätte.(Philip Waldner)JoylandPK/USA 2022. Regie: Saim Sadiq. Mit Ali Junejo,Rasti Farooq, Sarwat Gilani, SalmaanPeerzada, Alina Khan. Filmladen. 126 Min.Alina Khan und Ali Junejo im pakistanischenTrans-Melodram „Joyland“.SA 16. Märzab 14:00 UhrAUF DEN SPUREN DER FREIHEITIgnace Strasfogel, Ludwig van Beethoven, WitoldLutoslawski, Dmitri Schostakowitsch u.a.Eliot Quartett, Kolja Lessing, Lisa Hofmaninger,Martina Spitzer und Manfred Permoser9. MÄRZ–1. APRIL2024 KREMSEin musikalischer Tag in Krems mit Gesprächskonzert,Exkursion & Kammermusik.WWW.IMAGODEI.AT

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