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DIE FURCHE 29.08.2024

DIE

DIE FURCHE · 35 8 Religion 29. August 2024 Die wenigsten haben jemals von Caravaca de la Cruz gehört. Dabei ist es einer der wichtigsten Pilgerorte der katholischen Kirche. Von Manuel Meyer Der letzte Kilometer durch die engen Altstadtgassen von Caravaca de la Cruz fällt Jose Mari Ardanaz Ezcurdia schwer. Auf dem mittelalterlichen Torbogenplatz muss sich der Pilger durch eine Truppe angeheiterter Tempelritter kämpfen. Danach versperrt eine Gruppe feiernder und bewaffneter muslimischer Soldaten den Weg. Die staubige Schotterpiste hinauf zur Festungsanlage, in der sich sein Ziel, die Königliche Basilika des Wahren Kreuzes befindet, ist steil, lang und voller Menschen, die Spalier für das „Weinpferderennen“ stehen. Die „caballos del vino“ sind mit Federn und prachtvoll verzierten Mänteln geschmückt. Beim Pferderennen, das jedes Jahr tausende Besucher anzieht, sprinten vier Männer, die sich an der Seite der Pferde festhalten, mit den Tieren unter Jubelrufen durch die Menschenmenge den Festungshügel hinauf. Der Legende nach hat diese Tradition ihren Ursprung im 13. Jahrhundert. Zusammen mit den prachtvollen Prozessionen und „Kämpfen“ zwischen Christen und Mauren, welche die damaligen Religionskriege in der Region nachspielen, ist das Pferderennen Teil der jährlichen Festlichkeiten, die im Mai und im September zu Ehren des Wahren Kreuzes stattfinden, wegen dem auch Jose Mari nach Caravaca gekommen ist. Bedeutende Reliquie Der Pilger aus dem nordspanischen Pamplona ist begeistert von der Feststimmung. „Gefühlt ist hier jeder als Maure oder Christ verkleidet, in Musikgruppen engagiert. Die Prozessionen gehen bis zwei Uhr morgens. Um neun Uhr sind alle wieder in der ersten Morgenmesse.“ Er ist aber auch ein wenig überwältigt von den Menschenmassen. Während sich tausende Pilger auf dem spanischen Jakobsweg zum Apostelgrab in Santiago de Compostela auf die Füße traten, war er eine Woche lang fast ganz allein auf dem Levante-Pilgerweg im Hinterland der spanischen Mittelmeerküste nach Caravaca de la Cruz unterwegs. Eigentlich verwunderlich, schließlich gehört die mittelalterliche Kleinstadt bei Murcia zu den wichtigsten Wallfahrtsorten der katholischen Kirche. Hier befindet sich in der Basilika eine der weltweit bedeutendsten Reliquien des Christus-Kreuzes. Das doppelarmige Brustkreuz mit zwei Zahnstocher großen Holzsplittern trägt Lesen Sie den Text „Pilgern – tiefe Sehnsucht nach heiligen Orten“ des Theologen Hans Förster (24.6.2010) auf furche.at. „Heiliger Newcomer“ den Namen „Vera Cruz“ (Wahres Kreuz). Neben Rom, Jerusalem, Santiago de Compostela und dem ebenfalls spanischen Santo Toribio de Liébana ist Caravaca de la Cruz deshalb einer der fünf Pilgerorte auf der Welt, der ein Heiliges Jahr feiern darf. In diesem Jahr ist es wieder so weit. Doch kaum jemand weiß das. Der Grund: „Wir sind eine Art Newcomer unter den heiligen Pilgerstätten. Erst 1998 erhielten wir von Papst Johannes Paul II. das Privileg, ab 2003 alle sieben Jahre ein Heiliges Jahr ausrufen zu dürfen“, erklärt Pfarrer Emilio Andrés Sánchez. „ Der Legende nach sollen zwei Engel vom Himmel herabgestiegen sein, um das Lignum Crucis zu übergeben. “ Johannes Paul II. gewährte Caravaca sogar ein Heiliges Jahr in perpetuum. Sprich, Pilger erhalten auch außerhalb des Heiligen Jahres einen vollständigen Sündenerlass, wenn sie mit mindestens drei weiteren Personen zur Reliquie pilgern. Dieses Privileg genießt sonst nur noch Jerusalem. Wie der erste Holzsplitter vom Christus-Kreuz im 13. Jahrhundert nach Caravaca kam, ist nicht ganz klar. Eine irdische Version besagt, der damalige Erzbischof von Jerusalem habe ihn 1231 vor den osmanischen Invasoren in Sicherheit bringen wollen. Die damit beauftragten Tempelritter erreichten Caravaca am 3. Mai 1232 und brachten es dort vor den Mauren auf der Burg in Schutz. Der religiösen Legende nach gelangte das Kreuz mit der Reliquie jedoch in jenem Jahr am 3. Mai durch ein Wunder auf die maurische Festung von Caravaca. Damals herrschte der muslimische König Abu-Zeid im Süden Spaniens. In Caravaca forderte er einen auf der Burg gefangenen Priester namens Chirinos auf, ihm eine christliche Messe zu zeigen. Ohne das Symbol des Heiligen Kreuzes könne er dies nicht tun, entgegnete Chirinos dem maurischen Herrscher. In diesem Moment sollen zwei Engel vom Himmel herabgestiegen sein, um ihm das Lignum Crucis zu geben. Von der wunderbaren Erscheinung überwältigt, ließ sich Abu-Zeid taufen, was auch zum Ende der langen Religionskämpfe zwischen Christen und Mauren in der Region führte, die heuer jedes Jahr in den Mai-Prozessionen nachgespielt werden. Die Nachricht von der Reliquie verbreitete sich schnell. Nachdem die katholischen Könige Spanien 1492 endgültig von den Mauren zurückerobert hatten, zog es Scharen von Pilgern nach Caravaca, das sich nun Caravaca de la Cruz nannte. Es wurden Erzählungen von Wundern bekannt, wie mit dem Kreuz Kranke geheilt, Dürren und Heuschreckenplagen bekämpft wurden. Die Heilige Teresa gründete in Caravaca ein Kloster. Es folgten Jesuiten- und Franziskanerorden. So beeindruckt die Altstadt auch heute noch mit einem prachtvollen Kirchenensemble. Foto: Bildnachweis Prozession Die Menschen drängen sich um die Kreuzreliquie – im Gegensatz zu Wallfahrtsorten wie Santiago de Compostela geht es aber noch beschaulich zu. Vatikan greift ein Nach und nach gerieten Caravaca und seine Pilgerwege aber zusehends in Vergessenheit. Zumal der Jakobsweg im Norden international in Mode kam. Davor ging die Reliquie sogar verloren. Der Holzsplitter, der im doppelarmigen Brustkreuz eingearbeitet war, wurde 1934 gestohlen und tauchte nie wieder auf. „Da die Verehrung des Lignum Crucis jedoch so tief in der Bevölkerung verankert war, schickte uns Papst Pius XII. 1942 zwei neue Splitter vom Jesus-Kreuz aus dem Vatikan“, erklärt Luis Melgarejo Armada, Vorsitzender der Bruderschaft des Heiligen und Wahren Kreuzes. 6000 aktive Mitglieder zählt seine Bruderschaft. Die Zahl ist bezeichnend. Denn Caravaca de la Cruz hat nur knapp 26000 Einwohner. Unter ihnen – ob sie gläubig sind oder nicht – spürt man das einzigartige Verhältnis zu „ihrem“ Kreuz. Seit der Vergabe des Heiligen Jahres versucht Caravaca auch international bekannter zu werden. Pilgerwege werden modernisiert. Ebenfalls der 900 Kilometer lange Camino de la Vera Cruz, der in Nordspanien bei Roncesvalles vom Jakobsweg abzweigt und bis tief in den Süden nach Caravaca führt. Das religiöse Kulturerbe auf dem Weg habe ihn überrascht, erzählt Jose Mari. Die Kirchen in Orihuela, die imposante Kathedrale von Murcia und natürlich das Nonnenkloster in Mula, wo sich neben einem Stück Kordel, mit dem Christus ans Kreuz gebunden wurde, sogar ein Dorn seiner Dornenkrone befindet. Orte großer Spiritualität, die international aber genauso unbekannt seien wie Caravaca de la Cruz. Massenaufläufe wie in Santiago de Compostela oder in Rom sind hier selbst im Heiligen Jahr Fehlanzeige. Zu den Pilgermessen holt ein Geistlicher das doppelarmige Brustkreuz mit den Holzsplittern sogar regelmäßig aus dem Reliquienschrein, damit jeder Gläubige es küssen kann. So etwas ist wahrscheinlich nur noch in Caravaca de la Cruz möglich.

DIE FURCHE · 35 29. August 2024 Gesellschaft 9 Viel ist beim Europäischen Forum vom „Geist von Alpbach“ die Rede, der hier angeblich weht. Was hat es damit auf sich? Eine Suche im „Dorf der Denker“, wo das Forum gerade zum 80. Mal stattfindet. Der Geist im Gasthaus Von Philipp Axmann Der Forumspräsident sprach von ihm in seiner Eröffnungsrede, wir hören von ihm in alten Geschichten früherer Stipendiaten, und der Philosoph Hans Albert berichtete von ihm in der FURCHE: dem „Geist von Alpbach“. Wer vom Europäischen Forum erzählt, der kommt um diesen Geist nicht herum. Wo weht er? Eine Suche im „Dorf der Denker“. Der Geist, um den es in dieser Geschichte geht, ist kein Gespenst. Er wohnt nicht an einem bestimmten Ort, nicht in der dörflichen Kirche, nicht in irgendeinem Schloss. Hören wir uns zuerst einmal bei einigen erfahrenen Stipendiaten um. Die Medizinerin Angela Kogler denkt beim Geist von Alpbach an eine typische Szene aus dem Gasthof Jakober. Die Erinnerung: Sie sitzt um vier Uhr in der Früh mit Menschen am Tisch, die aus fünf Kontinenten kommen, zwischen 20 und 80 Jahre alt sind. Alle bringen ihre persönlichen Ansichten und kulturellen Prägungen mit und diskutieren kontrovers, egal ob bei einem ernsthaften oder einem lockeren Thema: Soll Österreich die Neutralität aufgeben? Macht unsere Weltkarte überhaupt Sinn? Sind Äpfel oder Bananen das bessere Frühstück? Für Kogler ist es der interkulturelle Diskurs, der ein „Feuer“ in ihr auslöst. Der Geist im Gasthaus – das passt auch zur Einschätzung des Physikers Gandolf Feigl, der prägnant zusammenfasst: „Man trifft hier die außergewöhnlichsten Menschen an den gewöhnlichsten Orten.“ Crashkurs im Horizont-Erweitern Foto: picturedesk.com / ÖNB-Bildarchiv / United States Information Servic Für den Maschinenbauer Michael Huber, den Präsidenten der Alpbach-Initativgruppe Graz-Leoben, bedeutet der Geist, sich spontan auf Neues einzulassen: „Alpbach ist ein Crashkurs im Horizonterweitern.“ Da stimmt auch der Volkswirt Martin Schlesinger zu: „Es geht in Alpbach um Offenheit.“ Er spricht dabei auch die hier weniger präsenten Hierarchien an. Man könne jeden prominenten Politiker oder Wissenschafter ansprechen, und die allermeisten nähmen sich Zeit für einen. „Man sitzt mit einem Wirtschaftsnobelpreisträger am eigenen Esstisch im Apartment und geht mit einem berühmten Philosophen spontan auf einen Kaffee.“ Was dem Geist widerspricht? „Sein Gift ist das Dogma; in Alpbach muss man offen sein, in seinen Ansichten ganz fundamental erschüttert zu werden.“ Alpbacher Diskussionen würden im Besonderen ausmachen, dass sie mehr in die Tiefe gingen als etwa Tagespolitik und tägliche Berichterstattung: „Man arbeitet sich hier zum Ursprung, zu den Prämissen von Argumenten und Ableitungen zurück.“ Das freilich funktioniert nicht in jedem Veranstaltungsformat gleich gut. Auf der Suche nach dem Geist begebe ich mich ins Kongresszentrum. Zuerst lausche ich einem Panel auf der größten Bühne, hunderte sind im Saal. Jeder der acht Menschen, die in den nächsten zwei Stunden sprechen sollen, hat nur wenige Minuten Zeit, seine Meinung kundzutun. Eine aktive deutsche Politikerin und ein deutscher Minister außer Dienst kommen über das Eingangsstatement gar nicht mehr hinaus, bekommen aus Zeitgründen keine einzige Frage gestellt. Das soll der berühmte Alpbacher Diskurs sein? Das tiefe Argumente? Etwas verwundert begebe ich mich am nächsten Tag in einen „Chat“. Bei diesem Format sitzen die Diskutanten mit dem Publikum in einem Sesselkreis. Einige Zuhörer sitzen auch auf Couches, die im Raum verteilt sind. Unter anderem diskutieren hier Wifo-Direktor Gabriel Felbermayr und der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz. Es geht um das Thema „Ist finanzielle Ungleichheit unausweichlich?“. Es entspinnt sich tatsächlich eine kontroverse Debatte. Publikumsfragen haben Platz, offenbaren inhaltliche Differenzen, lassen die Ökonomen in die Tiefe gehen. Ganz am Rand des Saals sitzt am Boden im Schneidersitz Cédric Villani. Der Franzose hat die Fields-Medaille gewonnen, den „Nobelpreis der Mathematik“. Der weltberühmte Wissenschafter sitzt in der Ecke und lauscht den Experten eines anderen Fachs. Wir kommen dem Geist näher. Als Regel lässt sich festhalten: Je kleiner das Veranstaltungsformat, desto tiefer die Diskussion, desto stärker weht der Geist. Nicht umsonst sind in Alpbach gemeinsame Wanderungen und die sogenannten Kamingespräche besonders beliebt. DOSSIER AUF FURCHE.AT „ Das Gift des Alpbacher Spirits ist das Dogma: Hier muss man offen sein, in seinen Ansichten ganz fundamental erschüttert zu werden. “ Von Kulinarik bis Wanderung DIE FURCHE und das Europäische Forum Alpbach teilen einen ähnlichen Geist: Beide wurden 1945 gegründet, um am intellektuellen Wiederaufbau und an der Versöhnung Österreichs und Europas mitzuwirken. Dieses Jahr ist DIE FURCHE die gesamten zwei Forumswochen vor Ort im „Dorf der Denker“. Auf furche.at versorgen wir Sie täglich mit neuen Geschichten. Gebündelt finden Sie diese im Dossier „Alpbach“, zu dem Sie über den QR-Code rechts gelangen. Bisher erschienen sind etwa der Siegertext des Redewettbewerbs, Tipps zur Alpbacher Kulinarik und eine Reportage von der Sonnenaufgangswanderung. (ax) Im Gespräch war man in Alpbach schon immer: im Bild der Religionswissenschafter und Klassische Philologe Karl Kerényi mit Teilnehmern bei der Eröffnung 1952. Wirklich frei denken Um die Antwort eines Alpbach- Erfahrenen einzuholen, treffe ich den Philosophen Josef Mitterer. Er ist Professor in Ruhestand der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und sitzt im wissenschaftlichen Beirat des Forums Alpbach. Auf der Terrasse des Berghof stimmt er zu: „Hier geht es um freies Denken jenseits der Zwänge der Verschulung, unter denen Universitäten leiden.“ Er erinnert in diesem Zusammenhang da ran, dass das Forum eigentlich als die „Internationalen Hochschulwochen des Österreichischen Colleges“ gegründet wurde. Entsprechend den vorher angesprochenen Unterschieden zwischen Panels und kleineren Formaten meint Mitterer, man spüre den Geist am stärksten in der Seminarwoche, in der jeweils 20 bis 30 Menschen fünf Tage lang an einem Thema arbeiten. In der zweiten Woche besucht auch die politische und wirtschaftliche Prominenz das Forum. Mit ihrer Ankunft verschwinde der Geist zwar nicht, doch am Leben halten würden ihn die jungen Leute, so Mitterer. Gerade für internationale Stipendiaten sei Alpbach ein „Weltöffner“, der Startpunkt erfolgreicher Karrieren in Diplomatie und Politik. Auch derart langfristige Auswirkungen auf den Einzelnen rechnet er dem Geist zu: „Manchmal spürt man ihn erst, wenn man das Bergdorf längst verlassen hat.“ Der Geist von Alpbach weht, wo zwei oder drei zusammenkommen und völlig frei und offen diskutieren. Im Gasthaus, am Küchentisch. Wo zwar jeder seine Ideologie mitbringt, aber niemand an einem Dogma hängt. Wo Hierarchien dem besseren Argument untergeordnet werden, wo der Weltklassemathematiker am Boden sitzt und devot dem Gespräch lauscht. Er weht an den gewöhnlichsten Orten, an denen die außergewöhnlichsten Leute zusammenkommen. Lesen Sie den Alpbach- Rückblick des Philosophen und jahrzehntelangen Forumbesuchers Hans Albert unter dem Titel „Der Geist von Alpbach“ vom 14. August 2003 auf furche.at. VORSORGE & BESTATTUNG 11 x in Wien Vertrauen im Leben, Vertrauen beim Abschied 01 361 5000 www.bestattung-himmelblau.at wien@bestattung-himmelblau.at

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