DIE FURCHE · 35 6 International 29. August 2024 85 Jahre nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen soll das in Berlin neu entstehende Deutsch- Polnische Haus ein neues Kapitel in der Beziehung der beiden Staaten aufschlagen. Gemeinsam gedenken Am 19. April 2023 gedachten die Staatspräsidenten Steinmeier, Duda und Herzog (v. li.) des 80. Jahrestags des Aufstands im Warschauer Ghetto 1943. Von Jan Opielka Es ist ein weiterer Jahrestag im Kontext von Krieg, ein weiteres blutgetränktes Erinnerungsdatum, dessen offizielles Begehen in Polen aber durchaus Unbehagen wecken kann. Denn der 85. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen steht im Schatten des Krieges Russlands in der Ukraine – und der polnischen Ängste vor einem Krieg an der Weichsel. Auch daher gibt Polen derzeit mit über vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts so viel für Rüstung und Verteidigung aus wie kein anderer NATO-Staat. Es übertrifft die NATO-Zielvorgabe um das Doppelte und will es dauerhaft tun – ganz so, als würde das Land im Kriegsfall auf sich allein gestellt sein und nicht auf Beistand seiner Bündnispartner zählen können. Ganz so, als könnte es verraten werden, wie einst nach dem 1. September 1939, als Frankreich und Großbritannien trotz vorheriger Sicherheitszusagen Polen nicht zu Hilfe kamen. Der „Verrat des Westens“, als den viele Polinnen und Polen den damaligen „Sitzkrieg“ an der deutschen Westfront und das Nichteingreifen westlicher Staaten immer noch bezeichnen, habe auch dem sowjetischen Überfall auf Polen am 17. September 1939 den Weg geebnet, schreibt der polnische Historiker Wojciech Włodarkiewicz. Gedenk- und Koordinierungsort In Berlin indes könnten diese Kontexte und die folgenden Verbrechen der Deutschen (und Sow jets) in Polen – aber auch die dadurch bedingten, bis heute wirkenden Traumata – in den kommenden Jahren eine neue, wirkmächtige Plattform finden. Denn im Herzen der deutschen Hauptstadt wird ein Deutsch-Polnisches Haus (DPH) entstehen, ein Erinnerungs- und Begegnungsort samt großem Denkmal. Das Foto: Getty Images / Bundesregierung / Sandra Steins Statt Reparationen tiefere Erinnerung Bundeskabinett billigte im Juni dieses Jahres den von einem Fachteam erstellten Realisierungsplan für das DPH, das schon seit vielen Jahren im Gespräch war. Der Deutsche Bundestag dürfte in den kommenden Monaten seinen Segen geben. Das Deutsch-Polnische Haus soll einen physischen Raum in Berlin erhalten – bislang ist es ein „Haus ohne Ort“ –, in Form eines Erinnerungs- und Gedenkortes für die Verbrechen der Deutschen in und an Polen. Es soll aber auch die weiter gefasste deutsch-polnische Geschichte zeigen und Koordinierungsort für Projekte jenseits der deutschen Hauptstadt werden, in Deutschland wie in Polen. Der österreichische Historiker Robert Parzer ist einer der Verantwortlichen für die Erstellung des Konzepts. Gemeinsam mit der polnischstämmigen Historikerin Agnieszka Wierzcholska arbeitet er in der Stabsstelle des DPH, die bislang bei der Stiftung für die ermordeten Juden Europas angesiedelt ist. Parzer, der viele Jahre zur Geschichte des Nationalsozialismus forschte, wirkt voller Tatendrang. Womöglich daher, weil er an einem Projekt arbeitet, das von Dauer sein dürfte, auch wenn die Eröffnung des Hauses erst für 2033 „ Die Idee eines Deutsch-Polnischen Hauses entstand trotz oder auch wegen der Eiszeit während der PiS-Regierung 2015 bis 2023. “ avisiert und der genaue Standort in Berlin noch nicht klar ist. „Die Grundidee des Hauses heißt ‚Erinnern – Begegnen – Verstehen‘. Letzteres vor allem auch deshalb, weil das Wissen in Deutschland ob der deutsch-polnischen Geschichte sowie der Verbrechen der Deutschen in Polen während des Zweiten Weltkrieges relativ gering ist“, erklärt Parzer im FURCHE-Gespräch. Bereits jetzt bestehe eine Partnerschaft mit der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN): Sechs thematische Expertenforen haben stattgefunden, an denen etwa 60 Personen mitwirkten – paritätisch besetzt mit Fachleuten aus Polen und Deutschland. Wichtiger Partner in Deutschland ist dabei das Deutsche Polen-Institut (DPI) in Darmstadt. Die Idee eines Deutsch-Polnischen Hauses entstand trotz oder auch wegen der Eiszeit, die zwi Lesen Sie auf furche.at Otmar Lahodynskys Text „Marek Edelman und das Warschauer Ghetto: ,Nicht mit gesenktem Kopf sterben‘“ (12.4.2023). schen Deutschland und Polen in der Zeit der Regierung der rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zwischen 2015 und 2023 herrschte. Diese war nicht nur durch unterschiedliche, tagesaktuelle politische Interessen oder durch die Attacken der PiS auf den polnischen Rechtsstaat sowie die EU bedingt. Streit schwelte auch um die Geschichte – vor allem um die Frage von Reparationsforderungen, die die PiS auf Basis der Arbeit einer von ihr eingesetzten Kommission gegenüber Berlin stellte. Umgerechnet rund 1,3 Billionen Euro wollte Warschau von Deutschland erhalten. Es war zwar ein unrealistischer Schachzug. Doch die geschätzte Summe an Schäden – Todesopfer, Zwangsarbeit, Zerstörung des Landes, Raub von Kulturgütern – war als solche keineswegs abwegig. Berlins Nein zu Helfen Sie Mädchen, sich zu entfalten. Mit einer Patenschaft Mädchenrechte stärken. Werden Sie Pat:in! plan-international.at
DIE FURCHE · 35 29. August 2024 International 7 Reparationsforderungen beruhte letztlich einzig darauf, dass Polen noch als kommunistische Volksrepublik in den 1950er Jahren auf Reparationen verzichtet habe. Mit der Machtübernahme durch die proeuropäische Regierung Donald Tusks im Dezember 2023 sind diese Forderungen zwar ad acta gelegt. Warschau wünscht sich aber Formen der Wiedergutmachung. Bei einem Treffen mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Berlin im März dieses Jahres sagte Tusk, in der Frage der moralischen und materiellen Wiedergutmachung „habe Deutschland noch etwas zu tun“. Dies solle aber nicht so geschehen, dass es „in Zukunft zum Verhängnis“ werde. Anfang Juli sicherte Scholz in Warschau zu, einen Fonds für die noch lebenden polnischen Opfer deutscher Verbrechen aufzulegen – doch die später in inoffiziellen Gesprächen zugesagte Summe von insgesamt 200 Millionen Euro hat Tusk laut Medienberichten zurückgewiesen. Sie sei ihm zu gering, auch angesichts der deutschen Zahlungen an Israel. Wie es mit dieser Entschädigungsleistung weitergehen wird, ist bislang noch offen. „Es geht um Anerkennung“ Aus Sicht Berlins ist auch das Deutsche-Polnische Haus ein Teil der Wiedergutmachung, auch wenn es Historiker Robert Parzer anders sieht. „Ich sehe das Haus nicht als Teil der Wiedergutmachung, denn die ist unmöglich. Es geht vielmehr um Anerkennung. Viele Menschen in Polen wünschen sich, dass die Deutschen endlich anerkennen, wie die Polen und Polinnen gelitten, wofür sie gekämpft und was sie erreicht haben.“ Damit meint er etwa die polnische Solidarność- Bewegung, die 1980 als Gewerkschaft entstand und den Weg auch für den späteren deutschen Mauer fall geebnet habe. Dass in Deutschland die Wahrnehmung Polens und auch der deutschen Verbrechen in Polen während des Zweiten Weltkrieges wenig präsent ist, darüber berichten auch andere in Berlin lebende Polinnen und Polen. Anna Krenz aus dem westpolnischen Poznań etwa lebt hier seit 2003. Die freie Künstlerin, Architektin und Autorin beschäftigt sich in ihrer Kunst seit vielen Jahren mit den polnisch-deutschen Beziehungen und setzt sich für Erinnerungskultur ein, organisiert aber auch politische Protestaktionen. Eines ihrer neuesten Projekte ist die temporäre Ausstellung „Freiheit, Gleichheit, Solidarność. Polnische Standpunkte in Berlin“ im Berliner Humboldt Forum, die Berlin als Schauplatz polnischer Freiheitskämpfe und des Widerstands gegen Diskriminierung zeigt. Wissenslücken schließen Das geplante Deutsch-Polnische Haus sieht Krenz positiv: „Es ist gut, dass eine solche öffentliche Institution entsteht, die unsere Arbeit an der Erinnerungskultur um das Gedenken an polnische Opfer in Berlin bereichern kann.“ Denn in Deutschland gebe es große Wissenslücken, was Polen und die deutschen Verbrechen dort betreffe. „Das neue Haus könnte uns helfen, einen Teil dieser Lücke zu schließen. Was die Initiatoren des Hauses planen, machen wir Künstlerinnen und Aktivistinnen schon seit Langem – kulturelle Aktivitäten, die an die polnischen Opfer des NS-Regimes und auch an die Heldinnen des Widerstands erinnern. Wir bemühen uns, sie lebendig zu halten und sie „ Die Verantwortung für die deutschen Verbrechen liegt natürlich nicht bei der heutigen jüngeren Generation des Landes, aber die Verantwortung für das historische Bewusstsein sehr wohl. “ mit der Gegenwart zu verknüpfen, damit sie nicht nur ein weiteres historisches Werk für geschlossene wissenschaftliche Kreise wird.“ Krenz bezieht sich auf eines ihrer Projekte der letzten Jahre: das Gedenken an Irena Bobowska, eine polnische Dichterin und Widerstandskämpferin aus Poznań, die im Alter von 22 Jahren von den Nazis für ihre konspirative Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs enthauptet wurde. Doch laut Krenz sollte die Erinnerungskultur, die über Jahre von der regierenden PiS-Partei vereinnahmt wurde, nun nicht von deutschen wissenschaftlichen, historischen oder politischen Institutionen von oben herab vereinnahmt werden. Basisnahe und künstlerische Projekte zum Gedenken an die polnischen Opfer sollten von staatlichen Institutionen oder dem Bundestag nicht igno riert werden. Denn, so sagt KLARTEXT Heißer Zeitvertreib Immer wieder werden wir auf die Standardkrisen aufmerksam gemacht, auf Klima, Migration, Inflation, Autoritarismus, Digitales, Krieg. Große Ereignisse: Gaza und Harris. Doch was beherrscht die Medien, besonders zur Sommerzeit, mit ihren Ankündigungen, News und Interviews? Die Krise der Langeweile. Ein gewaltiges Business hat sich aufgetan, für unterschiedliche Milieus und Verstehenshorizonte. Von der Fußballweltmeisterschaft fast übergangslos in die Olympiade. Volksfeste, Kirtage und Pop-Events sonder Zahl, von Nova Rock bis Donauinsel, von Poolbar bis Frequency, von Gols bis Wieselburg, von Coldplay bis Swift. Die Mörbischer Spielereien, die steinerne Aida, der erneuerte Semmering. Salzburg und Bregenz, selbstverständlich. Events vom Wörthersee bis Kufstein. Melissa N. und Christina S. Die Kinder müssen beschäftigt werden, deshalb Kurse und Camps an allen Ecken und Enden. Und tausend andere Angebote. Der erste Grund für die Explosion der Volksvergnügungen liegt darin, dass zwar jeder nach Individualität Mehr dazu lesen Sie im Beitrag „1,3 Billionen: Polen stellt Reparationsforderungen“ (21.9.2022) von O. Lahodynsky auf furche.at. sie, „die Geschichte gehört uns allen“, und in der deutschen offiziellen historischen Erzählung über den Zweiten Weltkrieg sollte die Stimme der Polinnen und Polen, einschließlich polnischer Migrantinnen und Migranten, zu hören sein, damit die Geschichte nicht einseitig bleibt. Viele Polinnen und Polen – und auch Deutsche – wirken in Berlin auch in der Deutsch-Polnischen Gesellschaft (DPG), einer von knapp 50 solchen Gesellschaften, die es in vielen deutschen Städten gibt. Anita Baranowska-Koch ist Vorsitzende der DPG, und auch sie ist überaus aktiv. Zuletzt initiierte sie etwa gemeinsam mit Jakob Reinhold das Projekt „Jenseits der Mauern, Geschichten verbinden“, bei dem Jugendliche und junge Erwachsene aus Warschau und Berlin an der Spree in Workshops eine Ausstellung mitentwickelt haben, die an den Warschauer Aufstand von 1944 erinnern soll. Das Deutsch-Polnische Haus sieht Baranowska-Koch sehr positiv. „Wiedergutmachung im ethischen Sinne bedeutet, sich vor den Opfern zu verneigen. Die Verantwortung für die deutschen Verbrechen liegt natürlich nicht bei der heutigen jüngeren Generation des Landes, aber die Verantwortung für das historische Bewusstsein sehr wohl. Wenn die jungen Deutschen jetzt darüber reden, heißt das vor allem, dass sie die Verantwortung dafür übernehmen, dass dies nicht vergessen wird und nie wieder geschieht.“ Auch das geplante Denkmal sei wichtig, auch für sie persönlich. „Mein Großvater ist 1941 in Auschwitz als polnischer Offizier ums Leben gekommen. Ich würde gerne hier, in Berlin, für ihn einen Kranz niederlegen, denn er hat kein Grab. Wie so ungezählt viele andere auch.“ und Authentizität strebt, aber zugleich die Sehnsucht nach kollektiver Verschmelzung, nach dem Sich-selbst-Vergessen in der Masse, besteht. Es handelt sich zweitens in manchen Fällen um „Quasi-Religionen“: Dass eine banale Popkonzertabsage Anhängerinnen beinahe in Psychobetreuungsfälle verwandelt, kann im Vokabular von Sakralisierung, Erlösungssehnsucht und Exaltationsenttäuschung betrachtet werden. Drittens die von manchen geschilderte dramatische Verelendung der Massen in diesem Lande: kein Wunder, dass die verarmte Bevölkerung ihre letzten Cents zusammenkratzen muss, um sich temporär von der Pauperität abzulenken. Die anderen Krisen können warten, doch die Krise der drohenden Langeweile wird erfolgreich bewältigt. Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz. Von Manfred Prisching Wochenausblick DIE FURCHE nimmt in den kommenden Ausgaben diese Themen in den Fokus: Sicherheit Nr. 37 • 12. September Mit dem Versprechen einer „Festung Österreich“ buhlen die Freiheitlichen unter Herbert Kickl um Stimmen. Zugrunde liegt die Sehnsucht nach Stabilität in Krisenzeiten. Doch macht das tatsächlich sicher? Gerechtigkeit Nr. 38 • 19. September Der Blick auf die Schwachen einer Gesellschaft gehört zum programmatischen Kern der Sozialdemokratie. Doch ist der Fokus richtig justiert? Und was bedeuten Solidarität und soziale Gerechtigkeit in modernen (Migrations-)Gesellschaften? Leistung Nr. 39 • 26. September Seit jeher versteht sich die Volkspartei als Anwältin der Leistungsträgerinnen und -träger in diesem Land. Doch wer gehört tatsächlich zu dieser Gruppe? Und was bedeutet „Leistung“ anno 2024 überhaupt? Jeden Mittwoch und Freitag! Nichts mehr verpassen – Newsletter abonnieren Der schwärzeste Tag Nr. 40 • 3. Oktober Israel erlebte durch den Überfall der Hamas am 7. Oktober den größten Massenmord an Juden seit der Schoa. Nun jährt sich das Massaker zum ersten Mal. Über die Folgen des Gegenangriffs und die Option Frieden für die Region. Änderungen aus Aktualitätsgründen vorbehalten. Denker mit dem Hammer Nr. 41 • 10. Oktober Vor 180 Jahren, am 15. Oktober 1844, wurde Friedrich Nietzsche geboren. Mit seinem Denken, seiner scharfen Religionsund Kulturkritik sowie seinem Stil hat er bis dahin gängige Muster gesprengt und die Philosophie bis heute geprägt. Jetzt anmelden furche.at/newsletter Genuss oder Gift? Nr. 42 • 17. Oktober Im Durchschnitt nehmen Menschen in Österreich 95 Gramm Zucker pro Tag zu sich. Fast doppelt so viel, wie die WHO empfiehlt. Mediziner schlagen Alarm, eine Zuckersteuer wird gefordert. Über eine Debatte zwischen Fakten und Hysterie.
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE