DIE FURCHE · 35 18 Wissen 29. August 2024 Von Martin Tauss HUMAN SPIRITS 3D-Urlaub in Dänemark Von außen sieht man Menschen mit abgedichteten Brillen, die in eine virtuelle Realität (VR) eingetaucht sind. Verstreut sitzen sie auf einem Areal des Experimentariums, eines Wissenschaftsmuseums in Kopenhagen, und gestikulieren wild mit den Armen. Die Bedeutung ihrer Bewegungen, die Dramatik ihres Erlebens bleiben dem Außenstehenden verborgen. Nach 15 Minuten legen sie die Brillen ab und kehren in die „analoge“ Ausstellung zurück. Schnappt man sich „ Mit VR wird die Dynamik der Digitalisierung auf die Spitze getrieben: Möglichst viele Reize schießen in möglichst kurzer Zeit auf das Gehirn. “ dann selbst ein Gerät, sieht man die Welt aus den Augen eines Insekts. In eine Biene oder einen Schmetterling kann man schlüpfen; Blumen und Blüten werden überlebensgroß. Wer sich zum Falter macht, muss weit fliegen, um Nahrung zu finden. Und dabei unheimlich aufpassen, nicht von den Vögeln gefressen zu werden. Mit den Armen navigiert man in der Luft und wirft Blicke auf Landschaften in erstaunlicher Plastizität. „Biosphäre“ heißt dieser Teil der Ausstellung, der das Bewusstsein für den Naturschutz wecken will. Interaktive Spiele sollen den Wert der Biodiversität verdeutlichen – oder stellt die Faszination der künstlichen Natur die echte Naturerfahrung („the real thing“, wie der Schriftsteller Gary Snyder sagt) bald in den Schatten? Suchtmodus simulierten Lebens Ein paar Tage später im dänischen Billund: Hier wartet das Legoland, das mit seinen unzähligen Bauwerken aus kleinen Plastiksteinen auch für Erwachsene sehenswert ist. Dazu viele Hochschaubahnen, die durch fantasievolle Lego-Welten rasen und den Gästen einen zusätzlichen Kick verleihen. Eines der Highlights ist ein Flugsimulator: Sobald man sich auf einer schaukelnden Bank zur großen Leinwand hindreht, fliegt man mit atemberaubender Geschwindigkeit in virtuelle Welten. Oft hilft nur das Augenschließen, alle fünf Sekunden kracht man in ein Hindernis. Im hedonistischen Kontext des Vergnügungsparks wird die Dynamik der Digitalisierung auf die Spitze getrieben: Möglichst viele Reize schießen in möglichst kurzer Zeit auf das Gehirn. Mir wird schlecht; damit bin ich offenbar nicht allein. Zurück vom Urlaub finde ich eine E-Mail von Joachim Bauer in meinem Posteingang. Er verweist auf eine neue Rezension zu seinem aktuellen Buch „Realitätsverlust“. Dort heißt es: „Eine ganze Generation von Menschen verfällt global in den Suchtmodus simulierten Lebens. Das, was Menschen aus der biologischen Evolution gelernt haben – Empathie, Kooperation und Naturverbundenheit –, geht in einem virtuellen Leben unweigerlich verloren. Die Entwicklungsmöglichkeit von Kindern durch Zuwendung, Liebe und analoge Resonanzerlebnisse wird mit virtuellen Bildschirmerlebnissen deformiert.“ Insgeheim zustimmend fühle ich mich als Spaßverderber. Immerhin fällt mir noch ein goldener Satz dazu ein: Die Dosis macht das Gift. Foto: iStock/GeorgePeters Die vielen heißen Sommertage haben nicht nur an der Erdoberfläche massive Auswirkungen. Auch die heimischen Seen und vor allem die darin lebenden Arten leiden darunter. Der Saibling in Bedrängnis Von Naz Küçüktekin Rund 26 Grad Wassertemperatur: Das war in diesem Sommer an österreichischen Seen keine Seltenheit. Für viele Menschen ist das durchaus angenehm: hineinspringen, ohne dass einen ein kalter Schauer überläuft. Für den See als Lebensraum und ökologisches System sind die stetig hohen Temperaturen allerdings alles andere als gute Neuigkeiten. Was für uns mehr Badetage bedeutet, könnte für viele Arten zur Bedrohung ihrer Lebensgrundlage werden. Das weiß Daniela Achleitner, Leiterin des Institutes für Gewässerökologie und Fischereiwirtschaft am Bundesamt für Wasserwirtschaft, nur zu genau. Seit den 1970er Jahren misst das Institut die Temperaturen von heimischen Seen – und registriert, dass sich Österreichs Seen deutlich erwärmen. An der Wasseroberfläche beträgt die Temperaturzunahme des Jahresmittelwertes zwischen 1,4 und zwei Grad Celsius im Vergleich zu 1975. „Das hat Folgen für das ganze ökologische System von Seen“, berichtet die Gewässerexpertin. Um zu verstehen, was sie damit meint, muss man zuerst wissen, wie Seen als komplexe Ökosysteme überhaupt funktionieren. Wenig bekannt ist, dass diese Gewässer unterschiedliche Schichten mit ganz spezifischen Begebenheiten haben. Im Sommer haben Oberflächenwasser und Tiefenwasser aufgrund der unterschiedlichen Temperaturen und Dichten keinen Kontakt miteinander. Im Oberflächenwasser führen Algen in dieser Zeit Photosynthese durch. Im Tiefenwasser hingegen gibt es kein Licht und keine Algen, die Sauerstoff produzieren könnten. Dennoch finden das ganze Jahr über Ab- Tiefer Lebensraum Unter Wasser manifestiert sich die Klimakrise im Verborgenen. „Aktuell passiert dort ganz viel“, sagt die Gewässerökologin Daniela Achleitner. „ Künftig wird es zu mehr Sauerstoffproblemen im Tiefenwasser kommen. Das wird zur Konkurrenz zwischen Fischarten führen. “ Daniela Achleitner, Bundesamt für Wasserwirtschaft bauvorgänge statt, indem organisches Material hinunter in die Tiefe rieselt und dort von Bakterien zersetzt wird. Diese Bakterien brauchen für den Abbau der organischen Substanz Sauerstoff. Das passiert in der Regel im Herbst sowie im Frühling. Da hat der ganze See dieselbe Temperatur, wodurch eine Durchmischung des Wassers stattfindet und Sauerstoff in die Tiefe kommt. „Da wir jetzt aber diese zwei Grad höhere Wassertemperatur an der Oberfläche haben, hat sich die Zeit verlängert, in der Oberflächenund Tiefenwasser voneinander getrennt sind“, erklärt Achleitner. Durch den Temperaturanstieg komme es im Frühling nun um 16 bis 24 Tage früher zu dieser separaten Schichtung; und im Herbst dauert sie elf bis 16 Tage länger. „Das heißt, es gibt einen Monat weniger Zeit, in dem Oberflächen- und Tiefenwasser miteinander in Austausch treten können. Während dieser Zeit verbrauchen Bakterien in der Tiefe aber weiterhin Sauerstoff. Dieser natürliche Sauerstoffmangel wird nun durch die Klimaveränderung verstärkt und verlängert“, so die Gewässerökologin. Die Expertin rechnet damit, dass sich heimische Seen bei weiter anhaltendem Temperaturanstieg noch stärker verändern und sich nur noch einmal pro Jahr durchmischen werden. Dadurch könne es unter anderem zu Verschiebungen von Sauerstoff- und kälteliebenden Arten kommen. Ein Beispiel dafür ist der Saibling – einer der beliebtesten heimischen Speisefische, beheimatet etwa in den Seen des Salzkammerguts. „Der Grundlsee, der Toplitzsee und auch der Ausseer See sind von Haus aus sehr kalt und sauerstoffreich; da besteht für den Saibling noch kein Problem. Aber in seichteren, wärmeren Seen könnte es künftig zu Veränderungen kommen“, sagt Achleitner. Das rühre daher, dass sich Saiblinge und Reinanken bisher dort den Lebensraum aufgeteilt hätten. Saiblinge waren unten in der Wassersäule, Reinanken weiter oben. Beide Arten konnten so problemlos nebeneinander existieren. Hecht und Flussbarsch als Gewinner „Künftig wird es aber vermehrt zu Sauerstoffproblemen im Tiefenwasser kommen. Deshalb müssen die Saiblinge weiter nach oben in den Lebensraum der Reinanken einwandern. Das wird voraussichtlich zur Konkurrenz zwischen diesen Fischarten führen“, skizziert Achleitner: Durchaus möglich, dass der Saibling den Klimawandel in flachen Seen nicht überleben wird, da es keinen Lebensraum zum Ausweichen gibt. „Anderen Fischen wie den Hechten oder Flussbarschen kommt das wärmere Wasser wiederum sehr entgegen“, ergänzt die Ökologin. „Im Klimawandel gibt es Verlierer und Gewinner.“ Eine große internationale Studie im Fachjournal Nature Climate Change kam bereits 2021 zu dem Ergebnis, dass aufgrund der steigenden Durchschnittstemperaturen viele Arten aus ihren ursprünglichen Lebensräumen verdrängt werden könnten. Dafür wurden 32 Millionen Temperaturdaten an 139 Seen weltweit über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren gesammelt. Laut Achleitner stehen wir derzeit am Anfang einer sehr schnell fortschreitenden Entwicklung: „Als wir vor ein paar Jahren begannen, höhere Nähstoffwerte in Seen zu messen, konnten wir das gar nicht einordnen. Da dachten wir noch nicht an die Klimakrise. Mittlerweile ist der Zusammenhang zwischen Temperatur und Änderungen der Schichtungsdauer aber klar messbar.“ Was man bisher freilich nicht so genau wisse: was die Natur aus diesen Veränderungen machen werde. „Aktuell passiert ganz viel unter der Wasseroberfläche“, sagt Daniela Achleitner. Generell sei es schwierig, von solchen Veränderungen Notiz zu nehmen: „Wenn Blüten früher blühen, kriegen wir das mit. Dass die Gletscher schmelzen, sehen wir auch. Bei Seen hingegen bemerken wir kaum, dass sich da ebenfalls viel tut“, so die Gewässer- und Aquakulturforscherin. Zudem seien die wahrnehmbaren Änderungen nicht negativ konnotiert: „Für viele ist es super, wenn sie im Oktober noch im See schwimmen gehen können. Was das für Auswirkungen auf den Lebensraum ganz vieler Lebewesen hat, hat man jedoch noch kaum vor Augen.“
DIE FURCHE · 35 29. August 2024 Wissen 19 Atlas zählt zur Speerspitze der menschenähnlichen Roboter. Heuer erschien eine neue Version, die mit erstaunlichen Bewegungen beeindruckt. Doch mit den technischen Fortschritten geht stets auch eine Angst vor bedrohlichen Zukunftsszenarien einher. Ergreifen Maschinen die Macht? Von Klaus Stiefel Humanoide Roboter regen schon seit über hundert Jahren die Fantasie der Menschheit an. Vom Maschinenmenschen in Fritz Langs Klassiker „Me tro polis“ bis zum ulkigen C3PO in „Star Wars“ haben in Literatur und Kinofilm die Roboter oft ihre menschlichen Mitdarsteller an die Wand gespielt. Ernsthafte Versuche, wirkliche, also funktionierende humanoide Roboter zu entwickeln, gab es allerdings erst in den letzten Jahrzehnten. Die amerikanische Firma Boston Dynamics, ein Spin-off des Massachusetts Institute of Technology (MIT), der renommierten Universität an der US-Ostküste, war in den letzten 20 Jahren führend bei diesen Entwicklungen dabei. Der erste Roboter von Boston Dynamics war Big Dog, der „große Hund“. Im Jahre 2005 entwickelt, war er ein massiver vierbeiniger Roboter, der mittels eines laut summenden Verbrennungsmotors angetrieben wurde. Es war dies ein furchterregendes Gerät, welches erstaunlich gut steile Abhänge hinauflief. Der Roboter sah wie ein kopfloser Minotaur mit zwei Paaren menschlicher Beine aus, der in YouTube-Videos mit großer Hektik über vereiste Parkplätze und durch matschige Wälder in der Umgebung Bostons lief. Das US-Militär hatte Big Dog mitfinanziert, aber einige praktische Überlegungen, wie der enorme Lärm des Roboters, haben im Endeffekt einen praktischen Einsatz verhindert. Fröhliche Tanzvideos In den Jahren 2016 und 2017 erschufen die Robotiker von Boston Dynamics zwei Maschinenwesen: Spot war einem Hund nachempfunden , während Atlas ein zweibeiniger humanoider Roboter war. Am bekanntesten war wohl das Video, in dem beide Roboter zusammen zu den Klängen von „Do You Love Me?“ tanzten. Diese fröhlich-lustige Darbietung war sicher als Gegenpol zu den martialischen Videos mit Big Dog, durch die Boston Dynamics bekannt wurde, gedacht. Das Tanzvideo war unterhaltsam, aber auch beeindruckend: Hier waren Roboter zu sehen, die sich schnell, flüssig und koordiniert bewegten, fast wie die Menschen oder Hunde, die sie inspiriert hatten. Das stand im krassen Gegensatz zu den meist langsamen und behäbig dahinkriechenden Robotern, die zur gleichen Zeit oft die Resultate von Doktorarbeiten waren: Diese loteten zwar neue Ideen in der Robotik aus, waren aber längst nicht so spektakuläre Maschinen. Atlas war den Androiden aus „Star Wars“ einen mächtigen Schritt nähergekommen. Die menschliche Form von Atlas ist aber nicht primär eine Hommage an die berühmten Roboter aus Film und Literatur – und auch kein Marketing-Gag. Unsere moderne Umwelt ist für Screenshot: bostondynamics.com/atlas Menschen ausgelegt: All unsere Gerätschaften sind darauf ausgelegt, dass Menschen sie bedienen. Treppen, Türen, Sessel und Leitern sind auf Menschen ausgelegt. Da passt ein humanoider Roboter gleich gut hinein. 2024 erschien nun eine neue, elektrische Version von Atlas. Die vorherige Version wurde hydraulisch angetrieben, was sehr viel Energie kostet und die Laufzeit des Roboters deutlich verringert. Der neue Roboter sieht zwar humanoid aus, hat aber Gelenke mit einem viel weiteren Bewegungsradius als menschliche Schultern oder Hüften. In einem Demo- Video zeigt Boston Dynamics, wie er flach am Boden liegt und dann viel gymnastischer aufsteht, als das irgendein Mensch könnte. Terminator-Fantasien Die Hände wurden auch verbessert und haben, wenn auch noch nicht die Fähigkeiten menschlicher Hände, mehr mechanische Freiheitsgrade als vorherige Versionen. Hinter der dunklen Scheibe am Roboterkopf verbergen sich mehrere Kameras, die mittels fortschrittlichster Software ein dreidimensionales Bild der Umgebung in Echtzeit erstellen. Dieser Atlas ist noch nicht als kommerzielles Produkt gedacht, sondern als Forschungsplattform, auf der der neueste Stand der Robotik fortschreiten soll. Der neue Atlas ist ohne Zweifel eine enorm eindrucksvolle technische Meisterleistung. Bei solchen neuen Technologien wird natürlich immer die Frage diskutiert, was für Auswirkungen diese auf die menschliche Gesellschaft haben könnten – und ob die Roboter kurz davorstehen, die Macht zu übernehmen. Könnten sich diese, unsere Diener, selbstständig machen und die Menschheit unterjochen? Auch hier hat das Kino eine Vorlage geliefert: In den „Terminator“-Filmen kommt Arnold Schwarzenegger als humanoider Roboter aus der Zukunft und will die Menschheit zuerst vernichten und in der Fortsetzung dann doch wieder retten. Stehen wir kurz davor, dass diese Science-Fiction, bis auf die Zeitreise, zur Realität wird? „ Hinter der dunklen Scheibe am Roboterkopf verbergen sich mehrere Kameras, die mittels fortschrittlichster Software ein dreidimensionales Bild der Umgebung in Echtzeit erstellen. “ Boston Dynamics hat 2022 eine Erklärung veröffentlicht, wonach es sich nicht an der Ausstattung seiner Roboter mit Waffen beteiligen wird. Aber mehr als auf geduldigem Papier verfasste Erklärungen überzeugt mich die ökonomische Seite des Einsatzes dieser Roboter davon, dass uns nicht so bald ein Terminator auf die Zehen treten wird. Als dem russischen Militär in den letzten Jahren die Soldaten knapp wurden, haben die Planer des Angriffskriegs nicht begonnen, humanoide Kampfroboter in Massenproduktion zu herzustellen. Stattdessen begannen sie, Strafgefangene an die Front zu rekrutieren. Selbst ein Mann ohne bisherige militärische Ausbildung ist schnell in der Lage, komplexe Anweisungen zu befolgen und einfachere Waffen zu bedienen. Lesen Sie schon FURCHE-Newsletter? Ihre ausgewählten Lieblingsthemen ab sofort täglich in Ihrer Mailbox. Robotik Die neue Version von Atlas ist als Forschungsplattform gedacht. Dahinter steht die US-Firma Boston Dynamics, ein Spin-off des renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT). Jetzt anmelden: furche.at/newsletter Journalismus mit Sinn. Lesen Sie dazu auch einen Artikel von Adrian Lobe über Roboterhaustiere („Aibo statt Balu“, 30.11.2022) auf furche.at. Das ist immer noch weit mehr, als selbst der neueste Atlas kann. Und, so zynisch das klingt, ein Atlas-Roboter kostet etwa 150.000 US-Dollar. Ein Strafgefangener, der nicht mehr im Gefängnis bewacht und ernährt werden muss, spart Kosten. Das ist natürlich ein extremes Beispiel, aber ähnliche traurige Kosten-Nutzen- Rechnungen werden Kriege à la Terminator wahrscheinlich noch sehr lange im Reich der Science - Fiction belassen. Jetzt neu: tägliche Ressort- Newsletter
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