DIE FURCHE · 35 10 Diskurs 29. August 2024 KOMMENTAR „Euer Wille geschehe“: Ein FPÖ-Plakat als postmoderne Dämonie In seinem Buch „Der Glaube des Adolf Hitler“ beschrieb der Historiker und langjährige FURCHE-Redakteur Friedrich Heer, wie Hitler im Rückgriff auf christliche Motive (wie z. B. den Glauben an die göttliche Vorsehung) große Teile der Bevölkerung emotional für seine Ziele gewinnen konnte. Die Inszenierung des Nationalsozialismus als politische Religion fiel bei einer nur an der Oberfläche christianisierten Bevölkerung auf fruchtbaren Boden. Nun sollte man das FPÖ-Wahlplakat „Euer Wille geschehe“, das ebenfalls auf die Assoziation mit einem christlichen Motiv abzielt, nicht mit Nazipropaganda und Herbert Kickl nicht mit Hitler vergleichen. Nach Karl Marx wiederholt sich Geschichte nicht, „ Kickl und seine Gesinnungsgenossen appellieren nicht wie einst Hitler an religiöse Gefühle, sondern verspotten diese. Es ist die Hülle des blanken Willens zur Macht. “ und wenn, dann als Farce, d. h. als derbe, spottende Posse. Solche Possen – und das Plakat ist eine solche – können aber im politischen Raum nicht minder gefährlich sein. Denn Kickl und seine Gesinnungsgenossen appellieren nicht wie Hitler an religiöse Gefühle, sondern verspotten diese. Sie wissen, dass die österreichische Gesellschaft religiös ausgehöhlt ist. Das verächtliche Spiel mit religiösen Assoziationen steht ausschließlich im Dienst der schamlosen Durchsetzung von Machtinteressen. Die assoziative Verbindung mit nationalsozialistischen Vorstellungen („Volkswille“) ist die Hülle des blanken Willens zur Macht. Das Plakat ist deshalb nicht „nur“ Blasphemie, sondern Ausdruck einer postmodernen Dämonie. Denn eine Blasphemie lästert zwar, anerkennt aber immer noch die Wirklichkeit Gottes. Eine Dämonie anerkennt nur mehr irdische Macht und leugnet faktisch die Existenz Gottes, ungeachtet dessen, was öffentlich verkündet wird. Postmodern (im Alltagsverständnis) ist sie, weil sie keinen wie immer gearteten Anspruch auf Wahrheit anerkennt und alles für Eigeninteressen interpretiert und benützt. Mit dem Begriff der „Dämonen“ werden in der Bibel Prozesse und Dynamiken beschrieben, die auf die Zerstörung und Vernichtung von Leben zielen. Solche docken sich mit Vorliebe an Ängste, Sehnsüchte, Bedürfnisse angesichts realer Probleme an. Wenn also die FPÖ Lösungen für die zu lange ignorierten migrationspolitischen Probleme anbietet, bedient sie die damit verbundenen Ängste, zielt aber mit ihrem Ethnonationalismus letztlich auf die Exklusion all jener, die nicht den normativen Vorstellungen des imaginierten Volkswillens entsprechen. „Euer Wille geschehe“: Das ist die zynisch-spottende, nichts und niemanden ernst nehmende Ankündigung eines politischen Projektes zur Zerstörung der liberalen, menschenrechtsbasierten Demokratie und ihrer Institutionen im Namen eines divinisierten „Volkswillens“ auf Kosten von ethnisch und religiös „Anderen“. Das ist dämonisch. Nun haben jene, die vor einer Dämonisierung Kickls und der FPÖ warnen, schon recht – falls damit gemeint ist, die Verantwortung für zerstörerische politische Prozesse auf eine Person/ Gruppe zu projizieren und die eigene zu leugnen. Zu oft bezeugt dieser Einspruch aber nur das fantasielose, anbiederliche und feige Zurückweichen vor der bösartigen Energie, die sich auch in solchen Plakaten zeigt. Den beschwichtigenden Kickl/FPÖ-Verstehern ist auch zuzustimmen, dass Empörung keine Option ist. Empörung verstärkt zerstörerische Dynamiken und überdies das Risiko, dem bekämpften Gegner ähnlich zu werden. Auch Jesus von Nazaret, der Urheber des Vater Unser, empört sich nicht, wenn er Dämonen vertreibt. Von Regina Polak Zerstörerische Dynamiken stoppen, ohne Probleme zu leugnen Allerdings diskutiert und verhandelt er auch nicht mit dämonischen Mächten. Vielmehr zieht er eine klare und eindeutige Grenze, verweist sie vom Ort und heilt jene, die von Dämonen besessen sind. Er unterscheidet also klar zwischen der lebenszerstörerischen Dynamik und den Menschen, die von diesen besessen sind. Will man also die demokratiezerstörerischen Dynamiken stoppen, ist deren Protagonisten Einhalt zu gebieten und bedarf es fantasievoller Alternativen, die sich der nihilistischen Machtund Volkswillenlogik entziehen, ohne die Probleme zu leugnen. PS: In der Hebräischen Bibel, der auch Jesus als Jude verpflichtet ist, meint „Volk“ gerade keine ethnische, sondern eine Rechtsgemeinschaft. Das Gottes-Volk hat sich überdies darauf verpflichtet, den Willen Gottes zu tun. Das bedeutet: alle menschlichen Beziehungen, auch die politischen, gemäß der Vorstellungen des Reiches Gottes zu ethisieren. Die Assoziation mit dem „Volkswillen“ im besagten Wahlplakat ist daher eine Antithese zum biblisch bezeugten Glauben; der implizite Rekurs auf das Vater Unser dämonisch. Die Autorin ist Leiterin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. ERKLÄR MIR DEINE WELT Feiern, selbstbestimmt und frei sein Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast „ Bei aller Liebe, wenn ich die Wahl zwischen dem Diktat traditioneller Frauenbilder und einem Sommer ohne Regeln habe, entscheide ich mich für ,brat‘. “ Herzlichen Glückwunsch! Es scheint, dass die Marketingmaschinerie bei Ihnen wirkt, denn genau diese steckt hinter dem von Ihnen erwähnten brat- Trend. Wie Sie richtig feststellen, geht diese Bewegung von der britischen Musikerin Charlotte Emma Aitchison, besser bekannt als Charli XCX, aus. brat – also „Göre“ – ist der Titel ihres sechsten und aktuellen Albums. Bevor ich auf den Lifestyle eingehe, möchte ich darauf hinweisen, dass ihr musikalisches Werk hochgeschätzt wird. Der US-amerikanische Musikkritiker Anthony Fantano bewertet ihr Album sogar mit zehn von zehn Punkten. Statt sich mit der künstlerischen Leistung dieser jungen Frau zu befassen, konzentriert sich die Öffentlichkeit jedoch lieber auf die „freche“ Social-Media-Bewegung. Diese will ich keineswegs verteufeln. Um ehrlich zu sein, habe ich mich in den letzten Monaten weitgehend aus dem Social- Media-Spiel zurückgezogen – zumindest so weit, wie es geht, ohne den sozialen Anschluss zu verlieren. Aber, und jetzt klinge ich vermutlich boomer licious: Es sind doch immer die gleichen Trends, die wiederkehren. Deshalb war ich zunächst skeptisch gegenüber dem „Brat Girl Summer“. Zumal ich den Kern dieses Trends längst lebe: Ich mache mich nicht für andere schick, sondern verlasse das Haus auch mal mit verschmierter Schminke vom Vorabend und im bequemen Outfit. Bei mir ist das weniger eine Fashion-Entscheidung als vielmehr das Resultat schlechten Zeitmanagements. Aber zurück zu Social Media: Mit dem brat-Style hat das Marketingteam um Charli XCX ihrer Community einen Freifahrtschein erteilt, um „Scheiß drauf“ zu sagen. Aber worauf? Seit Jahrzehnten wird gegen Konventionen, Geschlechter stereotype und Stigmatisierungen gekämpft – braucht es da noch so eine aggressive Ansage? Als ich mir diese Frage stellte, erinnerte ich mich an mein zehnjähriges Ich, das am ersten Tag in der Unterstufe einen Auftritt älterer Schülerinnen zu Christina Aguileras Song „Dirrty“ bewunderte. Die Jugendlichen ahmten das provokante Musikvideo nach, und ich war begeistert von der wilden, rebellischen „Xtina“, die sich von ihrem zuckersüßen Teen-Pop-Image lösen wollte. Bei näherer Betrachtung überrascht es mich also nicht, dass der „Brat Girl Summer“ so erfolgreich ist. Ähnlich wie „Dirrty“ den Übergang von der Zuckerwatten-Girlpop-Phase der 2000er markierte, leiten Charli XCX und ihre Anhänger das Ende der „Clean Girl“-Ära auf TikTok ein. In den vergangenen Jahren predigten „saubere“ weiße Mädchen die richtigen Lebensroutinen: Nahrungsergänzungsmittel, Dankbarkeitstagebücher, Raumspray, Meal prep. Im Frühjahr schnürte Tik- Tok das Korsett noch enger – unter den Begriffen „Tradwives“ oder „Stay-at-Home Girlfriends“ verherrlichten junge Frauen ihre unterwürfige Hausfrauenrolle. Ihr Lebenssinn: den Mann verwöhnen, gut aussehen und bloß keine Probleme machen. Bei aller Liebe, wenn ich die Wahl zwischen dem Diktat traditioneller Frauenbilder und einem Sommer ohne Regeln habe, entscheide ich mich für brat. Die „Brat Girls“ feiern sich gegenseitig und verabschieden sich vom Konkurrenzdenken, das unter den „braven, tüchtigen Frauen“ herrscht. In dieser Hinsicht sehe ich kaum einen Unterschied zwischen „Swifties“ und Brats: Beide wollen feiern, selbstbestimmt und frei sein. Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (CvD), Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Mag. Till Schönwälder, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. Anzeigen: Georg Klausinger +43 664 88140777; georg.klausinger@furche.at Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 Graz Offenlegung gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Art Copyright ©Bildrecht, Wien. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet. Bitte sammeln Sie Altpapier für das Recycling. Produziert nach den Richtlinien des Österreichischen Umweltzeichens, Druck Styria, UW-NR. 1417
DIE FURCHE · 35 29. August 2024 Diskurs 11 Auch 40 Jahre nach Neil Postmans „Wir amüsieren uns zu Tode“ bleiben seine Diagnosen zum Niedergang des öffentlichen Diskurses brisant. Eine Relektüre in Wahlzeiten. Statt Wettstreit der Ideen: Alles ist eine Hetz ob über Politik, Wirtschaft, Religion oder Erziehung diskutiert wird: Es zählt nicht der Inhalt, sondern nur die Show. Es „Egal ist kaum mehr möglich, über die Medien zu seriösen Informationen zu gelangen.“ Was Neil Postman, 2003 verstorbener Altvorderer der Medien- und Kulturkritik, vor 25 Jahren im FURCHE-Interview zuspitzte – zu finden unter „Die Show zählt, nicht die Inhalte“ (17.12.1998) auf furche.at –, ist heute noch aktuell. Postmans Kultbuch „Wir amüsieren uns zu Tode“, in dem er dies ausbreitete, ist 1985 erschienen. Auch wenn er sich da auf das Fernsehen fokussierte – World Wide Web gab es als Massenmedium noch nicht –, haben seine prophetischen Dia gno sen nichts an Brisanz verloren. Insbesondere in Wahlzeiten lohnt die Relektüre des Buchs: „Die ‚Tagesnachrichten‘ sind ein Produkt unserer technischen Phantasie; sie sind im wahrsten Sinn des Wortes ein Medienereignis. Wir beschäftigen uns mit Bruchstücken von Ereignissen aus aller Welt, weil wir über eine Vielzahl von Medien verfügen, die sich ihrer Form nach zum Austausch bruchstückhafter Botschaften eignen.“ Das schreibt einer, der noch keine Ahnung hat, wie man mit Social Media Wahrheitsbruchstücke verteilen und den Weltenlauf verändern kann. Vernichtung der Diskussionskultur Es ist beklemmend, wie Postman gegen die Vernichtung der Diskussionskultur zu Felde zieht, die er vor allem auf die Umgestaltung von Information zu Infotainment durchs Fernsehen bezieht. Aber wer aktuelle Debatten im Blick hat (die eigentlich Nichtdebatten sind, weil die Gesprächspartner keinerlei Rüstzeug für ein inhaltliches Fundament der Auseinandersetzung haben), stellt frappiert fest, dass sich die Lage in keiner Weise verbessert hat. Postman rekurriert vor allem auf Aldous Huxleys Dystopie „Schöne neue Welt“, bei der die Menschheit schleichend unterwandert wird und en passant in die Unterdrückung gleitet. Was die Digitalisierung heute in diese Richtung „erreicht“ hat, hat Postman längst erahnt. Postman führt etwa die Iranische Revolution an, die damals in den Nachrichten sehr präsent war: „Wäre es übertrieben zu behaupten, dass von hundert Amerikanern nicht einer weiß, welche Sprache die Iraner sprechen? Oder was das Wort ‚Ajatollah‘ heißt oder bedeutet? Dass nicht einer von hundert etwas über die Glaubensgrundsätze der iranischen Religionen weiß? […] Und doch hat jeder eine Meinung zu diesem Ereignis […].“ Abgesehen davon, dass „Wir amüsieren uns zu Tode“ auch eine kurzweilige und lesenswerte Abhandlung über die US-amerikanische Kultur- und Mediengeschichte enthält, geht Postman den Spuren nach, wo Information zu Ware geworden ist. Für ihn ist es die Entwicklung des Telegrafen im 19. Jahrhundert, welche ZEIT- WEISE Von Otto Friedrich „ Bis zur Wahl werden wir mit über 50 ,Duellen‘ oder Elefantenrunden beglückt. Was würde Postman dazu sagen? “ „der Belanglosigkeit, der Handlungsunfähigkeit und der Zusammenhanglosigkeit Eingang in den Diskurs“ verschafft hätten: „Entfesselt wurden diese bösen Geister des Diskurses, dass die Telegraphie der Idee der kontextlosen Information Legitimität verlieh, also der Vorstellung, dass sich der Wert der Information nicht unbedingt an ihrer etwaigen Funktion für das soziale und politische Handeln und Entscheiden bemisst, sondern einfach daher rühren kann, dass sie neu, interessant und merkwürdig ist. Der Telegraph machte aus der Information eine Ware […].“ Ein Beispiel, an dem Postman exemplifiziert, dass in der Politik Show vor Inhalt geht, ist seine Analyse der TV-Duelle zwischen Ronald Reagan und Walter Mondale vor der Präsidentschaftswahl 1984, die nur dazu dienten, dass die Kandidaten ihre Vorstellungen zu einzelnen Politikbereichen äußern konnten: „Unter solchen Bedingungen können Komplexität, das Belegen von Behauptungen und Logik keine Rolle spielen, und an mehreren Stellen blieb selbst die Syntax auf der Strecke. Aber das macht nichts. Die beiden Männer wollten ohnehin nicht so sehr ihre Argumente als vielmehr ihre ‚Ausstrahlung‘ zur Geltung bringen. […] Auch die Kommentare nach den Debatten verzichteten weitgehend auf eine Bewertung der von den Kandidaten vorgebrachten Ideen – allein schon deshalb, weil es diese Ideen gar nicht gab.“ Die Debatten würden als Boxkämpfe wahrgenommen. Postman zitiert dazu Schlagzeilen nach einer kessen Bemerkung Reagans über sein Alter, wo Zeitungen geschrieben hatten, Reagan hätte Mondale „mit diesem Witz k. o. geschlagen“. Ein Déjà-vu-Erlebnis Das Beispiel von Postman stammt von 1984, und es ist mehr als ein Déjà-vu-Erlebnis, dass man all dies in den Wahlduellen, Sommergesprächen und so weiter anno 2024 in Österreich genauso konstatieren kann. Was würde der Altvordere Postman dazu sagen, dass in Österreich dies alles zur Potenz geschieht? Bis zur Nationalratswahl beglücken uns die TV- Anstalten mit weit über 50 Elefantenrunden, Sommergesprächen und „Spitzenduellen“. Tyrannen, schreibt Neil Postman, hätten einst bei der Zensur Zuflucht genommen: „Die Zensur ist gleichsam der Tribut, den die Tyrannen einer Öffentlichkeit entrichten, die den Unterschied zwischen ernsthaftem Diskurs und Unterhaltung kennt. Wie sehr hätte es die Könige, Zaren und Führer der Vergangenheit […] gefreut, wenn sie geahnt hätten, dass Zensur nicht mehr nötig ist, sobald der gesamte politische Diskurs die Gestalt des Amüsements annimmt.“ Der Autor war bis April 2024 stv. Chefredakteur der FURCHE. ZUGESPITZT Die Macht des Mantras Schulstart an einer Wiener Volksschule, Deutschförderklasse. „Bitte Ruhe“, ruft die Lehrerin, doch die ist in einem Raum mit 24 kreischenden Kindern eine Utopie. Sie schließt die Augen und visualisiert den strahlenden Mann aus dem Hochglanz- Marketingvideo des Bildungsministeriums. „Ich habe einen klasse Job“, sagt sie sich vor, der Satz ist zu ihrem Mantra geworden. Wie jeden Morgen tröstet sie die weinende Rachida, die gemobbt wird. Plötzlich schreit Alik: Rafi habe gedroht, ihm eine reinzuhauen. „Ich habe einen klasse Job“, sagt sich die Lehrerin und holt tief Luft. Aslan hebt die Hand. „Frau Lehrerin, gibt es wirklich österreichische Kinder?“ Nach drei Jahren Isolation in der Deutschförderklasse hat er noch kein einziges Kind mit Erstsprache Deutsch zu Gesicht bekommen. „Natürlich“, sagt die Lehrerin – und murmelt ihr Mantra. Da tritt die Schulleiterin ein. „Zwei neue Schüler für dich“, verkündet sie – und sagt leise zur Kollegin: „Die Schulpsychologin hat gekündigt.“ „Klasse Job“, nuschelt die Lehrerin ein letztes Mal, kraftlos. Am selben Tag spricht diese Worte auch Martin Polaschek in seinem Büro am Minoritenplatz und blickt stolz auf vier Jahre erfolgreicher Bildungspolitik zurück: „Klasse Job!“ Es lebe die Macht des Mantras. Magdalena Schwarz PORTRÄTIERT Pionierin des christlich-jüdischen Gesprächs in zwei Religionen“: Der Titel ihrer im Jahr 2000 veröffentlichten Erinnerungen beschreibt ein nicht alltägliches Leben. Und der „Daheim Untertitel, „Mein Bekenntnis zum Judentum und zum Christentum“, weist Ruth Steiner erst recht als Wandernde zwischen zwei Welten aus: als Jüdin geboren, Christin geworden und dennoch Jüdin geblieben – und das als Auftrag verstanden, eine Brückenbauerin zwischen beiden Religionen zu sein. Am 1. September feiert sie nun ihren 80. Geburtstag. Ruth Steiners jüdischer Vater Hans konnte mit seiner Frau im Wiener „Mischehengetto“ überleben, bis der Familie die Emigration nach Manila gelang, wo Tochter Ruth 1944 zur Welt kam. Nach Kriegsende blieb der Vater in Manila und war unter anderem österreichischer Honorargeneralkonsul. Ruth kam mit 15 nach Wien, besuchte das Internat der Neulandschule und studierte Jus. Sie wurde Christin und engagierte sich in der Katholischen Hochschulgemeinde. 1986 holte Studienkollege Paul Schulmeister die damalige Managerin zur Katholischen Aktion Österreichs (KAÖ). Der renommierte Journalist war da Präsident der größten katholischen Laienorganisation, und Ruth Steiner leitete als Generalsekretärin die operativen Tätigkeiten der KAÖ. In den Turbulenzen der Waldheim-Jahre wurde Steiner zu einer treibenden Kraft in der katholischen Kirche, die Mitverantwortung Österreichs und der Christen für die Schoa zu thematisieren und aufzuarbeiten. Gleichzeitig organisierte Steiner die ersten offiziellen Begegnungen zwischen der Kirchenspitze und der Leitung der Israelitischen Kultusgemeinde. Innerhalb ihrer Kirche arbeitete sie unermüdlich daran, die Kenntnisse über das Judentum auf eine breitere Basis zu stellen und den immer noch vorhandenen christlichen Antijudaismus zu bekämpfen. In dieser Zeit setzte sie sich auch persönlich mit ihrem Jüdin-Sein auseinander und begann ihre Verwurzelung in zwei religiösen Traditionen auch zu leben. 1993 gehörte Ruth Steiner – gemeinsam mit der damaligen KAÖ-Präsidentin Eva Petrik – zu den Organisatorinnen des Lichtermeeres gegen Ausländerfeindlichkeit auf dem Wiener Heldenplatz, der mit 300.000 Teilnehmern bis heute größten zivilgesellschaftlichen Manifestation in Österreich. Auch nach 2000, ihrer Pensionierung als KAÖ-Generalsekretärin, ist Ruth Steiner eine nimmermüde Stimme gegen Antisemitismus und für das christlich-jüdische Gespräch geblieben. (Otto Friedrich) Foto: kathbild.at/Rupprecht Ruth Steiner, nimmermüde Stimme gegen Antisemitismus und für den Dialog zwischen Christen- und Judentum, wird am 1. September 80.
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE