DIE FURCHE · 26 4 Das Thema der Woche Hört zu! 29. Juni 2023 Wie klingen Armut und Tristesse? Kann man dem Stress seiner Vorfahren nachhorchen? Unser Autor erinnert sich an die Klangkulissen seiner Kindheit – und rekonstruiert „Soundscapes“, die er heute hinter sich gelassen hat. Geräusche der Ungleichheit Von Olivier David Heiseres Husten; Nachbarn, die streiten; der Pissstrahl eines im Stehen pinkelnden Nachbarn durch die zu dünnen Wände; Sirenen; das markerschütternde Einrammen einer Tür zu Beginn einer Hausdurchsuchung; das Klatschen einer Ohrfeige; das dumpfe Bersten einer eingeschlagenen Zimmertür; quietschende Bahnschienen; lauter Verkehr; Schreie während einer Schlägerei im Treppenhaus. So hörte sich die Armut an, in der ich aufgewachsen bin. Zumindest erinnere ich sie so. Ich schreibe nur von meiner Armut, da die oben beschriebenen Geräusche und Töne nicht unbedingt die Armut anderer wiedergibt. Ein Geräusch der Armut, das kann in einem anderen Fall das Klavier sein, an dem der entlassene Akademikervater seiner Tochter Beethovens 5. Symphonie vorspielt. Es kann das Knurren der fetten Katze sein, dessen Besitzerin lieber verhungern würde, als am Futter ihres Haustiers zu sparen. Unverdaute Töne In meinem Leben haben Geräusche, Töne – und ihre Abwesenheit – eine große Rolle gespielt. Die Abwesenheit von Geräuschen ist dabei nicht automatisch Ruhe, sie ist eine Stille. In der Stille kann Erlebtes nachhallen und einen verfolgen. Alle um einen herum hören nichts; man selbst aber lauscht mit seiner Ohrmuschel einer vergangenen und unverdauten Geräuschkaskade hinterher. Wenn von Geräuschen der Ungleichheit die Rede ist, dann ist auch die Abwesenheit von Geräuschen eine ungleiche Stille. Auf der einen Seite ist da die bürgerliche Stille. Diese Art von Stille ist eine saturierte, eine gut verdauliche Stille. Sie wird kultiviert, sie kann ein eigener Programmpunkt am Wochenende sein, der nur vom Geräusch des Umblätterns der Wochenzeitung oder von kleineren Verdauungsseufzern unterbrochen wird. Und dann gab es unsere Stille, die Stille meiner Kindheit und Jugend. Genau genommen war es in mir gar nicht still, und auch die Wohnung, in der wir lebten, war selbst im Zustand der Stille ein von Vorwürfen und Bitterkeit umhüllter Ort, der so laut schallte, dass es manchmal kaum auszuhalten war. Es war eine Stille der Projektion, wo alles, was sich im Außen abspielen sollte, schon gesagt, vorgeworfen, hinausgeschrien wurde. Es war eine Stille nach den Worten. Seit meiner Kindheit herrscht ein Regime der Unruhe in mir. Meine Mutter gab mir den Namen Olivier, der im Französischen Olivenbaum bedeutet. Diese Bäume haben tiefe Wurzeln und werden oft hunderte Jahre alt. Sie werden mit Beständigkeit, Frieden und Ruhe assoziiert. Umso überraschter war meine Mutter, als sie merkte, was Keine Aufstiegsgeschichte Warum Armut psychisch krank macht. Von Olivier David. Eden Books 2022, kart., 240 S., € 16,95 für ein Kind sie ausgetragen hatte: Ich war das Gegenteil von allen Zuschreibungen, mit denen man Olivenbäume belegt. Aber wie sollte das Bäumchen wachsen, unter so widrigen Bedingungen? „ Ich konnte dabei zusehen, wie es mich vor den Augen anderer in Einzelteile zerlegte. Schon bei kleinstem Stress bekam ich Ohrensausen, Schwindel, Panikattacken. “ Über die Muttermilch wurde ich mit dem Stress meiner Ahnen gestillt. Mit dem Leid meines Großvaters, der im Konzentrationslager saß. Mit der Furcht meiner Mutter, die unter seiner Gewalt litt. Mit der Angst meiner französischen Großmutter, die sich in Tunneln vor den Bomben der Alliierten im von Nazis besetzten Frankreich versteckte. Mit dem Zorn meines Vaters, dem das Handwerkszeug fehlte, ihn in gesunde Bahnen zu lenken. Ihre Stimmen sprachen in mir, wenn ich mich als junger Erwachsener schlug. Ich reproduzierte, was ich gelernt hatte, ich war ganz das Produkt meiner Umwelt. Einer Umwelt, in dem Nachbarsmädchen zwangsverheiratet, Dealer überfallen und Sparkassen ausgeraubt wurden. In der statt Olivenbäume Schuldenberge wuchsen. Ich raubte nicht, ich dealte nicht und doch lebten diese Geschichten in mir. Ähnlich wie die Gewalt, die mein Vater gegen meine Mutter ausübte, die meine Schwester und ich nicht sahen, aber hörten, entstand ein Koordinatensystem der Geräusche in mir, das mich bis heute prägt. Die Geräusche sog ich auf, ebenso die Geschichten, die man sich erzählte, die ich nicht selbst erlebte, die aber in meinem Kopf herumgeisterten. „Hast du gehört, neulich sind Leute vom Walther-Ghetto bei dem Ticker von Dings aus der Barnerstraße rein, sie haben ihn mit Handschellen an die Heizung gefesselt und getasert.“ Geschichten dieser Art ergänzten das Koordinatensystem der Geräusche um den Faktor der Imagination. Ich adaptierte und verinnerlichte, ich horchte dem Stress nach, den ich in mir trug. Den Stress meines Erbguts, und nebenher, nicht gleichberechtigt, aber präsent, war dennoch die Liebe meiner Eltern, ihr Respekt vor der Einzigartigkeit ihrer Kinder und der Glaube, dass ja vielleicht doch alles ein gutes Ende nehmen würde, trotz des ganzen widrigen Lebens, das sich zwischen uns und das Aufstiegsversprechen schob, mit dem sie ins Leben loszogen. Am Weg zum Hörsturz Die Geräusche am Anfang des Textes waren der Gegenentwurf meines Namens. Und eines Tages verstand meine Mutter, dass mein Name so etwas wie ein erklärtes Ziel für mich sein sollte. Olivier, der Olivenbaum, der ruhige, der in sich ruhende – nicht als Wesenskern, sondern als Ziel, auf das ich hinarbeiten sollte, wollte ich meinen Frieden mit mir und der Welt machen. Ich kann diesem Gedanken viel abgewinnen. Im Artikel „Why do rich people love quiet“ (Warum reiche Menschen Stille lieben) schreibt die amerikanische Journalistin Xochitl Gonzalez darüber, wie es ist, aus einer armen Nachbarschaft auf eine reiche, überwiegend weiße Uni zu gehen: „Bald wurde mir klar, dass Stille mehr ist als die Abwesenheit von Lärm; sie ist eine Ästhetik, die man verehren muss. Doch es war eine Ästhetik, die im Widerspruch zu dem stand, was ich war.“ So hätte es bei mir immer weiter gehen können: Dort die Ruhe einer höheren Klasse; hier meine, unsere Unruhe, die, wenn sie zu groß wurde, zu sozialen Unruhen oder zu Ausschreitungen zu Silvester heranwachsen konnte. Doch eines Tages gestand ich mir meine Depressionen ein – und fortan wurde ich von den Gesetzmäßigkeiten meines Aufwachsens überrollt. Ich bemerkte, dass dieser Unfrieden in mir System hatte und ich begann eine Therapie, um diesem Stress in mir etwas entgegenzusetzen. Ich dachte, nun würde es besser werden, dabei ging es erst los. Mit jedem Tag wurde ich schwächer. Ich fragmentierte und konnte dabei zusehen, wie es mich vor den Augen anderer in Einzelteile zerlegte. Schon bei kleinstem Stress bekam ich Ohrensausen, Schwindel, Panikattacken. Beim HNO- Arzt wurde die Vorstufe eines Hörsturzes festgestellt. Mein System fuhr herunter und je weiter unten ich ankam, desto mehr Stille benötigte ich. Die Ruhe, nach Gonzales der „Sound der Gentrifizierung“, er wurde zu meinem Olivenbaum Autor Olivier David wuchs unter schwierigen Bedingungen in Hamburg auf. Er versucht, der Widerstandskraft des für ihn namensgebenden Olivenbaums gerecht zu werden. Sound. Nicht, weil ich die Seite gewechselt hatte. Trotz begonnenem Studium lebte ich nur knapp über der Armutsgrenze. Meine Ohren konnten nicht mehr Lärm ertragen. Schon die Geräusche beim Einkaufen lösten in mir einen Schwindel aus, mein Bewegungsradius verkleinerte sich und mit ihm der Wunsch, Teil der Außenwelt zu sein. Der Unterschied zur Ruhe der Reichen war der, dass ich die Stille nicht verehrte – ich brauchte sie, um nicht wahnsinnig zu werden. Die Diagnose, das Fragmentieren, all das ist jetzt rund drei Jahre her. Es geht mir besser seit einiger Zeit. Aber die Präferenz für eine Ruhe, die in meinem Aufwachsen keinen Platz hatte, die bleibt. Dem Olivenbaum, den meine Eltern vor bald 35 Jahren gepflanzt haben, wachsen durch die selbst verordnete Ruhe erste Wurzeln. Und ein wenig Frieden finde ich in der Idee, dass da noch andere schöne Gewächse sind, die sich das Recht herausnehmen, einen Weg zu gehen, der zwar vorgesehen war, aber unmöglich schien. Der Autor ist Journalist und Kolumnist in Deutschland. Sein Buchdebüt 2022 widmet sich dem Aufwachsen in Armut. Nächste Woche im Fokus: Wenn es heiß wird, geht man vernünftigerweise aus der Sonne. Der Schatten steht freilich nicht nur für Schutz vor Hitze, sondern als Metapher für vielerlei. Manche Menschen führen Schattenexistenzen, andere leben im Schatten des Exils. Eine kulturhistorische Erkundung. Foto: iStock/ mpalis
DIE FURCHE · 26 29. Juni 2023 International 5 Wladimir Putin scheint durch den abstrusen Putschversuch des schillernd-bizarren Söldner-Chefs Jewgeni Prigoschin geschwächt. Das könnte verheerende Folgen haben – vor allem für die Ukraine. Erst Donnerschlag, dann Stillstand Von Jan Opielka Als „seltsamer, komischer Krieg“ wurde der Zeitraum zwischen der Kriegserklärung Frankreichs und Großbritanniens an Nazi-Deutschland am 3. September 1939 und dem Beginn der West-Offensive der Hitler-Armeen im Mai 1940 bezeichnet. Denn in diesem Zeitraum, während schon unzählige Menschen starben, geschah an der West-Front kaum etwas – dafür später umso Verheerenderes. Den Vorstoß von Jewgeni Prigoschin, dem schillernd-bizarren Chef der privaten Söldner-Armee Wagner, empfinden viele als ähnlich „seltsam“: Der 24. Juni, ein Samstag, begann mit einem Donnerschlag, mündete in einem relativen Stillstand – und in vielen offenen Fragen. Etwa jenen, was mit den geschätzten 25.000 Wagner-Söldnern geschehen wird, die sich auf Befehl Prigoschins vom Süden Russlands aus in Kolonnen Moskau bis auf 200 Kilometer genähert hatten, bevor ihr Chef „Halt!“ rief. Oder auch, was mit dem nach Belarus exilierten Prigoschin selbst passieren wird, der auf Vermittlung von Aleksander Lukaschenko klein beigegeben hatte. Vor allem aber: Was bedeutet der abstruse Aufstand für Putins Machtposition und den weiteren Kriegsverlauf? In vielen Kommentaren westlicher Politiker oder Medien ist eine Art hoffnungsfrohe Schadenfreude vernehmbar. „Putins Koch“ habe den russischen Despoten an den Rand des Machtverlusts gebracht, und das mit einer zum großen Teil aus Verbrechern zusammengewürfelten Söldnertruppe, die sich wie ein Staat im (schwachen) russischen Staat aufführen könne, heißt es vielerorts. Doch ein Blick in den Verlauf der Rebellion offenbart auch: Prigoschin stoppte die Fahrt der von ihm befehligten Einheiten, als er nicht die Unterstützung seitens der russischen Armee erhielt, mit der er gerechnet hatte. So ließ Putin laut einer Analyse des US-amerikanischen Instituts für Kriegsstudien (IWS) den Chef seiner Präsidentenkanzlei Anton Wajno und den weißrussischen Präsidenten einen Kompromiss mit Prigoschin aushandeln. Dieser durfte nach Weißrussland gehen und würde nicht, wie zunächst angekündigt, wegen Landesverrats verfolgt. Und Prigoschins Truppen, so Putin später, hätten die Wahl: entweder sie würden sich der regulären russischen Armee anschließen oder müssten ebenfalls nach Weißrussland. Prigoschin war wohl in der Tat am vergangenen Dienstag nach Weißrussland gelangt. Diesen Schachzug kann man durchaus als Schwäche Putins auslegen – schließlich ließ der Kreml-Chef einen „Verräter“, wie er Prigoschin noch am Samstag bezeichnete, straflos dahinziehen. Doch die Volte kann auch anders gedeutet werden: Es starben zwar wohl 13 russische Soldaten, die zwischenzeitlich versucht hatten, die Wagner-Kolonnen aus der Luft zu stoppen – doch die Eskalation wurde verhindert, Prigoschin scheint neutralisiert. „Teile und herrsche“ Der deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler geht davon aus, „dass die Russen Prigoschin über kurz oder lang liquidieren werden“. Ein Teil von Prigoschins Truppen dürfte dem Angebot Putins folgen, nun in die reguläre russische Armee einzutreten – andernfalls droht ihnen (erneut) Gefängnis. Diese seit Monaten geplante Unterstellung der Wagner-Einheiten unter das Kommando von Verteidigungsminister Sergei Schoigu war wohl ohnehin der Auslöser der Prigoschin-Revolte gewesen. Doch was folgt daraus nun für die Kämpfe in der Ukraine? Die Kiewer Führung hofft nun darauf, dass der Prigoschin-Vorfall zur Desintegration der russischen „ Der Kreml-Chef lässt seit jeher seine Unterstützer miteinander rivalisieren. Der Machtkampf war nicht gegen seinen Willen. “ Armeen in der Ukraine führen wird, zur Verunsicherung und Rissen innerhalb der russischen Streitkräfte, der russischen Bevölkerung sowie den Machtstützen Putins etwa innerhalb der russischen Geheimdienste. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte kurz nach dem Vorfall via Videobotschaft auf Russisch: „Je länger dieser Mensch (Putin; Anm. d. Red.) im Kreml ist, desto größer wird die Katastrophe”, und je länger die russischen Truppen in der Ukraine seien, desto mehr Verwüstung würden sie später nach Russland bringen. Putin habe „große Angst“, so Selenskyj, denn der Vormarsch Prigoschins habe die Schwäche der russischen Führung offengelegt. Doch es bleibt dahingestellt, wie viel von dieser Einschätzung Wunschdenken, und wie viel Realität ist. Klar ist: Putin lässt seit jeher seine wichtigen Unterstützer untereinander rivalisieren – nach dem alten Prinzip „teile und herrsche“. Prigoschin und Schoigu gerieten nicht gegen den Willen Putins aneinander. Der Kreml-Chef griff – aus seiner Sicht – lediglich zu spät ein, um eine Eskalation im Machtkampf der beiden zu verhindern. Jetzt dürfte Putin einiges dafür tun, dass das Bild eines „schwachen Kreml-Führers“ sich nicht dauerhaft in die Köpfe russischer Bürger und Soldaten einschleicht. Die Folge könnte eine verstärkte russische Offensive in der Ukraine sein, massivere Bombardierungen oder gar ein taktischer Nuklear-Schlag. „Putin hat vor kurzem bekräftigt, dass die Regierung den Einsatz von Atomwaffen in Erwägung zieht, wenn die Existenz des russischen Staates bedroht ist“, so der US-Historiker Stephen Kotkin in der US-Fachzeitschrift Foreign Affairs: „Er setzt seine persönliche Herrschaft mit der des russischen Staates gleich.“ Putin hatte indes bei einer Ansprache erklärt, die Feinde Russlands „wollten, dass sich russische Soldaten gegenseitig umbringen, dass sie Militärangehörige und Zivilisten töten, damit Russland am Ende verliert und Lesen Sie auch den Text: „Iwan kam zurück, lief mit einer Axt durch sein Dorf – und tötete.“ (E. Trummer; 21.6.2023) auf furche.at. unsere Gesellschaft gespalten wird und in einem blutigen Bürgerkrieg erstickt.“ Rede von der „besseren Wahl“... Auch wenn die Sozialen Medien voller Bilder sind, in denen einfache russische Bürger den Wagner-Söldner zujubeln – der jüngste Aufstand könnte einen gänzlich anderen Effekt haben, als sich der Westen erhofft. Die russisch-amerikanische Politologin Nina Chruschtschowa, Urenkelin des einstigen Sowjetführers Nikita Chruschtschow, war am vergangenen Wochenende in Moskau und hatte im Anschluss gegenüber „Democracy Now“ erklärt: „Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, sagten: ‚Was auch immer Putin ist, das (Prigoschin und seine Söldner; Anm. d. Red.) ist ein Haufen von Vergewaltigern und Mördern. Wir wollen ganz sicher nicht von solchen Leuten regiert werden.‘“ Derweil dankte Putin jenen russischen Soldaten, die sich den Wagner-Truppen in den Weg gestellt hatten. An seiner Seite: Verteidigungsminister Sergei Schoigu, dessen Absetzung Prigoschin gefordert hatte. Ob dies ein Zeichen für Putins Schwäche oder seiner Stärke ist, dürfte sich in Bälde zeigen. Foto: AP / picturedesk.com
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