DIE FURCHE · 484 Das Thema der Woche Ich kann nicht mehr28. November 2024AwarenessschaffenDie australischeKünstlerin LucindaCrimson leidetseit Jahrzehntenan ME/CFS. Für dierezente Ausstellung„SICK AF“ inFremantle gestaltetesie fünf Werke,die ihre Krankheitthematisieren.Foto: Lucinda CrimsonVon Dagmar WeidingerFremantle bei Perth, Australien.Eigentlich wollte die KünstlerinLucinda Crimson (53) beider Ausstellungseröffnung von„SICK AF“ selbst dabei sein. Sieist mit fünf Werken an der Schau beteiligt,in der 21 Künstlerinnen und Künstlerihre chronischen Erkrankungen thematisieren– immer auch mit Blick auf dieKunst als Ressource in schwierigen Zeiten.Die positiven Seiten ihres Schaffens kannCrimson, die seit vielen Jahrzehnten amchronischen Erschöpfungssyndrom (ME/CFS) leidet, an diesem Tag nicht sehen.Grund ist ein akuter Crash, der sie ans Bettfesselt. Crash: So nennen es CFS-Betroffene,wenn sich ihr gesundheitlicher Zustandnach Überanstrengung deutlich verschlechtert.Die Textildesignerin ist eine von 17 MillionenBetroffenen weltweit, so die Schätzungder Deutschen Gesellschaft für ME/CFS. InÖsterreich sind es circa 80.000 Personen.Die Anzahl dürfte sich seit der Pandemieverdoppelt haben. Wurde die Erkrankungzwar 1969 von der WHO offiziell anerkannt,so war sie bis zum Corona-Ausbruch kaumME/CFS-REFERENZZENTRUMGegen das WissensdefizitIm Medizinstudium kamen chronische Krankheitsbildernach Virusinfektionen (z. B. Corona,Influenza, Epstein-Barr-Virus) bislang nur sehrperipher vor. Seit September gibt es an derMed-Uni Wien ein Referenzzentrum, das als„Wissensmultiplikator“ für alle Gesundheitsberufedienen soll: Das Informationsdefizitmüsse man jetzt aufholen, „weil der Bedarf sogroß geworden ist“, so die Wiener Long-Covid-Expertin Eva Untersmayr-Elsenhuber. (mt)Die kritische Masse ist überschritten: Mit Long Covidkommen Erschöpfungskrankheiten endlich auf die politischeAgenda. Über Menschen im Schatten der Gesellschaft.Die Kunst,nichtaufzugebenbekannt. Erst Long Covid, das ein ähnlichesSymptombild aufweist, warf einen Scheinwerferauf die vernachlässigte Krankheit.Mittlerweile zeigt sich, dass viele Long-Covid-Patientinnenbereits zuvor CFS-Symptomehatten, ohne dass dies besondersaufgefallen wäre. Da die Krankheit in verschiedenenSchweregraden auftreten kann –von Bettlägerigkeit bis zur leichten Energie-„ Es geht darum, dassPausen gemacht werdenmüssen, da der Körperauf Überbeanspruchungfalsch reagiert.“Neurologe Michael StinglEinschränkung –, trafen viele Betroffeneintuitiv Anpassungen in ihrem Leben.Crimson kennt sie gut: die „Anpassungen“,die von der Außenwelt kaum wahrgenommenwerden. Mit Anfang 20 rasseltdie junge College-Absolventin in ihre erstemehrmonatige Erschöpfungsphase. Auslösersind mehrere Infekte auf einer Indienreise.Es gelingt ihr, sich wieder zu erholenund als Künstlerin in Fuß zu fassen. Siebaut sich einige Textilgeschäfte auf und bekommteine Tochter. Vor acht Jahren satteltsie um auf Lehrerin. Doch die Krankheitkommt wieder; die Ferien verbringt sie regelmäßig„gecrasht“ im Bett, die Wochenendensowieso. Anfang 20 halfen ihr nochMedikamente, die erste Zeit der Erschöpfunghinter sich zu lassen. Ein Glücksfall,der sich oft erst nach Langem einstellt,denn das eine Standardmedikament fürME/CFS oder Long Covid gibt es bis heutenicht. Der auf die Krankheit spezialisierteNeurologe Michael Stingl aus Wiensagt dazu: „ME/CFS und eine Untergruppevon Long Covid werden von einem wesentlichenFaktor bestimmt: dem Auftreten von‚Post Exertional Malaise‘, kurz PEM. Genaudafür gibt es bisher keine ursächliche Therapie.“Die Behandlung bestehe daher ausdem Durchprobieren von verschiedenstenMedikamenten, um PEM längerfristig zuvermeiden oder abzumildern.PEM ist gleich Crash, also jene Zustandsverschlechterung,die eintritt, wenn Betroffeneüber ihre körperlichen Grenzengehen. „Das kann bis zur Bettlägerigkeitführen“, so Stingl, „und mehrere Tage, Wochen,aber auch Monate andauern.“ Medizinischsei das absolut „kontraintuitiv“, soder Neurologe, denn Crash-Reaktionen bewegensich nicht im Rahmen eines gewohntenErholungszyklus. „Wir Mediziner sindes gewohnt, dass sich Menschen von Anstrengungeneinfach erholen bzw. dassman das Leistungsniveau durch Trainingheben kann.“ Das alles sei bei ME/CFSgrundlegend anders.Individuelles EnergiebudgetAls Ursache von PEM nennt Stingl dasVersagen der peripheren Sauerstoffversorgung.Vereinfacht gesagt: Bei Anstrengungsteigt der Sauerstoffbedarf im Körper,etwa in den Muskeln oder bei geistiger Tätigkeitim Gehirn. Kann der Körper diesenerhöhten Bedarf nicht decken, kommt es zueiner Übersäuerung des Gewebes sowie einerentzündlichen Reaktion.Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen,müssen Betroffene daher ihr eigenesEnergiebudget, auch „Baseline“ genannt,individuell ermitteln. „Für manche Personenist mit Zähneputzen bereits die Grenzeerreicht, andere können 5000 Schritteam Tag machen“, so Stingl. Im Alltag helfenPausen, das sogenannte Pacing, den eigenenRahmen einzuhalten. „Es geht beimPacing weniger um die Entspannung im ei-
DIE FURCHE · 4828. November 2024Das Thema der Woche Ich kann nicht mehr5„ Trotz steigender Zahlen seit derCorona-Pandemie ist das österreichischeGesundheitssystem bislang nur schlechtauf diese Erkrankung eingestellt. “gentlichen Sinn, sondern schlicht um dieTatsache, dass Pausen gemacht werdenmüssen, da der Körper auf Überbeanspruchungfalsch reagiert“, so der Neurologe.Mehr Pausen – das klingt leicht und ist imAlltag doch so schwer konsequent umzusetzen.Denn wer die Überanstrengung spürt,ist eigentlich schon einen Tick zu spät dran.Experten empfehlen daher, das Pacing vorallem zu Beginn strukturiert – am bestenmit Timer oder Fitnessuhr, die Puls oderHerzratenvariabilität misst – anzugehen.Steinige Wege zur RegenerationAuch Kathrin Frischmann (37) musstedas erst lernen. Die Sozialarbeiterin aus Tirolerkrankte 2019 an ME/CFS. Heute, nachfünf Jahren, ist sie komplett genesen undhat das Onlineprogramm „Recharge“ fürandere Betroffene entwickelt. „Ich war dieersten beiden Jahre ständig in einem Pushund-Crash-Zyklus,bis ich verstanden habe,worum es geht“, sagt Frischmann. Wieviele Betroffene macht sie zuerst den Fehler,zu rasch in die Arbeit zurückzukehren.Erst die bewusste Entscheidung, der eigenenRegeneration oberste Priorität einzuräumen,bringt langsam Veränderung.Mit großer Disziplin entwickelt FrischmannGesundheitsroutinen, die ihr dasPacing erleichtern. Dazu zählen täglichesYoga-Nidra, Atemübungen und Visualisierungsmeditationen.„Diese Praxis hat mirein Stück weit das Gefühl der Kontrolle zurückgegeben“,so die Mutter eines schulpflichtigenSohnes. Dies sei besonderswichtig – in Anbetracht einer Erkrankung,die so viele Rätsel aufgibt und den Körperkomplett aus der Bahn wirft.„Man kann sich den Alltag mit ME/CFSeinfach nicht vorstellen“, sagt sie. Auf einmalgeht es um ganz andere Dinge im Leben,wie: Habe ich heute genug Energie, umzehn Minuten beim Herd zu stehen und mirein Essen zuzubereiten, oder: Wann schaffeich es das nächste Mal, mir die Haare zuwaschen? In ihrem „Recharge“-Programmspricht Frischmann genau über diese Alltagsherausforderungenund darüber, wiesie gemeistert werden können – vom Stuhlin der Küche und in der Dusche bis zumTrockenshampoo. „Als ich erkrankt bin,gab es noch kaum Informationen im Netz“,sagt die Sozialarbeiterin. „Damals hätteich mir ein Handbuch für die Genesunggewünscht. Alles, was ich fand, war, dassME/CFS unheilbar ist.“Dies hat sich mittlerweile geändert: Youtubeund Instagram sind voll von sogenanntenRecovery Stories. Wie realistisch siesind, darüber gehen die Meinungen auseinander.„Meiner Einschätzung nach gibtes bei ME/CFS durchaus die Chance aufBesserung“, berichtet Neurologe Stinglaus eigener Erfahrung. Dennoch ist aucher vorsichtig, wenn es um Genesungsgeschichtengeht. „Wer glaubt, er könne dasnachmachen, was eine andere Person getanhat, läuft Gefahr, enttäuscht zu werden“,so Stingl. Zu unterschiedlich seiendie Wege in Richtung Regeneration. Nichtzuletzt kommt es auch auf die individuellenLebensumstände einer Person an. Wer finanziellabgesichert ist und von einem unterstützendenUmfeld aufgefangen wird,hat bessere Chancen auf Regeneration als jemand,der um seine Existenz bangen muss.Trotz steigender Zahlen seit der Pandemieist auch das österreichische Gesundheitssystembislang nur schlecht auf die Erkrankungeingestellt. Selten bis gar nichtbekommen Betroffene Reha-Geld oder eineInvaliditätspension zugesprochen; dieBegutachtungsprozesse dafür sind mühsamund nervenaufreibend. Viele schaffenes erst gar nicht so weit. Unlängst stellte GesundheitsministerJohannes Rauch dahereinen Nationalen Aktionsplan vor, an demNeurologe Stingl neben 60 anderen Expertenmitgearbeitet hat. Der Weg zur Umsetzungdürfte kein leichter werden – fehlt esdoch bisher an fast allen Stellen an Geld undStrukturen, von der Versorgung der Betroffenenbis hin zur Forschung.Derweil verbringen viele Betroffene ihreTage weiterhin im Bett, mehr oder wenigerauf sich allein gestellt. Und das weltweit. DieKünstlerin Lucinda Crimson aus Perth verlässtihr Haus momentan nicht. Ihre Lehrtätigkeithat sie für ein halbes Jahr pausiert.Wie es danach weitergeht, weiß die Australierinnicht. Ihre Lieblingstechnik, den Textildruck,hat sie auf Eis gelegt. Stattdessenmalt sie, wenn es die Kräfte zulassen, mitÖlfarben Bilder ihrer Alltagsgegenstände.Über viele Jahre hat sie diese liebevoll aufFlohmärkten zusammengetragen. „Sie sindheute meine Freunde“, sagt Crimson. WerÜber Akupunkturgegen Symptomevon LongCovid siehe denArtikel „Mit Nadelngewappnet“(15.2.2023) vonMartin Tauss,auf furche.at.die vielen knallbunten Bilder von Vintagetassen,Vasen mit Blumen und Kaffeekannensieht, spürt, dass sie die Zuversicht trotzallem nicht ganz verloren hat. „Ich weiß, ichmuss noch besser pacen“, sagt sie am Endedes FURCHE-Gesprächs.Kathrin Frischmann hofft, ihre Krankheitüberwunden zu haben; im Frühlinglief sie einen Fünf-Kilometer-Frauenlauf.Viele Jahre konnte sie Sport nur vor ihreminneren Auge visualisieren. „Ich habe fasttäglich die Musik aufgedreht und im Geistgetanzt.“ Wer Frischmann fragt, ob sie nunwieder alles so macht wie zuvor, erhält einedifferenzierte Antwort. Als aktive Personsei der Impuls da, vieles zu unternehmen;zugleich sei mehr Achtsamkeit für die eigenenGrenzen geblieben. „Man geht schon inein neues Leben“, sagt Frischmann.Mehr zum Thema in „Dok 1“ auf ORF 1Viel Leid, wenig Hilfe – Die Krankheit ME/CFSTV-Dokumentation am 4.12., 20.15 UhrNächste Woche im Fokus:Sie war eine der eigenwilligsten undbedeutendsten Schriftstellerinnen des20. Jahrhunderts und prägte das Schreibenanderer Autorinnen und Autoren: Vor hundertJahren, am 20. Dezember 1924, wurdeFriederike Mayröcker in Wien geboren.GRAFENEGGADVENT05/12–08/12Konzerte / Kinderprogrammregionale KöstlichkeitenKunsthandwerksmarkttäglich von10.00 bis 19.00 UhrMehr Informationen untergrafenegg.com/advent© Teresa Grassinger
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE