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DIE FURCHE 28.11.2024

DIE FURCHE · 482428.

DIE FURCHE · 482428. November 2024Von Manuela TomicWickVaporubAls Kind sah ich allabendlichin der Flimmerkiste Werbungfür Wick Vaporub: Ein kleinerblonder Junge liegt mit Husten imBettchen, während er von Mutterund Vater gehätschelt wird. Eineriesige Hand greift in die Wick-Vaporub-Dose.Sie schmiert dem Jungendas heilsame Schmalz, aus demEukalyptusschwaden strömen, mütterlichauf die Brust. Am nächstenTag sitzt die ganze Familie gesundund glücklich am Frühstückstisch,trinkt Orangensaft, kichert. Trinkensie das Hohe C? Schmerzlich sehnteich mich beim Anblick des Spotsnach dieser dampfenden Dose undDosis. Würde mir Mutter einmal,statt nachts in der Pizzeria zu schuften,die Brust eincremen? Wäre Vateran meinem Bettchen, statt im Lkwtausende Kilometer entfernt über dieStraßen zu rollen? Der Wick-Vaporub-Neidhätte mich fast gefressen.Statt Hohes C trank ich Cola. MeineHaare waren pechschwarz, und inder Früh fuhr mich Mutter, ohne zukichern, in die Schule. Doch die Hoffnungstirbt zuletzt. Vielleicht wirdeinst am Sterbebett mein sehnlichsterWunsch erfüllt: die letzte Salbungmit Wick Vaporub. Ich denke anSchwaden von Weihrauch und Apokalyptus.Schließlich zahle ich nichtumsonst Kirchensteuer.Illu: RMMOZAIKManuela Tomic, Autorin und ehemalsFURCHE-Redakteurin, ist in Sarajevogeboren und in Kärnten aufgewachsen.In ihrer Kolumne schreibt sie überKultur, Identitäten und die Frage,was uns verbindet.Die Kolumnengibt es jetztals Buch!Rund um seinen 150. Geburtstag gibt es viele Argumente,Winston Churchill vom Sockel zu stoßen. Doch ein Grund wirdimmer bleiben, warum er auf diesen gehört: das Kriegsjahr 1940.Der Hitler vomBalkon jagteVon Wolfgang MachreichIm Matterhorn Museum in Zermatthängt ein gerahmter Churchill an derWand. Ein Foto vom britischen Premierim schwarzen Anzug mit weißemStecktuch sowie der für ihn typischengepunkteten Fliege, daneben die Seite 125 ausdem Führer-Buch des Bergführers JohannAufdenblatten. Am 23. August 1894, zurückvon der Dufourspitze im Monte-Rosa-Massiv,schrieb auf dieses Blatt ein gewisser WinstonSpencer Churchill, wohnhaft 50 GrosvenorSquare, London, seine Empfehlung fürden „geschickten, erfahrenen + umsichtigen“Aufdenblatten; dieser verstehe seine Arbeit,beschloss Churchill sein Lob auf den Bergler,„und ist einer der stärksten Führer, den ich jemalshatte“. 46 Jahre später, im Sommer 1940,wird sich Churchill als solcher „in dunkelsterStunde“ für Europa und die Welt erweisen.Dazwischen spannten sich Churchills militärischeund politische Lehr- und Wanderjahrevon einem Kriegsschauplatz zum nächsten,von einem Ministerposten zum anderen. Insofernist es stimmig, dass die Erinnerung anChurchills Aufstieg auf den höchsten SchweizerBerg neben den Devotionalien der Erstbesteigungdes Matterhorns ausgestellt ist.So wie der Triumph britischer Bergsteigerim Kampf ums Matterhorn in einer Tragödieund tödlichen Abstürzen endete, so reihtensich auch in Churchills Lebenslauf Erfolgeund Niederlagen, politische Höhenflüge wieDebakel in stupender Regelmäßigkeit aneinander.Bereits bei Churchills Geburt wechseltedie Kulisse zwischen Glamour und Grau inGrau: Seiner Mutter Jennie Jerome, Tochtereines New Yorker „King of Wall Street“-Millionärs,kamen beim Tanz im Ballsaal desFamilienschlosses Blenheimdie Wehen. Der Wegins Schlafzimmer dauertedem ersten ihrer beidenSöhne zu lang – sokam Winston LeonardKarl Schwarzenbergrezensierteam 21. Dezember1972 im Artikel„Churchill beschreibtChurchill“die Biografie desersten Herzogsvon Marlboroughund nanntesie „ein Buchmit weltgeschichtlicherRelevanz“;nachzulesenunter furche.at.Spencer-Churchill amAbend des 30. November1874 in der Damengarderobedes Palasts als Sturzgeburt„zwischen Samtmuffs,Pelzmänteln undFederhüten“ zur Welt.Blenheim Palace, einesder größten Schlösser Englands,ist benannt nachder Gemeinde Blindheimin der Region Augsburg,wo es dem englischen Feldherrn John Churchillim Verband mit Österreichs Prinz Eugen1704 in einer Schlacht gelang, eine französisch-bayrischeStreitmacht niederzuringen.Queen Anne erhob ihn dafür zum Herzog vonMarlborough und schenkte ihm das 187-Zimmer-Schlossals adäquaten Wohnsitz für einenFoto: Wolfgang Machreich„ Weder die Ignoranzder Eltern nochdie PrügelhöllensadistischerSchulleiter konntenihn brechen; denErziehungsmaschinenentkommen, öffnetesich ihm die Welt‚wie AladinsWundergrotte‘. “Kriegshelden dieser Zeit (siehe Eugens Belvederein Wien). Winston Churchill wird in einerseiner „Wüstenzeiten“, während er einpolitisches Amt verloren hatte und ein nächstesnoch nicht gewinnen konnte, diesem berühmtestenseiner Vorfahren eine voluminöseBiografie widmen. So wie seinem Vater, LordRandolph Spencer-Churchill, der es als Tory-Politiker in den 1880ern mit einer „unerhörtenSchärfe, Grobheit und wilden Witzigkeit“schaffte, die Konservative Partei wieder insRegierungsamt zu bringen und sich dabei denRuf des „berühmtesten, populärsten, meistkarikiertenund bestgehassten Politikers Englands“sowohl beim politischen Gegner alsauch in den eigenen Reihen zu erstreiten.Winston wird den Vater immer vergöttern,imitieren, ihm nacheifern: angefangen vonder Freude am politischen Hasardieren überdie messerscharfe Rhetorik bis hin zu gepunktetenFliegen am Hemdkragen, der Leidenschaftfür Zigarren und schließlich mitseinem Todestag am 24. Jänner 1965, exakt70 Jahre nach dem des Vaters. Lord Randolpherwiderte diese Liebe nicht, hielt Winston –und zeigte ihm das auch – für einen geborenenVersager. Berühmte Männer seien für gewöhnlichdas Produkt einer unglücklichenKindheit, schrieb Churchill in seiner Biografiedes ersten Herzogs von Marlboroughund beschrieb damit auch seine Schuljahre,die „auf der Landkarte meines Lebens einentrüben grauen Fleck“ hinterließen.Rassist, Kolonialist, ImperialistDoch weder die Ignoranz der Eltern noch diePrügelhöllen sadistischer Schulleiter konntenihn brechen. Den Erziehungsmaschinen entkommen,öffnete sich ihm die Welt „wie AladinsWundergrotte“, und er wusste: „Von nunan war ich Herr meiner Geschicke.“Die Reise in die Schweiz kurz vor seinem20. Geburtstag und der Aufstieg auf die höchsteSpitze der Monte Rosa markierten den Beginnvon Churchills Karriereleiter. Auf ihrer oberstenSprosse angelangt, wird ihn die königlicheFamilie bei der Siegesfeier zum Ende des ZweitenWeltkriegs am 8. Mai 1945 auf dem Balkonvon Buckingham Palace in ihre Mitte nehmen.Ein symbolträchtiges Bild, gerade aus österreichischerPerspektive! Sieben Jahre und 54 Tagenachdem Adolf Hitler vom Altan der NeuenBurg über dem Wiener Heldenplatz mit Blickauf das Reiterstandbild Prinz Eugens den sogenannten„Anschluss“ Österreichs ans DeutscheReich verkündet hatte, hat der Nachfahreeines Waffenbruders des erfolgreichsten Feldherrnder Habsburger Hitler von diesem undallen anderen Balkonen verjagt.Natürlich nicht er allein. „Aber in den Jahren1940 und 1941 war Churchill der Manndes Schicksals“, beschrieb sein Biograf SebastianHaffner die historische Einzigartigkeitdes Briten: „In diesen Jahren schmilzt seineBiografie in die Weltgeschichte ein; man kanndie eine nicht ohne die andere erzählen.“ Genausokann man heute nicht von Churchill ohneVerweis auf seine rassistischen Ansichten,seine imperialistischen und kolonialistischenÜberzeugungen erzählen. Zur berechtigtenKritik an ihm gehört auch seine Kriegslust,die verantwortungsvolle Befehle zuweilenübertrumpfte und zigtausende Soldatenin Todesfallen oder Gefangenschaftschickte – imErsten Weltkrieg auf dertürkischen Halbinsel Gallipoli,im Zweiten in Norwegen.Sein Appeasementgegenüber Mussolini undsein Kotau vor Francostellen wiederum ChurchillsantifaschistischeÜberzeugung infrage, sowie die Bombenteppicheauf deutsche Städte seineMenschlichkeit.„Es ist das Leidige mitder historischen Größe,dass sie schwerlich jenenabzusprechen ist, diesehr viel in Bewegung setzen – vorausgesetzt,dass Meriten und Mankos sich wenigstens einigermaßendie Waage halten“, wagt FranziskaAugstein in ihrer kürzlich erschienenen600-Seiten-Biografie ein Fazit – und zieht denrichtigen Schluss: „So gesehen war Churchillohne Zweifel ein großer Mann.“

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