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DIE FURCHE 28.11.2024

DIE FURCHE · 4810

DIE FURCHE · 4810 Religion28. November 2024Von Regina PolakOb nun die Wahl Donald Trumpsoder der Angriff Russlands aufdie Ukraine: Der Begriff „Zeitenwende“ist in politischenAnalysen aktuell ein vielverwendeter.Aber auch in der Wissenschafttaucht das Wort seit einiger Zeit vermehrtauf. Der Soziologe Harald Welzerbeschreibt mit ihm die Erosion materiellerund mentaler Infrastrukturen im Gesundheits-und Bildungssystem, im öffentlichenVerkehr und in der Demokratie infolge vonvier Jahrzehnten neoliberaler Fehlsteuerungund multipler Krisen. In Bezug aufden Klimawandel fordert er eine Zeitenwende,da sonst das Zeitenende drohe.Angesichts von Krieg, Klimakrise undDemokratieverdrossenheit verlangt derPhilosoph und Publizist Michel Friedmanebenfalls eine Zeitenwende: Das Schlaraffenlandsei abgebrannt und die Angst voreiner neuen Zeit zu überwinden. Der PolitikwissenschafterHerfried Münkler wiederumerkennt im Kampf um eine neuegeopolitische Weltordnung den Übergangin eine neue geschichtliche Epoche. Historischsei dies normal, Europa habe sichnur in falscher Sicherheit gewiegt. Die Dramatikder Zeitenwende im Kontext der Klimakrisehat schließlich auch der französischePhilosoph und Soziologe Bruno Latourdeutlich gemacht, als er bereits 2017 einvöllig neues Weltverhältnis und einenWandel der Werte einforderte, die nicht wenigerals die Werte der Moderne fundamentalinfrage stellen. „Zeitenwende“ ist einKrisenbegriff.Sinnsuche in kleinen LebensweltenDie Europäische Wertestudie und die inKooperation mit dem ORF 2024 durchgeführteStudie „Was glaubt Österreich?“ belegen,dass ein signifikanter Teil der befragtenMenschen in Österreich auf dieKrisen der Gegenwart negativ reagiert.Viele wenden sich einem illiberalen undautokratischen Demokratieverständniszu. Zwar machen sich 60 Prozent Sorgenwegen des Klimawandels, aber nur elf Prozentfühlen sich mitschuldig. Weder dieKirchen noch der christliche Glaube scheineneiner Mehrheit der Befragten aktuellals Ressource für Hoffnungspotenzialezur Verfügung zu stehen. Das Vertrauen indie Kirche liegt bei 28 Prozent der Befragten;ein christlich formatierter Glaube anGott implodiert, und 37 Prozent – darunterauch viele Christen – glauben an ein vorherbestimmtesSchicksal. Nur 18 Prozentder Befragten sehen zuversichtlich in dieZukunft und meinen, dass die Menschheitdie vielen Krisen bewältigen wird. Sinn suchendie Menschen vor allem in ihren kleinenLebenswelten, in der Familie und imFreundeskreis. Die Diagnose einer „Zeitenwende“löst bei einer Mehrheit der Menschenprimär Abwehr und Rückzug aus.Wie soll die Pastoraltheologie auf dieseSituation reagieren? Karl Rahner betonte,dass der Entwicklung konkreter Handlungsoptionenzunächst immer eine theologischeSituationsanalyse voranzugehenhabe – wohlgemerkt: eine theologische,nicht nur eine sozialwissenschaftliche.Gesellschaftliche Entwicklungen müssenzwar zuerst empirisch solide erforscht, derenBefunde aber aus der Sicht eines theologischreflektierten Glaubens interpretiertwerden. Gefragt ist also auch eineArt Geschichtstheologie der Gegenwart.Da solche Deutungen historisch zu oft mitAngstmache und Gewalt verbunden waren,scheut vor allem die deutschsprachigeTheologie vor einem solchen Unterfangenguten Grundes zurück. Gottes Wirkenin der Geschichte identifizieren? Zu präsentist die Erinnerung an die „Theologie“Adolf Hitlers, der den Nationalsozialismusund seine eigene Person als göttliche Vorsehungverkündet hatte.Aber: Ohne theologisch nach dem Sinnund der Bedeutung all dessen zu fragen,was uns aktuell widerfährt, drohen die Gefahreiner Musealisierung Gottes, eine einseitigeMoralisierung in der Verkündigungund eine sterile Theologie.250-Jahr-JubiläumSeit 1774 wird ander Uni Wien zuPastoraltheologiegelehrt und geforscht.Aus diesemAnlass fand dieserTage ein hochkarätigesSymposiumzur Zukunftder Pastoraltheologiestatt.Papst Franziskus riskierte bei seinerWeihnachtsansprache an die Kurie 2019 eineDeutung unserer Zeit. Er spricht von einemEpochenwandel: „Die Zeit, in der wirleben, ist nicht nur eine Epoche der Veränderungen,sondern die eines Epochenwandels.Wir stehen also an einem der Momente,in denen die Veränderungen nicht mehrlinear sind, sondern vielmehr epochal; siestellen Weichenstellungen dar, die die Artdes Lebens, der Beziehungen, der Formungund Kommunikation des Denkens, des Verhältnisseszwischen den menschlichen Generationenund dem Verständnis und der„ Ohne theologisch nach dem Sinndessen zu fragen, was uns widerfährt,drohen die Gefahr der MusealisierungGottes, eine Moralisierung in derVerkündigung und eine sterileTheologie. “Lesen Sie dazuden Kommentar„LebendigeKirche?“(21.11.2020)von KA-PräsidentFerdinandKaineder auffurche.at.Das Vertrauen in die Kirchen ist auf dem Tiefpunkt. Dabeiwäre eine Interpretation der Evangelien im Lichte der aktuellenKrisen ein Beitrag zu mehr gesellschaftlicher Resilienz.Der Glaube anGott implodiertAusübung von Glauben und Wissenschaftschnell verwandeln.“ Und er erinnert indieser Rede daran, dass sich Gott auch inder zeitgenössischen Geschichte offenbart,nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich.Neu ist eine solche Geschichtstheologienicht. Die zentralen Texte der HeiligenSchrift sind Ausdruck des Ringens ihrerVerfasser um den Sinn und die Bedeutungder Krisen und Katastrophen, die dasVolk Gottes durchlitt und in denen sie immerwieder das Wirken Gottes erkannten.Sie sind nicht am Tisch von Akademikernentstanden, sondern mühsam erkämpfteLernergebnisse dieses gläubigen RingensFoto: iStock/crazycroatum Sinn. Dieses Ringen verbindet sich mitLeiden, Klagen und Fluchen; sogar mit Gottwird gehadert. Aber im Zentrum steht dieErfahrung, dass Leid, Tod und das Bösenicht das letzte Wort haben werden, weilGott mit seinem Volk ist.Auch die Vorstellung einer „Zeitenwende“ist zutiefst biblisch und mit Krisenerfahrungenverbunden. Aber in den eschatologischenTexten wird von der Vollendung derSchöpfung, einem Himmel auf Erden und einerWelt erzählt, die schon jetzt anders undgut wird. Und selbst in den apokalyptischenTraditionen, die die jeweilige Gegenwartnur mehr als Unheilszeit wahrnehmen können,gibt es die Hoffnung auf eine Neuschöpfungdurch Gott. Diese Hoffnung ist keinOptimismus, sondern eine praktisch-theologischeKategorie: Sie stärkt Resilienz undMut und eröffnet Widerstandskraft.Auch Jesus und seine Jünger und Jüngerinnenwaren Apokalyptiker. Als Juden warensie zutiefst davon überzeugt, dass dieendgültige Zeitenwende bevorsteht unddie Verheißungen Gottes an Israel unmittelbarerfüllt werden: Die Geschichte wirderlöst, das Böse wird besiegt, die Totenwerden auferweckt, und eine universaleHerrschaft von Frieden und Gerechtigkeitbricht an. Kronzeuge dieses leidenschaftlichenGlaubens war Jesus mit seiner Kernbotschaft:„Die Zeit ist erfüllt und das ReichGottes ist nahe. Kehrt um und vertraut aufdas Evangelium!“ (Mk 1,15). Und doch: DieZeitenwende blieb aus, stattdessen Leiden,Krisen, Katastrophen.Die Judaistin Paula Fredriksen beschreibteindrücklich, wie die AnhängerJesu mit dieser Enttäuschung umgingen.So verbergen sich etwa im Hintergrund derin der Apostelgeschichte so harmonischgeglätteten Entstehungsgeschichte dessen,was wir heute Kirche nennen, Krisen,in denen die Anhänger Jesu „verstörendeEnttäuschungen von mindestens vier vorausgesagtenZeitenwenden“ durchlitten.Die erste war verknüpft mit dem PessachfestJesu in Jerusalem um 30 n. Chr., als dieJünger die Kreuzigung Jesu erlebten. Auchnach der Auferstehung Jesu blieb das ReichGottes aus; die Erscheinungen des Auferwecktenversiegten. Die dritte Katastrophebahnte sich fast an, als Caligula um 39/40n. Chr sein Bildnis im Tempel aufrichtenwollte. Und die vierte Enttäuschung folgte,als 70 n. Chr. der Tempel zerstört wurdeund unzählige Juden und Judenchristenim Krieg gegen die Römer verschleppt wurdenoder starben. Fredriksen zeigt, wie dieAnhänger Jesu auf die immer wieder abgesagteAnkunft des Reiches Gottes auf Erdenreagierten: Sie transformierten ihreEnttäuschungen in einen kreativen Lernprozess,übten Selbstkritik und fragtensich, was sie von der Botschaft der Thoraund ihrem Messias noch besser verstehenmüssten. Sie reinterpretierten ihre Texteund Traditionen im Licht der je aktuellenKrisen. Die Hoffnung gaben sie nicht auf.Die Evangelien sind aus dieser Sicht Resilienz-und Hoffnungsliteratur.Dramatik der taumelnden WeltEine solche Reaktion auf Krisen und Katastrophenist uns in Westeuropa nichtnur weitgehend fremd geworden, sie erscheintmanchen – auch innerhalb der Kirchen– unrealistisch, weltfremd und naiv.Zu ernüchtert sind viele angesichts der GewaltgeschichteEuropas, der aktuellen Bedrohungsszenarienund der mühseligen Reformkraftder Kirche. Vielerorts stößt manauf Depression, Resignation, Ohnmachtsgefühleund Handlungslähmung. Kirchlichherrscht eschatologische Amnesie, sie leidetmit der Gesellschaft an der Moderne.Was bedeutet die Erinnerung an das biblischeErbe für die Pastoraltheologie undfür die katholische Kirche? Zuerst verlangtes Zeitsensibilität, die sich auch auf diezeitgenössische Geschichte bezieht. Pastoraltheologiewar immer schon zeitsensibel.Derzeit ringt das Fach, wie die Kirche insgesamt,vor allem mit binnenkirchlichenProblemen. Die Dramatik einer taumelndenWelt wird nur von wenigen theologischthematisiert. Leiden nicht auch unser Fachund die Kirche an eschatologischer Amnesieund einem Mangel an Vorstellungen einerbesseren Zukunft für Europa und seineKirchen?Mit Blick auf eine biblisch verstandene„Zeitenwende“ gilt es, sich wieder stärkeran das eschatologische und apokalyptischeErbe der biblischen Tradition zu erinnern.Basierend darauf, können Bilder und Vorstellungenfür eine bessere Zukunft für einenbedrohten Planeten, eine taumelndeWelt und eine in Europa resignativ und müdegewordene Gesellschaft und Kirche entwickeltwerden. Dazu verpflichtet das biblischeErbe. Aber ist das nicht absurd ineinem Westeuropa, in dem die Kirchen undder Glaube gerade implodieren?Der orthodoxe Theologe und Pater AlexanderWladimirowitsch Men, 1990 nochOpfer des KGB, stellte fest: Nur begrenzteMenschen können sich einbilden, dasChristentum sei vollendet oder bereitsverwirklicht worden. Eine Pastoraltheologie,die auf ihre biblische Herkunft setzt,könnte dann – so wie Karl Rahner es einstgeschrieben hat – das „prophetisch aufmunterndeGewissen“ der Kirche und derGesellschaft sein. Der jüdische, säkulareEthiker Omri Böhm nannte eine solchprophetische Rede „kontrafaktisch“. FürBöhm kann solch kontrafaktische Redefalsch, verrückt und auch gefährlich sein.Das ist nicht auszuschließen. Aber siekann auch die Wahrnehmung für das Erhabeneöffnen, das Juden und Christen Gottnennen. Und eine solche Erfahrung lässtvielleicht wieder in ein Handeln kommen,das von widerständiger Hoffnung auf einegute Zukunft getragen ist.Die Autorin ist Praktische Theologin undVizedekanin für Lehre der Katholisch-TheologischenFakultät der Universität Wien.

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