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DIE FURCHE 28.09.2023

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DIE FURCHE · 39 8 Gesellschaft/Philosophie 28. September 2023 FORTSETZUNG VON SEITE 7 lich Gewünschte? Insofern tun wir der Sache mit künstlichem Fleisch eigentlich nichts Gutes. DIE FURCHE: Kommen wir zum zweiten großen Thema, an dem Sie die Selbst-Überschätzung des Menschen durchdeklinieren – nämlich das Sterben und die Versuche des Menschen, es durch Optimierung des Leibes hintanzuhalten. Als Beispiel führen Sie den Trend zum Self-Tracking an... Hirn: In der Menschheitsgeschichte gab es immer Methoden, nicht nur Trauer-, sondern auch Todesbewältigung zu üben. Doch nun sind wir in einer neuen Ära angekommen, wo wir all dies mit dem Messen von Temperaturen und Schritten bis zur Intensitätsmessung einer Meditation überwachen wollen. Und im Unterschied zum Foucault’schen Menschen, wo die böse Biopolitik uns kontrolliert, machen wir das nun – mehr oder minder freiwillig – selbst. Die Frage ist: Was wollen wir damit eigentlich erreichen? Und hier stoßen wir auf viele Leerstellen. Es gibt keine große Utopie mehr, sondern nur das Ziel einer Verlängerung von Lebenszeit. Die Fragen nach der Lebensqualität und wozu wir eigentlich länger leben wollen, die bleiben offen. DIE FURCHE: Wobei uns die Smartphones, mit denen wir beim Self-Tracking zusehends verwachsen, auch immer mehr den Rang ablaufen. Stichwort ChatGPT. Ist der Vormarsch der Künstlichen Intelligenz der ultimative Beleg menschlicher Verletzlichkeit? Hirn: Ich sehe es eher als weiteres Beispiel verletzter Eitelkeit. Einmal mehr scheint die Besonderheit des Menschen angegriffen zu werden. Der Technikphilosoph Günther Anders sprach einst von „prometheischer Scham“: Der Mensch als Erfinder seiner Maschinen fühlt sich diesen im direkten Vergleich unterlegen. Die eigentliche Bedrohung sehe ich Foto: Inge Prader Lisz Hirn, geboren 1984, arbeitet als Publizistin und Philosophin in der Jugend- und Erwachsenenbildung, u. a. am Universitätslehrgang „Philosophische Praxis“ der Universität Wien. Lesen Sie dazu auf furche.at von Gerfried Stocker: „Künstliche Intelligenz: Wovor wir uns wirklich fürchten sollten“ (8.3.2023). aber anderswo: nämlich bei den Urheberrechtsverletzungen, die die Konzerne bei der Entwicklung dieser Künstlichen Intelligenzen begangen haben; bei der Machtakkumulation einzelner Techkonzerne; oder bei der Frage, wie viel uns menschliche Arbeit wert ist. Was ist, wenn plötzlich ein Roboter oder eine Künstliche Intelligenz für einen Vortrag, einen Buchbeitrag oder eine Bühnenperformance gebucht wird und nicht ein Mensch aus Fleisch und Blut – schlicht weil das viel, viel billiger ist? „ Wenn Deep Fakes so gut sind, dass man alles und jeden kopieren kann, wird das leibliche Zeugnis wieder wichtiger – im Sinn von: ich war dabei, ich habe mich überzeugt. “ DIE FURCHE: Bei Übersetzungen ist das längst schlagend, ebenso in der Filmbranche, wo man sich Synchronisationen sparen kann. Hirn: Auch das ist wieder eine Demütigung des Menschen: Diese außergewöhnlich komplexe Sprachfähigkeit, die bislang nur ihm zugeschrieben wurde – in Abgrenzung zu „anderen Tieren“ –, ist plötzlich bedroht. Aber wie gesagt: Vorerst wird mittels künstlicher Intelligenzen nur Menschliches imitiert. DIE FURCHE: Cyborgs – also Mischwesen zwischen Maschine und Organismus – galten lange als Dystopie. Sie schreiben, dass wir „Meta-Menschen“ längst zu solchen Hybriden geworden wären. Hirn: Auch dieses Unbehagen ist nicht neu, wir kennen das seit Frankenstein – und auch die erwähnte Donna Haraway hatte das schon in den 1970er und 1980er Jahren auf der Agenda. Die Frage ist, warum es uns eigentlich beängstigt, zumal längst künstliche Herzklappen oder andere Implantate eingesetzt werden. Auch bei Diabetespatienten zeigt sich, wie sehr wir längst von Maschinen abhängen und davon auch profitieren. Die Wahrnehmung ist aber eine andere – und hier sind wir wieder bei der Überschätzung des Menschen: Wir halten uns noch immer für sehr autonom und mündig in Bezug auf diese Maschinen. Dabei sind etwa die Smartphones längst eine Form von Ich-Erweiterung geworden. Die Frage ist für mich eher: Schaffen wir es, diese Techniken und Gerätschaften so zu bemeistern, dass wir all ihre Trigger-Mechanismen klar am Radar haben? Denn die sind es, die uns auf ganz basaler Ebene treffen: Sie sprechen unsere Triebe und unser Belohnungszentrum an, sie triggern Aggressionen und Affekte – also alles, was wir als vernünftige Wesen gern unter Kontrolle hätten. DIE FURCHE: Inwiefern ist hier die Politik gefordert? Hirn: Ohne Regulierungen seitens der Politik wird es nicht gehen. Wenn Plattformen und Techkonzerne nicht von der Politik gezwungen werden, Datenschutzbestimmungen und Urheberrechte einzuhalten, bekommen wir ein Problem. DIE FURCHE: Kommen wir zu dem, was angesichts all dieser Entwicklungen getan werden müsste. Sie sehen für das Mängelwesen Mensch drei Optionen: Flucht in den Nihilismus, weiteres Verharren in Beliebigkeit – oder „aktive Sorge um das Flüchtige, Lebendige“. Was meinen Sie damit? Hirn: Wir haben schon gesprochen über jene Arbeiten und Berufe, die tatsächlich oder angeblich von Robotern oder Künstlicher Intelligenz bedroht sind. Daneben gibt es aber auch Bereiche, die noch lange nicht ersetzt werden können: etwa die Pflege. Derzeit sind das aber gerade jene Jobs, die viele nicht machen wollen, weil sie wenig sozialen Status haben und schlecht bezahlt sind. Aber wie kann das sein? Warum ist das, was uns noch ein gewisses Maß an menschlicher Einzigartigkeit gewähren würde, das, was wir überhaupt nicht oder nur wenig schätzen? Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Insgesamt glaube ich, dass wir uns auf die falschen Ängste fokussieren. Die Angst davor, dass uns Roboter bedrohen, halte ich für irrational. Wovor wir hingegen wirklich Angst haben sollten, sind gewisse transhumanistische und posthumanistische Visionen, die diverse Konzernchefs vor Augen haben, totalitäre Tendenzen durch Überwachung und Kontrolle, das Problem des Datenschutzes oder auch der Verlust des Rechts auf (digitales) Vergessen. DIE FURCHE: Am Ende Ihres Buches plädieren Sie für „leibliche Präsenz als Zeugnis“. Was meinen Sie damit? Hirn: Wenn beispielsweise Deep Fakes so gut sind, dass man alles und jeden kopieren kann, könnten das leibliche Zeugnis und der präsente Moment wieder eine neue Bedeutung bekommen – im Sinn von: Ich war dort, ich habe es selbst gesehen und gehört, ich habe mich davon überzeugt. Das wäre meine Utopie: dass das menschliche Miteinander wieder wichtiger wird. Der überschätzte Mensch Anthropologie der Verletzlichkeit von Lisz Hirn Zsolnay 2023, 128 S., geb., € 20,95 Warum wir eine „neue Aufklärung“ brauchen Der Autor Philipp Blom spricht in diesem Podcast mit FURCHE-Wissen- Redakteur Martin Tauss über die Neuaufstellung des modernen Weltbilds. Angesichts der Verwirrungen im digitalen Info-Dschungel plädiert Blom für eine Stärkung unserer geistigen Autonomie und eine Neuaufstellung des modernen Weltbilds. DER CHANCEN PODCAST furche.at/chancen

DIE FURCHE · 39 28. September 2023 Religion 9 Am 29. September vor hundert Jahren verstarb Antonín Cyril Stojan, Erzbischof von Olmütz. Mit den „Velehrader Unionskongressen“ hatte er eine Versöhnung zwischen West- und Ostkirchen versucht. Nicht zuletzt deswegen ist er auch ein Kandidat für die Seligsprechung. Für die Einheit von West und Ost Von Wolfgang Bahr Antonín Cyril Stojan verkörperte das Bemühen um die Einheit von West- und Ostkirche für die Westslawen so, wie dies vor ihm Josip Juraj Strossmayer für die Südslawen getan hatte. Beide kämpften für die Rechte ihres Volkes auch in Gesellschaft und Politik. Die Biografien der beiden Bischöfe hätten aber nicht unterschiedlicher sein können: Während der Kroate Strossmayer 1850 mit 35 Jahren als Oberhirte der Diözese Đakovo antrat und dieses Amt bis zu seinem Tod 55 Jahre später ausübte, avancierte der Tscheche Stojan erst mit 57 Jahren vom Pfarrer zum Kanonikus und 1921 mit 70 Jahren zum Bischof. Antonín Stojan wurde 1851 in dem mährischen Dorf Beňov geboren, der Cyril kam hinzu, als er gefirmt wurde. Das war 1863, als im Wallfahrtsort Velehrad die Ankunft der Slawenapostel Kyrill und Method im Großmährischen Reich vor 1000 Jahren gefeiert wurde. Method ist 885 vermutlich in der Nähe von Velehrad verstorben und begraben worden. Das Gymnasium besuchte Stojan bei den Piaristen in Freiberg (Přibor) und in Kremsier (Kroměříž). Theologie studierte er in Olmütz (Olomouc), danach wirkte er als Kaplan wieder in Freiberg, ehe er Pfarrer in Dražovice wurde. Foto: Dominik Novák – Clovek a Víra Das Projekt Velehrad In den hier verbrachten zwanzig Jahren ging der energiegeladene Geistliche ganz in der Pastoral auf. Überzeugt von der Bedeutung der Bildung engagierte er sich etwa für die Einrichtung von Pfarrbüchereien und erwarb mit 45 Jahren das Doktorat. Im Jahr darauf, 1897, zog er als Mandatar der Christlichsozialen Partei ins Abgeordnetenhaus in Wien ein und wurde dreimal wiedergewählt. Er war überzeugt, dass Seelsorge sich nicht auf Frömmigkeitsübungen beschränken könne, sondern auch die äußeren Lebensbedingungen der Menschen verbessern müsse. Stojans ureigenstes Anliegen war jedoch das Projekt Velehrad. Praktisch veranlagt und organisatorisch begabt sorgte er sich zunächst um die Renovierung der Wallfahrtskirche und die Adaptierung des einstigen Zisterzienserklosters. Ermuntert von der Enzyklika Grande munus des Reformpapstes Leo XIII., die 1880 den Kult der beiden Slawenapostel auf die ganze Welt ausdehnte, setzte er sich mit voller Kraft für die Versöhnung von Ost- und Westkirche ein. Kyrill und Method, auf die sich Westwie Ostkirche gleichermaßen berufen, seien dabei ein idealer Anknüpfungspunkt. Der Dorfpfarrer unterhielt europa-, ja weltweite Kontakte. Fünfzig bis siebzig Briefe soll er täglich geschrieben haben. Von besonderer Bedeutung waren die von Stojan initiierten Publikationen und Organisationen, mit dem 1891 gegründeten „Apostolat der heiligen Kyrill und Me thod“ an der Spitze. 1890 hatte der Olmützer Erzbischof Friedrich Fürstenberg die Jesuiten nach Velehrad geholt. Nach der Wende von 1989 und besonders dem Besuch von Papst Johannes Paul II. 1990 entfalten sie hier wieder eine bedeutsame Aktivität. Im Mittelpunkt steht dabei das römische „Centro Aletti“ mit seiner Niederlassung in Olmütz, heute geleitet von Schülern Kardinal Tomáš Špidlíks (1919–2010), der so wie Antonín Cyril Stojan in der Velehrader Basilika begraben ist. 1907 fand der erste Unionskongress statt, 1909 der zweite und 1911 der dritte. Weitere sollten erst nach dem Ersten Weltkrieg und dem Tod des Initiators folgen. Dessen Hoffnungen erfüllten sich nicht im ersehnten Ausmaß, denn nur sporadisch folgten orthodoxe Kirchenmänner den Einladungen. Von großer Bedeutung hingegen war die Teilnahme des griechisch-katholischen Großerzbischofs von Lemberg Andrej Scheptyzkyj (1865–1944). Erstmals wurde die Existenz der eigenständigen, aber mit Rom unierten Kirche global zur Kenntnis genommen und auch innerkirchlich aufgewertet. Späte Anerkennung 1908 erhielt Stojan ein Kanonikat in Kremsier, von wo er leichter reisen und sich dies auch leisten konnte, denn der bescheiden lebende Pfarrer hatte oft seine letzten Kreuzer zusammenkratzen müssen, um seinen Pflichten in Wien nachkommen zu können. Erst Ende Dezember 1917 erhielt Stojan ein Kanonikat in Olmütz und mit dessen Antritt am 1. April 1918 nahm sein Leben eine rasante Wendung. Die Ereignisse, die am 28. Oktober zur Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik führten, überstürzten sich. Stojan wurde Mitglied der Tschechoslowakischen Nationalversammlung und 2020 Mitglied des Prager Senats. „ Bei den Velehrader Unionskongressen wurde erstmals die Existenz der eigenständigen, aber mit Rom unierten Kirche global zur Kenntnis genommen und innerkirchlich aufgewertet. “ Als der Olmützer Erzbischof Kardinal Lev Škrbenský so wie die anderen in der Monarchie nominierten Bischöfe auf sein Amt resignierte, hatte er Stojan bereits zum Kapitelvikar und präsumtiven Nachfolger ernannt. Stojans loyale Haltung zum neuen Staat stand außer Frage und auch von deutscher Seite wurde seine Wahl begrüßt. Der Vatikan wiederum konnte sicher sein, dass er angesichts massenhafter Abspaltungen von der Kirche und der katholikenfeindlichen Einstellung des Staats den römischen Standpunkt mit Nachdruck vertreten würde. Doch nach der Bischofsweihe am 3. April 1921 waren dem Überlasteten nur zwei aktive Jahre als mährischer Metropolit vergönnt. Nach einem zweiten Schlaganfall am 11. Mai 1923 verstarb er am 29. September. 1965 wurde der Seligsprechungsprozess eröffnet und 1985 abgeschlossen. Papst Franziskus hat Stojans heroischen Tugendgrad bestätigt und Pavel Ambros, der derzeitige Leiter des Centro Aletti, setzt in seiner Biografie des Dieners Gottes ganz offen Erzbischof Stojan GLAUBENSFRAGE Jom Kippur 2023 Moderne Ikone mit dem Bild von Antonín Cyril Stojan, die sich am Sarkophag des Bischofs in der Wallfahrtsbasilika von Velehrad befindet. Jom Kippur in der Brodyer Synagoge, dem einzig erhaltenen historischen Synagogenbau Leipzigs. Das jüdische Bethaus ist fast voll. Jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus der Ukraine, Jüdinnen und Juden aus Deutschland, Israel, Ungarn und den Vereinigten Staaten. Es scheint fast wie ein Augenblick der Normalität, wäre da nicht die Erinnerung an den Anschlag auf die Synagoge und einen Dönerimbiss in Halle vor vier Jahren und überhaupt das Bewusstsein, dass gerade hier das politische Pendel immer weiter nach rechts schwingt. In den Gebeten bitten wir den Schöpfer zu gedenken, dass der Mensch nur Staub ist. Jom Kippur ist ein Tag der Buße, der „Umkehr“. Doch eigentlich ist es auch ein Tag der Versöhnung. Versöhnt sollen werden die Menschen und die Zeiten. Der Akt der Umkehr, der Teschuwa, ist eben nicht nur Reue, sondern auch die Fähigkeit, etwas gleichzeitig zu sehen. Max Scheler, der ursprünglich jüdische Denker, der sich zeitweilen auch als Katholik fühlte, beschrieb Lesen Sie auch Wolfgang Bahr über Bischof Strossmayer am 25.8.2005, nachzulesen unter „Katholischer Panslawismus“ auf furche.at. auf eine Seligsprechung durch den argentinischen Papst. Er führt dafür nicht so sehr Stojans ökumenische Bemühungen ins Treffen als dessen Absage an klerikale Allüren und sein Priesterbild als Dienst an den Menschen. So wie es Bischof Strossmayer erspart geblieben ist mitanzusehen, wie sich Kroa ten und Serben noch in den 1990er Jahren zerfleischten, so musste Erzbischof Stojan nicht erleben, wie hundert Jahre nach seinem Tod ein orthodoxes Land ein anderes überfällt und die griechisch-katholische Kirche wieder zwischen den Stühlen sitzt … Von Asher D. Biemann die Umkehr einmal als den Punkt, wo man zugleich zurück ins Tal und nach vorn dem Berg entgegenblickt. Es ist tatsächlich il punto a cui tutti li tempi son presenti, wie es bei Dante hieß: Eine Gleichzeitigkeit aller Zeiten und Zeitgenossen. In diesem Zugleich erst können wir die eigenen Fehler und deren Folgen uns ganz vor Augen führen, sie wirklich bereuen. Denn hier erst erkennen wir unsere Mitmenschen als Gleichzeitige an, als Gegenwärtige. Die Gegenwart unserer Mitmenschen ist nicht nur Sache des Raumes. Wir mögen den Fremden vor Grenzen stellen, den Unerwünschten von uns schieben, ein Land für unseres allein erklären. Über die Zeit aber können wir nicht frei verfügen. Da sind wir alle Zeitgenossen, gehören wir alle zusammen—und tragen am Ende dieselbe Verantwortung füreinander. Der Autor ist Professor für moderne jüdische Philosophie an der University of Virginia, USA.

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