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DIE FURCHE 28.09.2023

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DIE FURCHE · 39 6 Politik 28. September 2023 Grüne Zukunft Während Vizekanzler Werner Kogler und Klubobfrau Sigi Maurer die Koalition verteidigen, stören sich Ex-Grünen-Mitglieder wie Peter Pilz und Eva Glawischnig an fehlenden Narrativen. Lesen Sie dazu auch den Artikel „Die Grünen muss man sich leisten können!“ von Brigitte Quint (12. Mai 2021) auf furche.at. Von Manuela Tomic KLARTEXT Das Ringen um Abtreibung In den letzten Tagen ist die Debatte über Schwangerschaftsabbrüche in Österreich wieder neu entflammt. Grund dafür: Der einzige Arzt Vorarlbergs, der Abtreibungen durchführt, geht in Pension. Auf den Vorschlag der Landesregierung, Abtreibungen im Krankenhaus durchführen zu wollen, meldete sich der Bischof zu Wort und meinte, das Krankenhaus sei „nicht der richtige Ort“ für Abtreibungen. Die Regierung ruderte deswegen zurück (vgl. Seite 12). Abtreibungen gehören zu einer der polarisierendsten Fragen in der Politik. Für viele Menschen besteht hier ein Dilemma zwischen zwei wichtigen moralischen Zielsetzungen: dem Schutz des ungeborenen Lebens versus dem Selbstbestimmungsrecht der Frau. Allerdings sind Abtreibungen nicht nur eine Frage der Moral oder der Selbstbestimmung, sondern vor allem auch eine Frage der öffentlichen Gesundheit. WHO-Statistiken zeigen, dass in Ländern, wo Abtreibung legal ist, weniger Abbrüche stattfinden als in Ländern, wo sie verboten ist. Restriktionen führen nicht zu weniger, Seit Dezember 2019 regieren die Grünen mit der ÖVP. Ist der Preis zu hoch? Grünen-Urgestein Andreas Wabl betreibt in seinem neuen Buch eine kritische und notwendige Nabelschau. „War es das wert?“ jenen acht, die im Jahr 1986 erstmals in den Nationalrat eingezogen sind, bin ich tatsächlich der letzte, der „Von noch bei den Grünen ist. Alle anderen haben sich von der Politik zurückgezogen, sich komplett mit den Grünen verworfen oder sind nicht mehr am Leben.“ Das schreibt Andreas Wabl, Mitbegründer der Grünen, zu Beginn seines neuen Buches: „Was wurde aus den Grünen?“ (K&S). Das Buch, das der 72-Jährige gemeinsam mit seinem Neffen Stephan Wabl verfasst hat, ist mehr als eine ideologische Nabelschau. Die Autoren stellen wichtige Fragen wie „Ist aus den Grünen eine Machtpartei geworden?“, „Steht die Partei noch für die alten Ideale?“, „Haben die Grünen die Jugend von heute verloren?“ und „Was ist aus dem grünen Kampfgeist geworden“? Aber zu erst alles auf Anfang. Am 15. Mai 1982 versammelten sich in Wien 70.000 Menschen unter dem Motto: „Den Atomkrieg verhindern! Abrüsten!“ Sie wollten nichts weniger, als im Kalten Krieg ein Zeichen für den Frieden setzen. Hippies, Pensionisten und Pensionistinnen, Punks und Beamtinnen und Beamte hielten Transparente mit der Aufschrift „Im Westen und im Osten, die Waffen sollen verrosten“ in die Höhe. Sechs Monate später wurde die ALÖ, die „Alternative Liste Österreich“, und somit die Vorgängerpartei der Grünen, geboren. Der Rest ist Geschichte. Aber schon in dieser Eingangsszene zeigt sich, wie aktuell der Geist der Grünen auch heute noch sein könnte. Um diesen Geist zu ergründen, spricht Andreas Wabl in seinem Buch unter anderem mit Von Julia Mourão Permoser sondern nur zu unsicheren Abtreibungen. (Eine solche Entwicklung ist in Polen, Ungarn sowie in den USA zu befürchten). Unsichere Abbrüche sind wiederum eine bedeutende Quelle von medizinischen Komplikationen. 13 Prozent der Müttersterblichkeit sind weltweit auf unsichere Abtreibungen zurückzuführen. In Österreich wurde in den 1970er Jahren mit der Fristenregelung ein Kompromiss gefunden, durch den die Frage größtenteils entpolarisiert werden konnte. Die Regelung genießt gesellschaftliche Akzeptanz. Im Sinne dieses Kompromisses – und um die öffentliche Gesundheit und den sozialen Frieden zu fördern – sollten Abtreibungen aber nicht nur erlaubt (bzw. straffrei gestellt), sondern auch tatsächlich flächendeckend angeboten werden. Denn ein Recht ist nur so gut wie die Möglichkeit, es zu gebrauchen. Die Autorin ist Professorin für Migration und Integration an der Donau Universität Krems. dem Ex-EU-Abgeordneten Johannes Voggenhuber, Ex-Bundespräsident Heinz Fischer, mit dem ehemaligen Grünen-Aufdecker Peter Pilz, Vizekanzler Werner Kogler, Grünen-Klubobfrau Sigi Maurer und Ex-Grünen-Chefin Eva Glawischnig. Wabl geht mit seinen Interviewpartnerinnen und Partnern äußerst kritisch ins Gericht. Gehen wir die Fragen also der Reihe nach durch. Ist aus den Grünen eine reine Machtpartei geworden? „ Eine Grüne Partei, die nicht mehr als Alternative, sondern nur als Teil der herrschenden Strukturen wahrgenommen wird, läuft Gefahr, sich im Anpassen an die Machtverhältnisse zu verlieren. “ Andreas Wabl Foto: APA / EXPA / Johann Groder Sigi Maurer will diese Frage nicht mit „Ja“ beantwortet wissen. Es sei die schwierigste Regierungsperiode seit langem gewesen, sagt Maurer, „mittlerweile haben wir den dritten Kanzler innerhalb einer Regierungsperiode“. Die Grünen seien der stabile Faktor. Sie verstehe, dass sich manche Grüne mehr erhofft haben. Sich wegen Kompromissen Sorge um Wählerverlust oder Beliebtheitskratzern einer Regierungsbeteiligung zu verweigern, „das hielte ich für feig und einen Verrat am grünen Programm“, sagt Maurer. Auch vom aktuellen Parteichef Werner Kogler – dessen Anfänge als seinem eigenen parlamentarischen Mitarbeiter Wabl nicht zu erwähnen vergisst – kommt ein Bekenntnis zum Mitregieren. „Es macht einen Unterschied, ob ich eine türkis-blaue Regierung habe oder eine türkis-grüne“, so seine Festlegung. „Die Grünen können nicht nur sich selbst sehen. Wir müssen auch unsere Umgebung und die Welt sehen. Denn um diese geht es schließlich.“ Wohlwollende Worte kommen von Ex- Bundespräsident Heinz Fischer, der aus SPÖ-Sicht feststellt, es sei „keine Schande, die Grünen zu wählen“. Dass die Grünen sehr pragmatisch geworden seien, meint Ex-Bundessprecherin Eva Glawischnig. Sie selbst – beim Aufstieg an die Parteispitze gerade von Schwangerschaftsübelkeit geplagt – sei in dieser Spitzenposition ausgebrannt. „Was ich am grünen Stil nicht mag, ist, dass wir nicht gut auf uns selbst aufpassen. Das ist schade, denn so viele Grüne sind wir ja nicht.“ Von Andreas Wabl angesprochen darauf, warum sie zum Glücksspielkonzern Novomatic gewechselt und bei den Grünen ausgetreten ist, sagt Glawischnig: „Ich war gekränkt, was auch dazu geführt hat, dass ich das Angebot von Novomatic angenommen habe. Früher dachte ich immer, dass die Haut als Politikerin mit der Zeit dicker wird. Aber das Gegenteil ist der Fall.“ „Viele sind von den Grünen enttäuscht“ Mitregieren ist das eine, Ideale das andere. Steht die Partei noch für ihre alten Ideale? Lena Schilling engagiert sich bei „Fridays for Future“. Im Gespräch mit Andreas Wabl sagt sie: „Bei uns sind viele von den Grünen enttäuscht. Das betrifft nicht nur den Klimaschutz, sondern auch Sozialpolitik und Menschenrechtsfragen.“ Die Grünen seien dann stark, wenn ihre Ideen in jedem Dorf wurzeln. Aber heute fehle genau das. Die Grünen haben sich schließlich bei ihrer Gründung als Alternative zu den herrschenden Verhältnissen verstanden. Davon sehe Schilling heute nicht mehr viel. „Ich höre immer nur, was nicht geht, weil es die Realpolitik nicht zulässt.“ Was also ist aus dem grünen Kampfgeist geworden? Einer, der immer gegen die Korruption gekämpft hat, war Peter Pilz. Im Gespräch mit Andreas Wabl sagt er, die ÖVP brauche die Grünen viel mehr als umgekehrt. Er vermisse bei den Grünen das Selbstbewusstsein. Politik sei „keine Nette-Leut‘ Show“. Er fühle sich aber nach wie vor den Vorstellungen verbunden, für deren Verwirklichung „wir erfolgreich und lustvoll gekämpft haben“. Vor diesem Hintergrund warnt Wabl allerdings auch: „Eine Grüne Partei, die nicht mehr als Alternative, sondern nur mehr als Teil der herrschenden Strukturen wahrgenommen wird, läuft Gefahr, sich im Anpassen an die Machtverhältnisse zu verlieren.“ Die Grünen müssten klar darstellen, für welche Alternative sie stünden: „Dann werden sie in Zukunft bei Wahlen erfolgreich sein und gleichzeitig aufzeigen, wohin ein alternativer Weg mit ihnen führen kann.“ Es brauche Mut, zu den eigenen Überzeugungen zu stehen und klare Grenzen zu ziehen – vor allem in einer Welt, die ungerecht und boshaft ist. Andreas Wabl ist ein mutiges Buch mit und über die Grünen gelungen, das die Partei kritisch in den Blick nimmt und auch Weggefährten und Weggefährtinnen mit unangenehmen aber wichtigen Fragen konfrontiert. Ein Buch, das längst überfällig war. Was wurde aus den Grünen? Eine Spurensuche von Andreas Wabl von Stephan Wabl / Andreas Wabl Kremayr & Scheriau 2023 192 S., geb., € 26,–

DIE FURCHE · 39 28. September 2023 Gesellschaft/Philosophie 7 Klimakrise und Künstliche Intelligenz bringen das Konzept vom (Über-)Menschen ins Wanken. Umso nötiger sei eine neue „Anthropologie der Verletzlichkeit“, meint die Philosophin Lisz Hirn im Interview. Das Gespräch führte Doris Helmberger Mensch, Tier, Maschine? Giuseppe Arcimboldo (1526–1593) wurde mit seinen detailreichen, aus Objekten zusammengesetzten Porträts berühmt (im Bild: Vier Elemente/ Wasser, 1566). Das vollständige Gespräch mit Lisz Hirn hören Sie in unserem Podcast: furche.at/podcast Sie gilt als eine der öffentlichkeitswirksamsten Denkerinnen Österreichs: Lisz Hirn. In ihrem jüngsten Buch „Der überschätzte Mensch“ umkreist sie das Wesen des Humanums zwischen dem Tier einerseits und der Maschine andererseits. Was macht den Menschen aus? Und was hat er nun zu tun? Ein (Podcast-)Gespräch. DIE FURCHE: Frau Hirn, Sie haben sich in Ihrem neuen Buch mit menschlicher (Selbst-)Überschätzung beschäftigt. Warum? Lisz Hirn: Überschätzt hat sich der Mensch immer. Aber jetzt jagen uns derart viele Herausforderungen – von der Klimakatastrophe bis zu Kriegssituationen –, dass es höchste Zeit ist, über jenes Menschenbild, das wir bislang konserviert und kultiviert haben, nachzudenken und ein alternatives zu entwerfen. Im Gegensatz zur Politik und zur breiten Bevölkerung machen sich nämlich große Konzerne im Silicon Valley darüber längst intensive Gedanken. Und da kursieren einige sehr dystopische – und finanzkräftig geförderte – Menschenbilder, die durchwegs apokalyptisch anmuten. Damit meine ich jetzt nicht apokalyptisch in dem Sinne, dass die ganze Welt ausgelöscht wird, sondern dass das „Humane“ verloren geht. Wo ist die Diskussion darüber, was denn der Mensch im 21. Jahrhundert und unter all diesen neuen Vorzeichen ist? DIE FURCHE: Sie nähern sich dieser Frage anhand von Abgrenzungen – beginnend mit jener vom Tier. Lange Zeit galt der Mensch als „Krone der Schöpfung“ – wobei der biblische Herrschaftsauftrag als Ausbeutungsauftrag missverstanden wurde. Hirn: Das Interessante ist ja, wie sich der Mensch lange Zeit aus dieser Vulnerabilität des Fleischlichen herausgenommen und gesagt hat: Für mich gelten ganz andere Spielregeln. Die lassen sich aber biologisch gar nicht verorten, sondern sind im Grunde nur eine Idee. Wir haben nun zwei Möglichkeiten gehabt, mit dieser Idee umzugehen: Uns als verantwortungsvoll gegenüber dieser Um- und Mitwelt zu zeigen; oder uns darüber zu stellen. Und diese Anthropozentik hat sich vielfach durchgesetzt. Das ist nicht neu und dagegen gab es schon im vorigen Jahrhundert Einwürfe – „Wir brauchen gelehrte Eingeweide“ etwa vom kürzlich verstorbenen französischen Soziologen Bruno Latour oder von der Philosophin und Biologin Donna Haraway. Aber durch die aktuellen Krisen gibt es eine neue Dringlichkeit, diese Anthropozentrik zu hinterfragen. DIE FURCHE: Sie tun das anhand der Nahrungskette: Der Mensch galt in der Philosophie als das „ganz andere Tier“. Jenes Tier, das nicht mehr von anderen Tieren gegessen werden darf. Immer mehr stellen heute aber die Frage: Dürfen wir überhaupt (noch) Tiere essen? Hirn: Philosophisch finde ich die Diskussion darüber, was gegessen werden darf und was nicht, auch deshalb so spannend, weil es ständig zu Verwechslungen kommt. Wir gehen ja nicht nur mit dem Begriff „Mensch“ unsauber um, sondern auch mit dem Begriff „Tier“. Aber es gibt „das“ Tier nicht. Dann gibt es – salopp gesagt – beliebte und unbeliebte Tiere. Bei den einen können wir es uns überhaupt nicht vorstellen, sie zu essen. Bei den anderen haben wir damit überhaupt kein Problem. Unser Umgang mit Fleisch ist also äußerst widersprüchlich. Die ökonomischen und ökologischen Belege dafür, dass wir weltweit den Fleischverzehr dramatisch einschränken müssen, sind aber jedenfalls mittlerweile schlagend. DIE FURCHE: Viele fordern deshalb Verzicht. Sie bringen hingegen Epikurs Idee von den „gelehrten Eingeweiden“ ins Spiel: Nur diese und echter „guter Geschmack“ würden ein richtig gutes Leben möglich machen. „ Die Debatte, was gegessen werden darf und was nicht, finde ich deshalb spannend, weil es ständig zu Verwechslungen kommt. “ Foto: Getty Images / Art Images Hirn: Ich mag diesen Begriff! Epikur unterscheidet bezüglich „gelehrter Eingeweide“ auch vernünftige und unvernünftige Begierden. Die Frage ist, welche wir fördern, um die Bedürfnisse unseres Körpers zu befriedigen. Letztlich ist Genuss für Epikur nur das, was auch einen positiven Einfluss hat. Wenn Schmerzen und Krankheit herauskommen, kann es kein Genuss gewesen sein. Es geht dabei also gerade nicht um Luxusgüter, sondern um einfache, aber hochwertige Lebensmittel. Jemand, der ein hochqualitatives Stück Brot nicht schätzen kann, hätte nach Epikur keine „gelehrten Eingeweide“. DIE FURCHE: Spontan denkt man hier an teure Brot-Boutiquen. Muss man sich „gelehrte Eingeweide“ leisten können? Hirn: Nein, man muss sie sich gerade nicht leisten können, weil dieses Notwendige sehr einfach zu beschaffen ist. Das ist ein interessanter Punkt, den auch die Kyniker anklingen lassen – freilich weniger im Sinn von Geschmack als von Prävention gegen Korruption. Jemand mit „gutem Geschmack“ hat sich demnach nicht an falschen Luxus gewöhnt und muss deshalb auch nicht Dinge tun, die er eigentlich nicht tun will oder die gegen seine eigene Würde sind. Diesen guten Geschmack auszubilden, ist folglich nicht nur gut für den eigenen Körper, sondern auch für die Demokratie, weil das einen allgemeinen Korruptions-Schutz darstellt. DIE FURCHE: Eine Alternative zu übermäßigem Fleischkonsum ist auch künstliches Fleisch. Sie sehen das mit Argwohn. Warum? Hirn: Weil hier wesentliche Fragen offen sind. Etwa: Wer kann sich dieses künstliche Fleisch leisten? Wie gesund ist es langfristig – und wie ressourcenaufwendig? Zudem kommt selbst künstliches Fleisch bei seiner Herstellung nicht ohne tierische Proteine aus. Es muss also trotzdem etwas sterben. Mein Zugang wäre eher, dass wir einen Weg finden müssen, wie wir den Umgang mit nicht-menschlichen Tieren generell kultivieren. Außerdem: Ist es nicht schlechter Geschmack, wenn wir so tun, als wären Soja-Würstel normale Würstel? Stützt man damit nicht die Vorstellung, Fleisch sei etwas ganz Besonderes, das eigent- FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE

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