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DIE FURCHE 28.09.2023

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DIE FURCHE · 39 4 Das Thema der Woche Kirche ringt um Zukunft 28. September 2023 Synodal verfasst Synodalität ist den Evangelischen in die Wiege gelegt. Sie müssen sich darob nicht mehr von Rom abgrenzen wie weiland Martin Luther (Bild: Verbrennung der päpstlichen Bannbulle), sondern können den Katholiken mit ihren Erfahrungen dienen. Zum Thema äußerte sich auch Ulrich Körtner am 20.7.2022, nachzulesen unter „Synodaler Weg - ein protestantischer Blick“ auf furche.at. Von Michael Bünker In den evangelischen Kirchen werden Synoden oft als „Kirchenparlamente“ bezeichnet, und es wird davon gesprochen, wie durch sie „Demokratie in der Kirche“ verwirklicht wird. Das ist natürlich alles nicht falsch, aber nur ein Teil der Wahrheit. „Parlament“ und „Demokratie“ sind politische Begriffe, die seit dem 19. Jahrhundert eine bis heute ungebrochen wichtige Rolle spielen. Die politische Entwicklung hin zur Demokratie hat sich auch auf evangelische Kirchen ausgewirkt, kein Zweifel. Aber die Synodalität geht doch viel weiter zurück. Sie ist den evangelischen Kirchen gleichsam in die Wiege gelegt und im reformatorischen Kirchenverständnis verwurzelt. Zu denken ist vor allem an die Lehre vom Priestertum aller Gläubigen, die Martin Luther 1520 in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ formuliert hatte. Da schrieb er: „Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes“ und führt weiter aus: „Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht jedem ziemt, solches Amt auszuüben. Denn weil wir alle gleichermaßen Priester sind, darf sich niemand selbst hervortun und sich unterwinden, ohne unsere Einwilligung und Wahl das zu tun, wozu wir alle gleiche Vollmacht haben.“ Bei den Reformierten von Anfang an Auch wenn der konservative Luther selbst wohl noch nicht daran gedacht haben wird, hat er damit doch das Fundament gelegt, und zwar nicht nur für die synodale Verfassung der Kirche, sondern auch für die Ordination von Frauen und die Wahl von Pfarrer(inne)n durch die Gemeinden. Aber seine grundlegenden Einsichten haben sich vorerst nicht durchgesetzt. Es gab zwar schon im 16. Jahrhundert erste lutherische Synoden, wie 1526 die von Homberg in Wenn mich Papst Franziskus in Bezug auf Synodalität um Rat fragen würde … – Lutherisch-reformierte Anmerkungen zum Thema, das die katholische Kirche zurzeit weltweit umtreibt. Erfahrungen mit Synoden Hessen, aber gekommen ist stattdessen in den deutschen Ländern (wie auch in Österreich) eine territoriale, an den Landesherren gebundene Organisation der Kirchen. In den reformierten Kirchen verhielt es sich allerdings anders. Dort gab es Syn oden von Anfang an. Grundlage war die Ämterlehre, die Johannes Calvin in der Genfer Kirchenordnung entfaltet hat. Die erste reformierte Synode Frankreichs kam im Mai 1559 „ Synoden entsprechen also dem evangelischen Kirchenverständnis. Sie sind geistliche Zusammenkünfte, auch wenn sie nach außen wie ein Parlament wirken. “ bei Paris zusammen, von dort ging es über die Niederlande und Schottland in alle Welt. Für diese regelmäßig durchgeführten Versammlungen setzte sich im Laufe der Jahre im englischen Sprachraum die Bezeichnung „General Assembly“ und folgerichtig der Name „presbyterianisch“ für die Kirchen durch. In den deutschen Landeskirchen wurde das presbyterial-synodale Prinzip erstmalig 1835 mit der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung umgesetzt. Dafür waren bestimmt auch Einflüsse der Aufklärung und des Konstitutionalismus wirksam. In Österreich wurden im Revolutionsjahr 1848 erste Versuche unternommen, eine synodale Verfassung für die evangelische Kirche zu etablieren. Aber es kam erst nach dem Protestantenpatent (RGBl 41/1861) vom April 1861 dazu. In den Kirchenverfassungen wird seither das presbyterial-synodale Prinzip als wichtigstes Prinzip der Kirchenordnung festgehalten. Die Synodalität ist also nicht ein zusätzlicher Baustein des kirchlichen Lebens, auf den notfalls auch verzichtet werden könnte, sondern im Gegenteil das Fundament mit höchster Entscheidungskompetenz. Dazu ein Blick auf die Frage des Lehramts: Selbstverständlich kennen evangelische Kirchen ein Lehramt. Es liegt aber nicht bei den Bischöfen, sondern bei den Gemeinden, also in den synodalen Strukturen. So ist die evangelische Kirche konsequent presbyterial-synodal aufgebaut: Das beginnt auf der Ebene der Pfarrgemeinden, geht von dort auf die regionale Ebene über (die bleibend sperrig als „Superintendenz“ bezeichnet wird) und führt letztlich Foto: Getty Images/The Print Collector (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) zur Konstituierung der Synode auf gesamtkirchlicher Ebene. Mitglieder der Synode werden von unten nach oben in einem „Siebwahlsystem“ gewählt. Die Synode kommt regelmäßig, normalerweise zweimal im Jahr zusammen. Zu ihren Aufgaben gehören das Haushaltsrecht, die Wahl der kirchenleitenden Funktionen, Gottesdienst und Agenden, der Personalplan und die weitere kirchliche Gesetzgebung. Das evangelische Bischofsamt, wie es in Österreich (und anderswo) geregelt ist, kann als ein „synodales Bischofsamt“ bezeichnet werden. Der Bischof bzw. die Bischöfin wird von der Synode gewählt. Wenn es sich als notwendig herausstellen sollte, kann er bzw. sie ebenfalls von der Synode auch abgewählt werden. Für beides, Wahl wie Abwahl, wird die hohe Hürde der Zweidrittel-Mehrheit vorausgesetzt. Weil es ein „synodales Bischofsamt“ ist, gehört es einfach dazu, dass der Bischof bzw. die Bischöfin immer wieder auch bei Abstimmungen in der Synode unterliegt und überstimmt wird. Die Demokratie macht eben auch vor einem Amt, und sei es noch so ehrwürdig, nicht Halt. Gut so! Grundlegende theologische Diskussionen Besondere Highlights von Synodensitzungen sind die grundlegenden theologischen Diskussionen. Manche Auseinandersetzungen ziehen sich auch über Jahrzehnte hin, etwa die Gleichberechtigung der Frauen in allen kirchlichen Ämtern zwischen 1965 und 1981 sowie in jüngerer Zeit die Einführung der öffentlichen gottesdienstlichen Segnung gleichgeschlechtlicher Ehepaare. Wichtig sind auch die Stellungnahmen der Synode zu aktuellen Herausforderungen. Da ist das Grundsatzpapier „Schöpfungsglaube in der Klimakrise“ vom Dezember 2022 hervorzuheben. Synoden entsprechen also dem evangelischen Kirchenverständnis. Sie sind geistliche Zusammenkünfte, auch wenn sie nach außen wie ein Parlament wirken. Manchmal versagen sie auch oder liegen in ihren Positionen daneben. Das haben sie mit allen, die mit der Kirchenleitung betraut sind, gemeinsam. Wie die ganze Kirche haben sich auch die Synoden zu fragen, ob sie der Bestimmung der Kirche dienen und ob sie ihren Ursprüngen im Evangelium entsprechen. Da zeigt ein Blick ins Neue Testament: Von Anfang an waren syn odale Strukturen in den Gemeinden bestimmend. Mit der Herausbildung monokratischer Organisationsformen (vor allem dem Bischofsamt) traten sie allerdings in den Hintergrund. Aber dem wandernden Volk Gottes, von dem der Hebräerbrief spricht (Hebr 4,9; 13,14), dem Leib Christi mit seiner Vielfalt an Gaben, den Paulus beschreibt (Röm 12,3-8; 1. Kor 12), entspricht eine synodal verfasste Kirche. Der Autor ist evang. Theologe. Er war 2008– 2019 lutherischer Bischof in Österreich. Nächste Woche im Fokus: Mädchen haben es oft schwer – nicht nur in jenen Teilen der Welt, die als entwicklungsbedürftig verstanden werden. Zwischen immer noch anhaltenden Mythen und der frühen Selbstoptimierung des Körpers kämpfen sie um gesellschaftliche Teilhabe. Ein Fokus zum Weltmädchentag.

DIE FURCHE · 39 28. September 2023 International 5 Von Ursula Baatz Armeniens Hauptstadt Jerewan war vergangene Woche die Endstation unserer mehrwöchigen Kultur- und Wanderreise. Der 21. September ist Feiertag von Armeniens Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Doch letzte Woche entfielen die Feierlichkeiten. „Heuer gibt es keine beflaggten Straßen, keine Militärparaden, Reden oder Musik. Alles abgesagt wegen der Invasion von Aserbaidschan in Bergkarabach, das wir ‚Arzach‘ nennen“, erklärt uns eine junge Frau in pinkfarbenem Jumpsuit, ihren Pudel an der Leine. Ihr Deutsch hat Berliner Akzent, sie lebt in Jerewan und Berlin, dort hat sie eine Firma – nicht ungewöhnlich: Rund drei Millionen Armenier leben in „Hajastan“, wie die Armenier ihr Land nennen. Mehr als doppelt so viele, etwa sieben Millionen, gehören zur armenische Diaspora, über den Globus verstreut. Der Grund des Ungleichgewichts: vor allem Verfolgung und Genozid im 19. und 20. Jahrhundert, durch Russen, Kurden, Türken. Spielball und Schlachtfeld Die geografische Lage von Armenien machte das Land durch die Jahrtausende zum Spielball und Schlachtfeld wechselnder Großmächte: Perser, Griechen, Römer, Mongolen, Osmanen, Russen. Mehr als zweitausend Jahre alt ist die armenische Kultur, 301 wurde Armenien als erstes Land der Welt christlich. Wichtige Klöster und Kirchen aus dieser Zeit stehen in Bergkarabach, aber wir konnten sie nicht besuchen, Bergkarabach ist seit langem für Ausländer gesperrt. Aserbaidschan blockierte den humanitären Latschin-Korridor zu Armenien seit Dezember 2022, mit katastrophalen Folgen nicht nur für die 120.000 Armenier in Bergkarabach. Der russische Imperialismus ist eine wichtige Wurzel des Konflikts. Im 19. Jahrhundert verleibte sich der Zar u. a. Georgien, Armenien und Aserbaidschan ein. Nach der Februarrevolution 1917 erklärten sich diese Länder zu unabhängigen Republiken. Armenien beanspruchte Bergkarabach, da die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung armenisch ist; Aserbaidschan betonte die Untrennbarkeit des geografischen Raums. Unterstützt von Türkei und Großbritannien gewann Aserbaidschan unter der Bedingung kultureller und administrativer Autonomie für die Armenier. Die wurde nie eingehalten, auch nicht, als der Transkaukasus Teil des Sowjet-Reichs wurde. Mit dem Zerfall der Sowjetunion flammten die Konflikte wieder auf. 1991 erklärten sich Armenien, Aserbaidschan und Bergkarabach zu unabhängigen Republiken, doch wurde Karabach mit fast 80 Prozent armenischer Bevölkerung international nicht anerkannt. Es folgten Pogrome sowohl an Aseris wie an Armeniern; der Krieg 1992–1994 gab Armenien die Kontrolle über Foto: Ursula Baatz Symbolischer Protest Demonstranten blockieren mit Parkbänken, Fahrrädern und weiteren Barrieren große Kreuzungen im Zentrum Jerewans. Als vergangene Woche das autoritär geführte Aserbaidschan eine groß angelegte Militäroffensive in Bergkarabach startete, wurde unsere Autorin Zeugin der Unruhen vor Ort. Eindrücke, Einschätzungen und Hintergründe. Die Furcht vor einem Ethnozid die „Republik Arzach“. Verhandlungen, in denen Russland als Vermittler fungierte, lösten den Konflikt nicht, doch sicherten russische Truppen den Waffenstillstand. Im Süden Armeniens hatte sich 1990 die Region Nachitschewan, die an die Türkei grenzt, zur autonomen Teilrepublik von Aserbaidschan erklärt. Gäbe es einen Korridor zwischen Karabach und Nachitschewan, wäre dies das Ende der Integrität des heutigen Staates Armenien. Instagram als Protest-Tool Mit Unterstützung der Türkei hochgerüstet, gewann Aserbaidschan 2020 wieder die Kontrolle über Teile von Karabach, und seither eskaliert der Konflikt. Am 19. September 2023 begann aserbaidschanisches Militär eine Offensive, am 20. September akzeptierte die Regierung von Arzach die Integration in Aserbaidschan. Doch die Kämpfe hörten nicht auf. Am Abend des 26. Septembers flohen mehr als zehntausend Menschen, am Morgen des 27. Septembers rund 30.000 Menschen aus Bergkarabach nach Armenien – ein Viertel der dortigen Armenier, aus Furcht vor einem Ethnozid. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gratulierte dem aserbaidschanischen Autokraten Ilham Alijew zum Militäreinsatz und betonte bei einem Besuch in Naschitschewan „die Verbindung mit der türkischen Welt“. In Jerewan kommt es seit dem Unabhängigkeitstag immer wieder zu Protesten: Vor allem Junge wollen, dass sich Armenien wehrt. Der Opposition macht Premier Nikol Paschinjan zu viele Zugeständnisse, sie verlangt seinen Rücktritt. Nach Krawallen bewachten Polizisten mit Stahlhelmen und Stahlschilden das Regierungsgebäude. Im Übrigen geht der Alltag weiter, freilich sehr gedämpft. Bei einem Konzert der Schwestern Aznavoorian, einem armenisch-stämmigen Duo, blieb der Komitas-Konzertsaal, der dreihundert Leute fasst, nahezu leer. Die Demonstranten änderten inzwischen die Taktik: Aufgeteilt in kleine Gruppen, blockieren sie „ Aserbaidschan beseitigt seit längerem auf seinem Gebiet alle Spuren armenischer Geschichte. “ mit Parkbänken und Mülleimern große Kreuzungen im Zentrum. Die Polizei ließ sie gewähren, verhaftet wurden jedoch etwa hundert Personen, alles Führer der Opposition. Doch dies erfuhr man nur aus fremdsprachigen Zeitungen. Vor einem Supermarkt im Stadtzentrum hatte eine Gruppe junger Leute bereits am Unabhängigkeitstag Kisten aufgestellt. Dmitri, ein 17-jähriger Jusstudent, initiierte die Aktion: Über Facebook und Insta gram wird aufgerufen, für die Flüchtlinge aus Bergkarabach Waschmittel, Kleidung, Kaffee zu bringen – das Lebensnotwendige. Grafik: Rainer Messerklinger (Quelle: Wikipedia) Türkei Georgien Armenien Jerewan A.R.N. Iran Der armenischaserbaidschanische Grenzkonflikt findet seit Mai 2021 zwischen Armenien und Aserbaidschan entlang deren gemeinsamer Staatsgrenze, insbesondere der Region Bergkarabach, statt. Russland Auf einem Hügel im Westen von Jerewan erhebt sich das Denkmal für den Völkermord an den Armeniern: 1915 wurden von dem mit Deutschland verbündeten Osmanischen Reich etwa anderthalb Millionen Armenier – Christen – von türkischem Militär und Paramilitärs ermordet. Die Türkei bestreitet bis heute den Völkermord. Wiederholt sich die Geschichte? „Wird sich die Geschichte wiederholen?“, fragt Sewan angesichts der Entwicklungen, sie arbeitet im Marketing einer internationalen Firma. Denn Aserbaidschan beseitigt seit längerem auf seinem Gebiet alle Spuren armenischer Geschichte. In Nachitschewan zerstörten 2005 aserbaidschanische Streitkräfte den 1200 Jahre alten Friedhof mit rund tausend armenischen Kreuzsteinen – sie sind Weltkulturerbe; ebenso die umliegenden Klöster und Kirchen. Von den mehr als zweitausend Kirchen, die vor 1914 im historischen armenischen Siedlungsgebiet – heute zum Großteil zur Türkei gehörig – standen, gibt es heute nur noch etwa 400. Unser junger armenischer Reiseleiter sagte mit versteinerter Miene: „Den Armeniern hilft niemand.“ Die Autorin ist Research Fellow am Institut für Religionswissenschaft an der Universität Wien. Aserbaidschan Kaspisches Meer Lesen Sie hierzu auch den Text „Berg-Karabach: Flächenbrand am Kaukasus“ von Florian Bayer (8.10.2020) auf furche.at. Baku A.R.N. Autonome Rep. Nachitschewan Region Karabach Bergkarabach

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