DIE FURCHE · 39 20 Kunst 28. September 2023 Körper im Sturm Im 95-minütigen Video „The Current“ (2017) liegt Marina Abramović auf einem Metallgestell vor einem heraufziehenden Gewitter – der Körper als metaphorischer Energie-Transmitter. Familie, Erinnerungen und Knochen: In „Balkan Baroque“ reflektiert die in Belgrad geborene Künstlerin die Schrecknisse der Balkankriege. Von Heidemarie Dobner Bei der Gründung der Institution vor 250 Jahren hat zwar schon Angelika Kauffmann mitgewirkt. Dennoch ist es das erste Mal, dass die Londoner Royal Academy of Arts ihre Räume exklusiv einer Künstlerin widmet – noch dazu einer nicht britischer Herkunft. Und nicht nur das ist eine Premiere: „Marina Abramovic“ ist auch die erste große Einzelausstellung der weltweit gefeierten Performance-Künstlerin in Großbritannien. Die Retrospektive reflektiert das in 50 Jahren entstandene Werk einer Künstlerin, die mit ihrer Kunst stets an ihre Grenzen geht: emotional, intellektuell, körperlich. Marina Abramović, 1946 in Belgrad geboren, hat sich verbrannt, sie hat zwölf Tage lang gefastet wie in der Performance „The House with the Ocean View“ (2002), sie hat sich physischen und psychischen Strapazen ausgesetzt. Furchtlos. Und ausdauernd. Ihr Körper ist ihr Medium, eine lebenslange Auseinandersetzung mit der Existenz. „Meine bisherige Arbeit haben vor allem drei Themen bestimmt: Angst vor Schmerz, Angst vor dem Sterben, Angst vor dem Tod. Immer konnte ich meinen Körper kontrollieren“, meinte Abramović bei der Pressekonferenz zur Schau. Und: „Ich bin eine Frau, mein Körper ist weiblich, meine Kunst hat kein Geschlecht.“ © Marina Abramović;. Foto © Royal Academy of Arts, London / David Parry Marina Abramović ist die erste Künstlerin, der die Londoner Royal Academy of Arts eine Einzelausstellung widmet. Ein Besuch der Schau, die nach Amsterdam, Zürich und Tel Aviv auch in Wien zu sehen ist. Schmerz, Tod, Körperkontrolle Wie aber kann man das Werk dieser Performance-Ikone in einem Museum zeigen? In enger Zusammenarbeit mit Kurator Andrea Tarsia ist Abramović in zwölf Räumen der Academy ein beeindruckender Mix gelungen. Ursprünglich für das Jahr 2020 geplant, hatten die beiden wegen Covid unverhofft mehr Zeit zur Vorbereitung der Schau. Eine Fügung, wie Abramović anlässlich der Eröffnung am 23. September in den prunkvollen Räumen der Royal Academy of Arts erzählt: „Covid war ein Glück. Wir haben „ Meine Arbeit haben vor allem drei Themen bestimmt: Angst vor Schmerz, Angst vor dem Sterben, Angst vor dem Tod. “ Marina Abramović 75 Tage lang saß Marina Abramović 2010 in ihrer Performance „The Artist is Present“ im New Yorker MoMa schweigend Besuchern gegenüber. neu nachgedacht, wie wir Themen mit Live-Performances in Kontext setzen können: How I can be present without being present“, erklärt Abramović. „Wir müssen mit der Realität arbeiten und mit jungen Künstlerinnen und Künstlern, die meine Arbeit neu interpretieren, ähnlich wie in der Musik. Bach lebt auch nicht mehr, aber viele Künstler interpretieren sein Werk.“ Beim Gang durch die Ausstellung erlebt man Abramović auf unterschiedlichste Weise: Marina und ihren Partner Ulay, die sich gegenseitig ins Gesicht schlagen und anschreien; Bilder der Performance „The Lovers, Great Wall Walk“, in der die beiden von entgegengesetzten Enden aus über die Chinesische Mauer schreiten und sich kurz treffen, bevor sie getrennte Wege gehen; Marina, wie sie sich verletzt und einen fünfzackigen Stern mit der Rasierklinge in den Bauch ritzt; die Künstlerin im Arztkittel – erzählend, wie am Balkan die Ratten getötet werden; Marina im schwarzem Kleid tanzend in einem Video links – und rechts das Porträt ihres Vaters und ihrer Mutter, davor ein übergroßer Haufen von Menschengebein. „Balkan Baroque“ nennt sich diese Reflexion zu den Balkankriegen in den 1990-er Jahren. Dazwischen gibt es Live Performances mit jungen Künstlerinnen und Künstlern, die von Marina Abramović ausgebildet wurden: etwa „Nude with Skeleton“, wo das Originalbild (Abramović liegt nackt unter einem Skelett) einer Live-Darstellung gegenübergestellt wird; oder „Imponderabila“, wo man Foto: © Marina Abramović © Marina Abramović;. Foto: Marco Anelli sich, um in den nächsten Raum zu gelangen, durch eine Tür zwängen muss – zwischen ein nacktes Paar, das sich gegenübersteht. Überdimensionale Leinwände zeigt die Performance „Rhythm 2“. Und in der Installation „Four Crosses“ sehen die Besucherinnen und Besucher Abramovićs Gesicht, das Grimassen schneidet, lacht, weint und die Zunge zeigt – in einer Fotomontage von positiven und negativen Aufnahmen auf vier überlebensgroßen Kreuzen. In einem anderen Raum trifft man auf einen Tisch mit Werkzeugen – Hammer, Säge, Ketten, Messer, Peitschen, die das Publikum auffordern, mit der Künstlerin zu machen, was man will. Ein Grenzgang für alle. Anhand von Archivmaterial inszeniert wird die legendäre Performance „The Artist is Present“, bei der Marina Abramović 2010 im New Yorker Museum of Modern Art 75 Tage lang schweigend den Besuchern gegenübersaß. Eine Auswahl von Porträts der 1545 Zuschauerinnen und Zuschauer, zusammengefasst auf einer Wand, starrt auf die von hinten beleuchteten Standbilder, die an die damaligen Sitzungen erinnern. Marina Abramović hat Kupferbadewannen mit Kamillenblüten gefüllt, wie sie zuletzt in der Ausstellung in der Galerie Krinzinger in Wien zu sehen waren; und sie hat Skulpturen aus Marmor, Quarz und Onyx geschaffen – „Black Dragon“, „Green Dragon“, „White Dragon“ –, die das Publikum zum Interagieren einladen. Gelernt, Leid anzunehmen Zum Auftakt ihrer Schau in der Londoner Royal Academy of Arts ist Marina Abramović nicht nur in ihrer Kunst, sondern auch persönlich gegenwärtig. Am Abend der Eröffnung steht sie im zentralen Rundbau, ihren Freund Todd Eckert an ihrer Seite, umgeben von vier riesigen Kreuzen, die ihr Gesicht zeigen. Auch die Kunstszene aus aller Welt hat sich an diesem Abend versammelt, darunter Tate-Direktorin Maria Balshaw, Bianca Jagger und Bettina M. Busse, Kuratorin im Kunstforum Wien. In den zahlreichen prunkvollen Räumen zeigt Abramović ihr künstlerisches Erbe gleich einem Testament, das sie hinterlässt. Eine Personale, die niemanden kalt lässt und die man nicht so schnell vergisst. Für Marina Abramović ist es ein Wunder, dass diese Ausstellung stattfindet – nach sieben Jahren Arbeit und einer Lungenembolie. „Ich habe überlebt, weil ich all mein Wissen und meine Erfahrung aus den schwierigsten Performances angewendet habe – und weil ich auch gelernt habe, Leid anzunehmen“, erzählt sie. Nach der Royal Academy of Arts geht die spektakuläre Schau ins Stedelijk Museum in Amsterdam, an das Kunsthaus Zürich, das Tel Aviv Museum of Art und 2025 ans Kunstforum Wien. Wer die Ausstellung in ihrer Fülle sehen will, sollte aber bis 1. Jänner 2024 nach London kommen – und Abramović ins Antlitz schauen. Die Autorin war bis 2022 Intendantin von Globart. Seit 2018, als Abramović mit dem Globart Award ausgezeichnet wurde, ist sie mit der Künstlerin in Kontakt. Marina Abramović Royal Academy of Arts, London. Bis 1.1. 2024, royalacademy.org.uk
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