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DIE FURCHE 28.09.2023

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DIE FURCHE · 39 2 Das Thema der Woche Kirche ringt um Zukunft 28. September 2023 AUS DER REDAKTION Ab 4. Oktober wird in Rom Geschichte geschrieben: Gelingt es bei der Weltsynode, wesentliche Schritte auf dem von Papst Franziskus angestoßen Weg zu mehr Miteinander weiterzugehen? Oder verfestigen sich Enttäuschung hier und Angst vor Spaltung dort? Historisch ist das Ereignis jedenfalls. Otto Friedrich hat dazu im Fokus „Kirche ringt um Zukunft“ namhafte Stimmen versammelt – darunter den ehemaligen lutherischen Bischof in Österreich, Michael Bünker, der Franziskus vom Spielfeldrand aus Ratschläge gibt. Mit der Eskalation in Bergkarabach kommt ein Konfliktherd wieder in den Blick : Ursula Baatz hat dazu eine Analyse verfasst. Und Manuela Tomic nimmt anlässlich eines (selbst-)kritischen Buches von Andreas Wabl die Grünen unter die Lupe. „Der überschätzte Mensch“: Dieser Befund gilt freilich nicht nur für Politiker(innen), sondern für uns alle. Die Philosophin Lisz Hirn hat darüber nachgedacht – und mit der FURCHE darüber gesprochen. Das gesamte Interview ist auch auf furche.at/podcast nachzuhören – ebenso wie der Generationen-Briefwechsel „Erklär mir deine Welt“. Diesmal geht es übrigens um ein Hörgerät. Was Sie sonst noch in dieser FURCHE finden: einen Gastkommentar zu Lampedusa, die Besprechung des großartigen neuen Buches „Arson“ von Laura Freudenthaler, Martin Tauss‘ Plädoyer für existenzielle Redlichkeit und eine persönliche Impression von der spektakulären Personale über Marina Abramović in London. (dh) Von Andreas R. Batlogg SJ Es ist (s)ein Mantra: Immer wieder betont Papst Franziskus, Synodalität nicht mit Parlamentarismus zu verwechseln. Es gehe nicht darum, Mehrheiten zu suchen, um ganz bestimmte Abstimmungsergebnisse hinzubekommen. So banal es klingt: Es geht dabei um einen geistlichen Prozess: ums Hören – anders, echt, ernst gemeint, nicht gemimt. Der Historiker Volker Reinhardt, ein Kenner des Papsttums, nannte die Weltbischofssynode in der Zeit-Beilage Christ & Welt eine „pseudodemokratische Illusion“. Sie diene vornehmlich dem „Machterhalt“. Andere, wie der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke, sprechen von „Beteiligungssimulation“. Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf zweifelt grundsätzlich. Für ihn ist die Synode nur „ein weiterer Debattierclub ohne rechtliche Vollmachten“: „Es ist ein reines Beratungsinstrument – entschieden wird nichts. Zwar spricht Franziskus den ganzen Tag über Synodalität und Subsidiarität – aber faktisch nimmt er beides nicht ernst.“ Und Wolf setzt noch eins drauf: Es gebe „weder Demokratie noch Gewaltenteilung. Und: „ Es gibt noch nicht mal eine Tagesordnung. Typisch jesuitisch ist, dass es ein Arbeitspapier gibt und zu dem soll ein Brainstorming stattfinden. Franziskus uminterpretiert Synodalität im Sinne einer jesuitischen Aktivierung.“ Ist also alles nicht ernst gemeint, was der Papst vorhat, der die Kirche vor drei Jahren auf einen synodalen Prozess eingeschworen hat? Top-down muss anders werden Die vergangenen Jahre haben zutage gefördert, dass die Frauenfrage, der Wunsch nach einer anderen Entscheidungsfindungskultur und nach echter Beteiligung keineswegs nur „europäische“ Forderungen sind. Diese und weitere Themen sind auf allen fünf Kontinenten virulent, wenn auch, kulturell bedingt, mit unterschiedlichen Gewichtungen. Aber sie sind unübersehbar da. Die Kirche muss neu lernen zu hören. Ihre Amtsträger vor allem. Aber nicht nur auf ihresgleichen. Und ohne ideologische Scheuklappen. Es ist also ein Lernprozess, ein mühsamer Übungsweg – und der braucht Zeit! Auch deswegen, weil Entscheidungen bisher meist top-down getroffen wurden: Der Papst, der Bischof, der Pfarrer entscheidet, basta! Das soll, das muss, das wird anders werden! Diesmal sind auch 80 Nichtbischöfe dabei. Das ist neu. Es zeigt, dass sich die kurz vor Abschluss des II. Vatikanums von Paul VI. 1967 erstmals einberufene „Bischofssynode“ weiterentwickeln wird. Das verdanken wir Franziskus. Die Erfurter Dogmatikerin Julia Knop spricht zwar von einem Am 13.9.2023 analysierte Gregor Maria Hoff die Chancen der Weltsynode, nachzulesen unter „Kollaps statt Reformen“ auf furche.at. Ab 4. Oktober tagt in Rom die erste Session der Weltsynode – erstmals mit stimmberechtigten Frauen. Wende- oder Kipppunkt in der katholischen Kirche? Man sollte dieser Synode und den Synodalen etwas zutrauen! Wie geht kollektive Wahrheitsfindung? „Paradigmenwechsel“. Aber sie wendet ein: „Die Beteiligung der Laiinnen und Laien bleibt Symbolpolitik. Unter den 363 stimmberechtigten Synodalen sind rund 100 Personen keine Bischöfe, darunter 54 Frauen. Sie können schon quantitativ kein kritisches Gegengewicht zu den Bischöfen bilden.“ Längst ist jedoch klar: Die Zeiten sind vorbei, in denen Bischöfe nur untereinander beraten. Es stimmt: Der Papst ist völlig frei, was er damit macht. Aber Franziskus wird starke Mehrheitsvoten nicht noch einmal, wie im Nachsynodalen Schreiben Querida Amazonia (2020), in dem er das Zwei-Drittel- Votum (!) der dort stimmberechtigten Bischöfe mit keiner einzigen Silbe erwähnt, wenigstens in ihrer Region „bewährte Männer“ (viri probati) zum Priesteramt zuzulassen, übergehen können. „ Diese Kirche hat keine Angst vor der Vielfalt, die sie in sich birgt, sondern bringt sie zur Geltung, ohne sie zur Gleichförmigkeit zu zwingen. “ Arbeitsdokument zur Weltsynode Auf dem Rückflug von seiner Mongolei-Reise sagte Franziskus: „Wenn man auf ideologische Weise denkt, ist die Synode am Ende! In der Synode ist kein Platz für Ideologie: Es gibt Raum für den Dialog, für die Begegnung unter Brüdern und Schwestern und für die Auseinandersetzung mit der Lehre der Kirche.“ Er skizzierte dabei auch die „synodale Atmosphäre“, die entstehen soll: „Dies ist keine Fernsehsendung, in der über alles Mögliche geredet wird. Nein. Da gibt es ein religiöses Moment, ein Moment des religiösen Austauschs. Denken Sie nur daran, dass in den synodalen Beiträgen jeder drei bis vier Minuten spricht und dann gibt es drei bis vier Minuten Stille für das Gebet. Dann weitere drei und wieder Gebet. Ohne diesen Geist des Gebets ist es nicht Synodalität, sondern Politik, Parlamentarismus.“ Die Ordensfrau Nathalie Becquart, Untersekretärin der Bischofssynode (also die Nummer drei!), stellte klar: „Ziel einer Synode ist es nicht, Entscheidungen zu treffen, bei denen die Hälfte oder drei Viertel der Leute nicht mitgenommen werden. Das geht nicht.“ Was geht dann also? Mein Foto: Getty Images / AFP / Ludovic Marin (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Plädoyer: Abwarten, nicht Beratungen von vornherein kleinreden. Wenn klar wäre, was am Ende der Synode, herauskommen soll, wäre doch alles schon fixiert. Kann Synodalität funktionieren? Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese 26 Tage dauernden Beratungen nicht eine Auswirkung haben darauf, wie der Papst, wie die Kurie künftig vorangeht. Ist das zu blauäugig? Erzbischof Franz Lackner, Kardinal Christoph Schönborn, ein „Synodenveteran“, und die Linzer Pastoraltheologin Klara-Antonia Csiszar sind die österreichischen Teilnehmer. Trauen wir ihnen etwas zu! Wer die Äußerungen des Papstes, die Stellungnahmen der federführenden Kardinäle Mario Grech und Jean-Claude Hollerich und wer die bisherigen Dokumente zur Kenntnis nimmt: Kann man da wirklich zu einer düsteren, negativen Sicht gelangen? Damit Synodalität funktioniert, so der Neutestamentler Thomas Söding, der an der Weltsynode teilnimmt, „müssen drei künstlich erzeugte Gegensätze aufgehoben werden: Hören und Handeln, Beraten und Entscheiden, Geist und Struktur dürfen nicht auseinanderfallen, sondern müssen verbunden werden.“ Eva-Maria Faber, Dogmatikerin in Chur, setzt in den Stimmen der Zeit auf „Lernchancen“: „Nur wenn im ,syn‘ das ,dis‘ zugelassen wird, sind Transformationen möglich. Diese These nun betrifft auch die Stilfragen.“ Es gehe um „die Bereitschaft, sich besserer Einsicht zu öffnen. Synodalität würde also verlangen, Argumente nicht nur für die eigene und gegen die andere Position zu suchen, sondern in einem komplexen Prozess pro und contra für alle Positionen durchzuspielen, ohne Gegnerschaften aufzubauen.“ Synodale Werkzeugkiste Das „Instrumentum laboris“ (IL), das Arbeitsdokument für die erste Session, mag zwar „viel Synodenpoesie“ (Moritz Findeisen) enthalten, streckenweise „vage“ bleiben oder sich „hinter dem Fragemodus“ verschanzen. Aber es fasst die diözesanen und kontinentalen Ergebnisse zusammen. Das entscheidende Stichwort dieser „synodalen Werkzeugkiste“ lautet „Unterscheidung“. Nicht jeden Tag zu hören: „Diese Kirche hat keine Angst vor der Vielfalt, die sie in sich birgt, sondern bringt sie zur Geltung, ohne sie zur Gleichförmigkeit zu zwingen. Der synodale Prozess war eine Gelegenheit, damit anzufangen zu lernen, was es bedeutet, Einheit in Vielfalt zu leben.“ (IL 25). Zur Methodik liest man: „Über alle Kontinente hinweg ist zu erkennen, wie fruchtbar die hier als ,Gespräch im Geist‘ bezeichnete Methode war, die in der ersten Phase zum Tragen kam und in einigen Dokumenten als ,geistliches Gespräch‘ oder ,synodale Methode‘ bezeichnet wird.“ (IL 32) „Wie können wir unseren Strukturen und Institutionen die Dynamik der missionarisch-synodalen Kirche einhauchen?“, lautet eine Frage. Die Kirche ist tatsächlich unterwegs zu einer neuen synodalen Kultur und Spiritualität. Sie hat mit „Umkehr“ zu tun – was nicht vorschnell als Spiritualisierung abgetan werden sollte, weil wir vor allem strukturelle Reformen im Blick haben. „Welche neuen Ämter könnten geschaffen werden?“, „Wie kann Mitverantwortung in Entscheidungsprozessen an abgelegenen Orten und in sozial problematischen Kontexten erhört werden, wo Frauen oft die Hauptverantwortlichen in der Seelsorge und Evangelisierung sind?“ – Sind das keine relevanten Fragen? Kollektive Wahrheitsfindung ist, wie schon auf dem letzten Konzil, ein mühsames Geschäft. Der Weg mag steinig sein. Aber Synodalität ist zu lernen. Deswegen müssen sich alle daran beteiligen. Der Autor ist Theologe, Publizist und Seelsorger in München.

DIE FURCHE · 39 28. September 2023 Das Thema der Woche Kirche ringt um Zukunft 3 „Wer schweigt, trägt das System mit“, sagt Sigrid Rettenbacher. Für die Linzer Moraltheologin gehören kritische Fragen zur Zukunft der Kirche. Erst recht beim Synodalen Prozess wie bei der Weltsynode in Rom. „Die Kirche macht nichts aus ihrem Wissen“ Das Gespräch führte Michaela Hessenberger Durchs Reden kommen d’Leut z’samm: Auch so könnte man das Anliegen hinter dem Synodalen Prozess und der Weltsynode pointiert zusammenfassen. Für die Moraltheologin Sigrid Rettenbacher gibt es in der katholischen Kirche da aber noch ordentlich Luft nach oben. DIE FURCHE: Das Christentum ist eine Buchreligion. Ist das offene Reden in der katholischen Kirche gerade deshalb keine Paradedisziplin? Sigrid Rettenbacher: „Theologie“ bedeutet „Rede von Gott“. Das funktioniert nur über das Werkzeug der Sprache. Sie ist für den Glauben essenziell. Sonst wüssten wir ja gar nichts über die Osterereignisse vor 2000 Jahren. Dennoch gibt es so einiges, worüber die Kirche nicht spricht. Ein Grund ist wohl, dass sie Privilegien und eine gewisse Bequemlichkeit nicht aufgeben möchte. Für die Kirche wäre es heilsam, darauf zu schauen, welche Machtfaktoren mitspielen, wenn gesprochen wird. Oder eben geschwiegen. „ Für die Kirche wäre es heilsam, darauf zu schauen, welche Machtfaktoren mit spielen, wenn gesprochen wird. Oder eben geschwiegen. “ Weltkirche anstehen. Aber man darf nicht blauäugig sein – auch synodale Prozesse sind von Machtstrukturen durchzogen. Die Meinungen der Basis gehen nicht ungefiltert weiter. Wenn die Aussagen aus allen Teilen der Welt zusammengefasst werden, gibt es Menschen, die Aussagen auswählen. Dabei betonen oder kürzen sie. Welche Stimmen sind bei den Delegierten vertreten? Wer entscheidet letztlich? DIE FURCHE: Was muss geschehen, um dieses System des Schweigens oder Schönfärbens zu durchbrechen? Rettenbacher: Handfeste Krisen können einiges anstoßen. Ein Beispiel dafür ist der Moment, in dem die Kirche (an)erkannt hat, dass sie eine Mitschuld am Holocaust trägt. Es kam zu einem radikalen Wandel in der Haltung der Kirche gegenüber anderen religiösen Traditionen. Plötzlich wurde auch Jesus als gläubiger Jude wahrgenommen. Die Missbrauchsskandale sind eine solche Krise, der sich die Kirche nicht entziehen kann. So kann systemisch etwas in Gang kommen. DIE FURCHE: Im Synodalen Prozess will die Kirche ihr Ohr einmal mehr bei den Menschen haben. Im Zuhören übt sie sich seit Jahrzehnten. Wie gelangt sie endlich vom Horchen zum Handeln? Rettenbacher: Indem sie erkennt, dass sie Menschen in manchem schlichtweg an ihren Lebensmöglichkeiten hindert. Wer mit jungen Menschen arbeitet, weiß, wie präsent Homosexualität im Alltag ist. Im kirchlichen Kontext muss sie oft noch im Verborgenen gelebt werden, mit allen Konsequenzen. Schwule oder lesbische Menschen können ihre Liebe oder Art zu leben nicht mit anderen teilen. Wenn sich in diesem und etlichen anderen Punkten nach der Synode nichts ändert, bleibt der Wille zum Zuhören wirklich nur eine Floskel. DIE FURCHE: In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich damit, worüber die Kirche nicht gern spricht. Ihre Erkenntnisse? Rettenbacher: In meiner Arbeit mit postkolonialen Theorien aus den Kulturwissenschaften geht es stark um Macht- und Repräsentationsfragen. In den „Critical Whiteness Studies“ gibt es das Schlagwort „White Ignorance“. Marginalisierte bemühen sich, die Welt der Privilegierten zu verstehen, um nachteilige Situationen zu vermeiden. Privilegierte hingegen können es sich leisten, von den Ausgeschlossenen nichts zu wissen – ansonsten müssten sie sich und ihre eigene Lebensweise infrage stellen. Diese Theorie ist inspirierend, sie lässt sich vielseitig anwenden. Etwa auf die Frage nach Frauen und Weiheämtern. In der Kirche sind privilegierte Männer am Werk, die im System gut leben. Ihre Vorteile gegenüber Frauen, die sie ausschließen, machen sie sich kaum bewusst. Deshalb beschäftigen sie sich auch nicht oder nur wenig mit den Folgen. Das scheint für sie bequem und vertretbar zu sein. DIE FURCHE: Papst Franziskus hat der Kirche 2021 mit dem weltweiten Synodalen Prozess eine Redekur verordnet. Stellen Sie bereits einen Kulturwandel fest? Rettenbacher: Im konkreten Alltag kaum. Im theologischen Kontext wird viel über die Synode gesprochen – über Hoffnungen, aber auch Ängste, dass Erwartungen enttäuscht werden könnten. Foto: Hessenberger Foto: Getty Images / AFP / TIZIANA FABI (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Sigrid Rettenbacher ist Assistenzprofessorin für Moraltheologie an der Kath. Privatuniversität Linz. DIE FURCHE: Welche Fragen und Themen sind dabei vordringlich? Rettenbacher: Wenn es um Machtmissbrauch in der Kirche geht, müssen Verantwortliche offen darüber reden, wer die Macht in den Händen hält und wie Macht im System Kirche funktioniert und wirkt. Manchmal passiert das nur zögerlich. In der Frauenfrage herrscht Schweigen, obwohl etwa Maria Magdalena als Erstzeugin der Auferstehung höchst relevant ist, wie der Ehrentitel „Apostelin der Apostel“ bezeugt. Trotzdem macht die Kirche nichts aus diesem Wissen. DIE FURCHE: Zur Frauenweihe gibt es längst jede Menge fundierte Forschung. Rettenbacher: Die theologische Begründung wäre kein Problem, wenn man den Willen dazu hätte. Jesus hatte Frauen in seiner Nachfolge, er war fortschrittlich und einschließend. In der Kirche ist es oft unerwünscht, wenn darüber gesprochen wird. Bereits Papst Johannes Paul II. hat die Diskussion darüber für beendet erklärt. Als ob der Zugang von Frauen zu Weiheämtern Kirche und Glauben beschädigen würde! Es geht abermals um die Privilegien von geweihten Männern, die diese exklusive Position im System nicht aufgeben wollen. DIE FURCHE: Im Synodalen Prozess spielen die Weltkirche und ihre Einheit eine zentrale Rolle. Rettenbacher: Die Weltkirche dient gerne als Argument, um unbequeme Themen vom Tisch zu wischen – etwa die Frauenfrage, aber auch LGBTQ+-Themen. Das sind westliche Themen, heißt es dann, die man in anderen Regionen der Weltkirche nicht umsetzen kann. Dabei ist die Frage: Wer repräsentiert diese Regionen? Oft waren und sind es Priester, die für andere sprechen. Wo sind die Stimmen von Frauen und anderen Randgruppen? Außerdem wird vollkommen verschwiegen, dass es „den“ globalen Süden nicht gibt. Auch dort finden wir eine Vielfalt an Positionen. Mit der Synode wächst nun ein Bewusstsein für die vielfältigen Stimmen aus anderen Teilen der Welt. Und man sieht, dass drängende Fragen in vielen Regionen der Lesen Sie dazu in der FURCHE vom 20.9.2023 Angelika Walsers Essay „‚Gender‘ als Ideologiekeule“, nachzulesen auf furche.at. DIE FURCHE: „Gender“ ist ein massives Reizwort in der Kirche. Wieso? Rettenbacher: Das Zugehen auf an den Rand Gedrängte ist eine Kernaufgabe der Kirche. Mit manchen marginalisierten Gruppen beschäftigt sich die Kirche gerne. Ich denke etwa an die Themen Armut, Migration und Umwelt, wo die Kirche eine wichtige Stimme in der Gesellschaft ist. Zugleich gibt es Marginalisierte, die die Kirche selbst erst an den Rand stellt und systematisch ausschließt: Frauen, die LGTBQ+-Community, aber auch geschieden Wiederverheiratete. DIE FURCHE: Welchen Effekt hat diese Mauer des Schweigens auf die Gesellschaft? Rettenbacher: Stichwort Lebensform oder Homosexualität: Ich finde die Theorie von Judith Butler, einer queer-feministischen Wissenschaftlerin, wichtig, dass Institutionen wie die Kirche erst definieren, welche Lebensformen möglich sind. Menschen, die nicht in diese Lebensformen passen, können ihr Leben nicht so leben, wie es ihnen entsprechen würde – zugleich können sie diese Einschränkung nicht sichtbar machen oder gar betrauern, weil es ihre Lebensform, etwa Homosexualität, offiziell ja gar nicht gibt. Das hat gravierende Folgen, weil Menschen ihr Leben nicht in einer ihnen entsprechenden Art leben können und die Kirche sie nicht auf einem Weg zu einem erfüllten Leben begleitet. Zum Stichwort Frauenfrage frage ich mich oft, warum oder wie ich Teil der Kirche bin beziehungsweise sein kann. Ich bin im christlichen Glauben zu Hause und da braucht es eine Institution wie die Kirche. Zugleich tritt diese Institution Werte, die mir wichtig sind, mit den Füßen. Das ist eine bizarre Situation. Dabei ließe sich vieles theologisch ganz anders denken. DIE FURCHE: Haben Sie Vorbilder in Sachen offene Worte? Rettenbacher: Menschen, die mutig und kritisch ihre Stimme erhoben haben, auch wenn es unbequem war: Befreiungstheologinnen und -theologen etwa oder auch starke Frauen in der Tradition der Kirche wie Katharina von Siena.

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