DIE FURCHE · 39 18 Lebenskunst 28. September 2023 Von Martin Tauss HUMAN SPIRITS Vorgezogener Nachruf Es sind mehr als 4000 Teilnehmer(innen), die diese Woche beim Weltpsychiatrie-Kongress in Wien zusammenkommen, um die neuesten Forschungsergebnisse zu psychischen Erkrankungen zu diskutieren. Nicht nur Sucht und Schizophrenie, Depression und Angststörungen stehen auf der Agenda, auch der Umgang mit Krisen und Unsicherheit wird beleuchtet. Denn das Thema der psychischen Gesundheit ist zuletzt immer wichtiger geworden. Heute ist fast ein Viertel der österreichischen Bevölkerung mindestens einmal pro Jahr von psychischen Krankheiten betroffen. Zugleich zeichnet sich in der Psychiatrie ein Wandel ab, der durch spannende neue Sichtweisen und Behandlungsansätze vorangetrieben wird. „ Psychiatrie-Kritik anno 2023: Der Blick war zu stark auf Gene und Moleküle fixiert und hat dabei den Menschen aus den Augen verloren. “ Jemand, der eine feine Nase für subtile Trends hat, ist Felix Hasler. Der Neuroforscher arbeitet an der „Berlin School of Mind and Brain“ der Humboldt-Uni und hat bereits in seinem Buch „Neuromythologie“ (2012) den Boom der Hirnforschung kritisch analysiert. Nun legt er ein neues Werk vor: „Neue Psychiatrie“ versteht sich als „vorgezogener Nachruf auf eine erfolglose, aber nebenwirkungsreiche Idee“. Gemeint ist die Dominanz der biologischen Psychiatrie, die darauf abzielt, molekular zielgerichtete Therapien zu entwickeln. Tatsächlich hat die Einführung moderner Psychopharmaka in den 1980/90er-Jahren viele Hoffnungen geweckt. Doch jahrzehntelange Forschung und Multimilliarden-Investitionen, darunter das eben abgeschlossene „Human-Brain“-Projekt der EU, konnten diesem Ansatz seither zu keinen signifikanten Erfolgen verhelfen. Der Blick sei zu stark auf Gene und Moleküle fixiert gewesen und habe dabei den Menschen aus den Augen verloren, lautet Haslers Kritik. Zugleich eröffnet der Autor neue Perspektiven für eine „pragmatische Psychiatrie“. Worauf also dürfen Menschen mit psychischen Erkrankungen heute hoffen? Vielversprechend sind Telemedizin und digitale Hilfsmittel, die Verlagerung der Behandlung von der Klinik in die häusliche Umgebung, die stärkere Einbeziehung der Betroffenen und Angehörigen, u. U. auch die Wiederentdeckung psychedelischer Therapien. Es gehe primär um soziale, ökologische und politische Lösungen, so Hasler: „Gut möglich, dass wir uns schon bald staunend fragen werden, wir wir jemals daran glauben konnten, dass uns Studien zur Bildung von Dopamin-Neuronen im Zebrafisch etwas über Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern erklären könne.“ Neue Psychiatrie Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft Von Felix Hasler Transcript 2023 256 S., kart., € 25,– Foto: iStock/ilona titova Von Martin Tauss „ Achtsamkeit, Freundschaft und Psychotherapie sind ‚Praktiken‘ für moralische Integrität und ein ehrliches Leben. “ Nutzen wir die Chance, in einer freien Gesellschaft zu leben und kultivieren wir ein neues Bildungsideal: existenzielle Redlichkeit. Ein Appell zur Ent-Täuschung. Tiefgehend aufrichtig Können Sie sich in den Spiegel schauen? Einen schonungslos ehrlichen Blick auf sich selbst werfen? Und leben Sie in einem sozialen Umfeld, in einer Kultur, die das ermutigt? Für Winston Smith gilt das definitiv nicht. Die Hauptfigur in George Orwells dystopischem Roman „1984“ arbeitet in einem „Ministerium für Wahrheit“ und hat die Aufgabe, die Ideologie eines totalitären Überwachungsstaats zu verbreiten. Dazu zählt umfangreiche Geschichtsfälschung sowie allgegenwärtige Propaganda, die darauf abzielt, einen Staatsfeind zu erschaffen. Der Bevölkerung werden Parolen eingehämmert, die die Welt auf den Kopf stellen: „Unwissenheit ist Stärke“, „Freiheit ist Sklaverei“ oder „Krieg ist Frieden“. Als Smith nach der wahren Vergangenheit zu suchen beginnt, wird er vom Regime gefangen genommen und gefoltert. Was Orwell in seinem Buch beschreibt, ist auch heute eine häufige Strategie totalitärer Systeme: die Bevölkerung mit Desinformation zu überschwemmen, bis sie die Orientierung verliert. „Es ist nicht das Ziel der Propaganda, dass die Bevölkerung nur eine Version der Geschichte glaubt, sondern dass sie gar nichts mehr glaubt (…)“, berichtet ORF-Korrespondentin Miriam Beller im Falter über die Situation im heutigen Russland. Dort hat Präsident Putin vermeintliche „Nazis“ in der Ukraine und eine existenzielle Bedrohung durch „den Westen“ aus dem Hut gezaubert, um aus einem verbrecherischen Angriffskrieg einen Akt der Verteidigung zu machen. Das ist das ultimative Ziel der Autokratie: die Vergewaltigung der Wahrheit, die Herrschaft über die Wirklichkeit. Alltägliche Schönfärberei Kleine Fußnote am Rande: Philosophisch gesehen, ist Wahrheit natürlich ein heikler Begriff. Hier aber geht es um die Verdrehung ganz konventioneller Wahrheiten; darum, dass man ein „X“ für ein „U“ vorgemacht bekommt. Wenn Fakten in Diktaturen relativiert werden, ist es nicht nur schwierig, den Realitätssinn aufrecht zu erhalten. Auch der moralische Kompass wird gestört. Die politischen Bedingungen erschweren es den Menschen dann, ein aufrichtiges und anständiges Leben zu führen. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Auch in der demokratischen Welt wird Aufrichtigkeit nicht gerade gefördert. Hier sind es vor allem die großen „Player“ im Kapitalismus, die korrumpierende Kräfte entfalten können: So wie bei der Bestechung von Ärzten und Politikern durch Tabakkonzerne, die die Gesundheitsgefahren des Rauchens ab den 1950er-Jahren unter den Teppich kehren wollten. Oder später bei den Strategien der Ölkonzerne, um die wissenschaftlichen Prognosen zum Klimawandel unter Verschluss zu halten. Viel subtiler sind da schon die Halbwahrheiten der Werbung, die uns auf Schritt und Tritt begleiten: Sie schmeicheln und vertuschen so charmant, dass die Welt fast unmerklich schöngefärbt wird. Exemplarisch dafür ist der Supermarkt, wie der Historiker Philipp Blom im letztwöchigen FURCHE-Interview bemerkte: „Eine Illusionsmaschine, in der die Kühe lila und die Bauern fröhlich sind und der Kaffee von lächelnden Indios geerntet wird. Das verstellt den Blick auf die Realität der schwindenden Biodiversität, der verödeten Felder, der Tierfabriken usw.“ Auch die Politik, seit ihren antiken Ursprüngen als Vorbild für das Gemeinwesen konzipiert, ist von dieser Marketing-getriebenen „Illusionsmaschine“ infiltriert. Spätestens in der Ära Kurz wurde die Wer-
DIE FURCHE · 39 28. September 2023 Lebenskunst 19 „ Geistige Haltungen lassen sich durch Körperstellungen zum Ausdruck bringen (‚Embodiment‘): Aufrechtes Sitzen oder Stehen begünstigt die innere Aufrichtigkeit. “ beagentur zum substanzlosen Symbol des politischen Handelns. Bezeichnenderweise dreht sich das Nachspiel dieser Ära moralisch wie juristisch um die Frage der Redlichkeit. Wird die Kluft zwischen Schein und Sein allzu offensichtlich, freuen sich übrigens die Verschwörungstheoretiker, die immer schon gewusst haben, dass „wir uns eben gerne täuschen lassen“. Die aktuelle Demokratieverdrossenheit wurzelt in einem Mangel an Echtheit und Ehrlichkeit. Was bereits zum Standard der Kindererziehung gehören sollte („Lügen haben kurze Beine“, „Ehrlich währt am längsten“), scheint derzeit wenig wertgeschätzt. Schonungslose Selbstbetrachtung Wenn heute Vertreter(innen) einer Neuen Aufklärung (Philipp Blom, Corine Pelluchon, Markus Gabriel, etc.) gegen die vernebelnden und verdunkelnden Tendenzen in unserer Kultur Stellung beziehen, geht es letztlich um genau das: radikale Aufrichtigkeit. Sie ist das Fundament gedeihlicher Gesellschaften, in denen die Individuen ihr menschliches Potenzial optimal entfalten können. „Wir müssen lernen, daß die intellektuelle Redlichkeit allem, was uns teuer ist, zugrunde liegt“, hat der große Wissenschaftsphilosoph Karl Popper in seinem Klassiker „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945) festgehalten. Der deutsche Philosoph Thomas Metzinger greift diesen Begriff exemplarisch auf, um einen ehrlichen Umgang mit der eskalierenden Klimakrise zu etablieren: „Intellektuelle Redlichkeit meint die Weigerung, sich selbst in die Tasche zu lügen.“ Angesichts des Ernsts der Lage seien Verdrängung, Zweckoptimismus und Selbstüberschätzung nicht mehr angebracht. In seinem jüngsten Buch „Bewusstseinskultur“ (2023) skizziert Metzinger eine Lösung, die zumindest das individuelle Leben in einer gefährlichen Welt noch lebenswert machen soll, u. U. selbst in einer Phase des kollektiven Scheiterns. Sie gründet auf einer innerlichen Haltung, die unangenehmen Tatsachen fest ins Auge sieht, und sie präsentiert Praktiken, mit denen diese Haltung eingeübt werden kann. Denn Redlichkeit beginnt vor der eigenen Haustür – mit schonungsloser Selbstbetrachtung. „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“, heißt es in der Bibel. „Die Dinge so sehen, wie sie sind“ – das wiederum ist der Anspruch der buddhistischen Achtsamkeitsmeditation. Metzinger plädiert für eine säkulare Meditationspraxis, um die Selbsterkenntnis zu fördern und sich „auf radikal ehrliche Weise dem zuzuwenden, was man schrittweise zu sehen beginnt: die leidvolle Ruhelosigkeit des eigenen Geistes; die eigenen Gewaltphantasien; den Neid und das Bedürfnis nach Vergeltung; die Langeweile und die Gekränktheit; die subtilen Grundgefühle von existenzieller Einsamkeit, innerer Leere und Verzweiflung“. Innere Haltungen lassen sich durch bestimmte Körperstellungen zum Ausdruck bringen („Embodiment“): Aufrechtes Sitzen oder Stehen begünstigt somit die Aufrichtigkeit, mit der all die auftauchenden Körperempfindungen, Emotionen und Gedanken während der Meditation vorurteilsfrei wahrgenommen werden. Blinde Flecken erkunden Um sich in Redlichkeit zu üben, empfiehlt sich auch der Austausch mit guten Freund(inn)en, die einem nicht nach dem Mund reden und so eine Korrektivfunktion ermöglichen. Vieles klärt sich in einem ehrlichen Gespräch. Ehe und Partnerschaft, Freundschaft und soziale Netzwerke würden so zu Keimzellen einer Kultur der Aufrichtigkeit. Doch zum Teil bedarf es auch professioneller Hilfe: Laut epidemiologischen Studien tragen viele Menschen blinde Flecken in sich, die oft nur durch eine Psychotherapie ans Licht zu bringen sind. Die neuesten Erkenntnisse der Trauma-Forschung zeigen, wie schmerzhafte Erinnerungen und Emotionen verborgen in den Tiefen der Psyche schlummern. Diese abgespaltenen Anteile halten die Persönlichkeit wie in einem unbewussten Gefängnis arretiert. Betroffene neigen dazu, sich ihre Lebensgeschichte schönzureden, um die unangenehmen Tatsachen ja nicht anzurühren. Der Weg zur Heilung verlangt viel Mut, den eigenen Schmerz freizulegen und zu konfrontieren. Erst dann sind Trauma-Patient(inn)en in der Lage, mit der Wahrheit ihrer inneren Verletzung (gut) zu leben. „Die letzte Rettung“ (25.4.2023): Martin Tauss über Thomas Metzingers neuestes Buch „Bewusstseinskultur“, auf furche.at. Achtsamkeit, Freundschaft und Psychotherapie: All diese „Lebenskunstpraktiken“ fördern weit mehr als nur intellektuelle Redlichkeit. Sie machen den Körper und die Gefühle bewusst, sie adressieren das ganze Wesen des Menschen. Wie lassen sie sich institutionalisieren? Sie erfordern die Bereitschaft, hinter die Fassade zu blicken und sich dabei ent-täuschen zu lassen. Das ist teils schmerzhaft, aber stets lohnend. Denn diese Art von existenzieller Redlichkeit ist die Grundlage für moralische Integrität. Und sie wird, allen Schwierigkeiten zum Trotz, dafür sorgen, dass wir uns auch künftig gerne in den Spiegel schauen. DIE FURCHE EMPFIEHLT Ökologisches Theater Wie erzählt man die Entwicklung unseres Planeten auf der Bühne? Wie werden NASA-Daten zur Klimakrise zu Musik? Künstler(innen) arbeiten mit Forscher(inne)n der Harvard Universität und des IIASA in Laxenburg zusammen, um Dimensionen der ökologischen Krise zu beleuchten. Beim Wiener Augarten werden sie Stücke präsentieren und danach mit dem Publikum diskutieren. „Was wir wollen“ Das MuTh, Am Augartenspitz, 1020 Wien 6. Oktober, 20 Uhr, https://muth.at STADT, LAND, FLUSS HIER IST FÜR JEDEN WAS DABEI! Eine Karte, die Freude bereitet! Die Hotel-Vorteilscard von Green Habitat bietet Top-Konditionen in exklusiven, nachhaltigen Hotels. Jede Buchung signalisiert Ihr Engagement und Ihre Wertschätzung der Umwelt gegenüber. www.greenhabitat.at RZ_Die-Furche_275x196_230824.indd 1 18.09.23 11:01
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE