DIE FURCHE · 39 14 Kultur 28. September 2023 Neuer Standort Seit Mai hat die „VinziRast am Land“ im Wienerwald an der Via Sacra nach Maria zell ein neues Domizil. In und mit der Natur zu arbeiten, stärkt das Selbstwertgefühl und fördert den Teamgeist. Foto: Martin Steiger Von Isabella Marboe Tomaten sind Scheiße, sie stehen alle nicht.“ Karl* hockt über den „Diese Töpfen mit den Setzlingen in einem Plastikuntersetzer. Es ist heiß, er hat sein Kapperl tief ins Gesicht gezogen, ein bandagiertes Knie und ärgert sich. Jemand hat vergessen, die Pflanzen auseinanderzurücken. Nun versucht er, die geknickten Stängel mit einem Stecken aufzurichten. „Der Wind kann sie leicht brechen.“ Paradeiser müssen weniger Energie aufbringen, wenn sie einander stützen. Sie sind dann aber nicht stark genug, um allein zu stehen. Damit sie das wieder schaffen, braucht es jemanden, der sie wieder aufrichtet. Wie die Menschen. Bunter Haufen Die „VinziRast am Land“ steht allen offen, die den Boden unter den Füßen verloren haben und eine schützende Gemeinschaft gut brauchen können. Neun wohnen derzeit hier, acht Männer, eine Frau, drei Nationen ‒ ein bunter Haufen. Im Mai war Eröffnung, Mayerling 1 war einst eine Pilgerstätte für Feinschmecker. Dort kochte Haubenkoch Hanner auf. Heute betreibt die „VinziRast am Land“ dort eine biologische Landwirtschaft mit Beherbergungsbetrieb und Hofladen. Ein Ort zum Wachsen sie sind schon zusammengewachsen. „Wir können selbst bestimmen, wen wir aufnehmen“, sagt Irina Baumgartner, die Leiterin. „Alkohol ist grundsätzlich kein Problem. Entscheidend ist, was das Individuum und was die Gruppe tragen kann.“ Das erfordert fast noch mehr Feingefühl. Eine Frau mehr wäre jetzt gut. Baumgartner wickelte lange internationale Hilfsprojekte ab, auch sie ist hier am richtigen Ort angekommen. Wie Michael Schmid, der Herr über das Gewächshaus, den Fischteich, die Pflanzen und Felder. Er absolvierte die Landwirtschaftliche „ Die landwirtschaftliche Arbeit ist vielseitig und frei, sie erdet und nährt. “ Fachschule, sattelte ernüchtert von der Agrarindustrie auf Medientechnik um, führte eine solidarische Landwirtschaft und ist nun dort, wo er immer hinwollte: bei Pflanzen und Menschen. „Es freut mich, wenn ich auf jeden individuell eingehen kann.“ Jeden Morgen werden beim gemeinsamen Frühstück die Aufgaben für den Tag verteilt. „Das muss im Einklang mit dem stehen, was die Leute leisten können, ohne gestresst zu sein“, sagt Baum- gartner. Die landwirtschaftliche Arbeit ist vielseitig und frei, sie erdet und nährt. Unkraut jäten, Rasen mähen, füttern, säen, pflegen, stutzen, zupfen, ernten, verarbeiten. Mitten am Land Grillen zirpen, Hühner gackern, irgendwo kräht ein Hahn und fährt ein Traktor vorbei. Es ist Nabil, der in dem roten Gefährt über den Parkplatz tuckert. Er ist aus Libyen und seit 2014 in Österreich. Nie fand er Arbeit, dabei kriegt er jede Maschine wieder flott. In seiner Heimat war er Bauer. „Ich gehöre aufs Land, ich bin sehr gern da“, sagt er. „Wir arbeiten gemeinsam, unterstützen einander, bauen unser Gemüse an, backen unser Brot und fangen unsere Fische.“ Früher kochte hier der Drei-Hauben- und Zwei-Sterne-Koch Heinz Hanner auf. Nach und nach baute er den elterlichen „Marienhof“, eine sympathische Raststätte mit ein paar Gästebetten aus den 1930er Jahren zum „Restaurant Hotel Meeting Point Hanner“ aus und um. Das Luxushotel ging 2016 in Konkurs, eine Stiftung von Hans Peter Haselsteiner kaufte es. Zu dieser Zeit GANZ DICHT VON SEMIER INSAYIF Poetische Spuren im existenziellen Zwischen so der Titel des Gedichtbandes von Elisa Asenbaum. 49 Gedichte, 12 Bilder „interirdisch“, und 17 wissenschaftliche Texte ergeben eine produktiv-strukturgebende Konstellation. Das Buch beginnt mit einem Vorwort von Herbert J. Wimmer, dessen Anfang folgendermaßen lautet: „Das buch interirdisch ist ein permanenter balanceakt …“. Das erste Gedicht trägt als Titel eine runde leere Klammer und das erste Wort heißt wohl nicht zufällig „Zwischen“: „Zwischen wirklich/ und verwirklichen/dehnt leert (sie)/raumt vermehrt/werkt und wirkt/sehnsuchtet unerfüllt/…“. Und schon hier wird das konkrete Materialbewusstsein dieser Sprache an sich selbst deutlich. Wortneuschöpfungen, Klangtransformationen, End-, Anlautreime und Assonanzen, Wiederholungen und Variationen von Wörtern, die sich nur durch einen Buchstaben unterscheiden, Verbkaskaden u. v. m. generieren ständige Bedeutungsvarianzen auf engstem Raum. Begriffe wie Kosmos, Seele, Leben, menschliches Sein, Sprache, Denken und Freiheit bilden dabei thematische Kondensate. Dies alles führt zu poetisch-assoziativen Interferenzen, die das Leben als existenzielles und wesentliches Dazwischensein begreifbar zu machen versuchen. Erkenntnisahnungen „weiß schon/immer nicht/wer ich sind“, so lautet das erste Gedicht mit dem Titel „selbstwissen“. Sieben Wörter, die maßgeblich den Anfang eines poetischen Suchvorganges auslösen oder symbolisieren. Es sind tastende, sich selbst verortende Sprachspuren, die in Benedikt Steiners Debütgedichtband „spuren in einem“ sicht- und hörbar werden. Gedichte, die als fragile geistige Fingerabdrücke sowohl ein schon Gewesensein als auch eine Gegenwärtigkeit erkennbar machen und darüber hinaus durch Fragmentieren und Verschmelzen von Innen und Außen, Perspektiven einer nach vielen Seiten offenen Ich-Existenzspur einer zukünftigen Sprachgestaltungsinstanz generieren. Es sind 85 Gedichte in fünf Kapitel unterteilt. Am Anfang und am Ende jedes Kapitels ist jeweils eine Fotografie zu sehen, die vom Dichter Benedikt Steiner selbst stammt. „imbauch/verbirgt sich/ein herz/imkopf/:/wachsen knoten heran /nachtschattig/“, so heißt es in einem Gedicht mit dem Titel „windungen“. Mit sprachlichen Mitteln wie Anlautreimen, Wortaufspaltungen und Neologismen werden Erkenntnisahnungen erarbeitet, in Frage gestellt, fragmentiert und agglutiniert. So entstehen poetische Gebilde, die musterhafte Zeugen einer stets prekären Existenz sind und sowohl skulptural als auch schwebend erscheinen. „ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede (nächstes: 12.10.2023) Lyrik vor. interirdisch Gedichte von Elisa Asenbaum Edition fabrik transit 2023 124 S., geb., € 20,– spuren in einem Gedichte von Benedikt Steiner TEXT/RAHMEN 2023 112 S., geb., € 18,–
DIE FURCHE · 39 28. September 2023 Kultur 15 „ Die ‚VinziRast am Land‘ steht allen offen, die den Boden unter den Füßen verloren haben und eine schützende Gemeinschaft gut brauchen können. “ war die „VinziRast am Land“ gerade auf der Suche nach einem neuen Standort. Haselsteiner bot ihr das unbeschränkte Nutzungsrecht in Mayerling an. An einem verregneten Herbsttag des Jahres 2019 begutachteten Ulrike Schartner und Alexander Hagner von gaupenraub+/- das Hotel zum ersten Mal. Ein unübersichtlicher Komplex mit 3.500 m 2 Nutzfläche, hakenschlagende Gänge, Stiegenhäuser und Zimmerfluchten auf unterschiedlichen Niveaus, in Hanners Dachloft hing ein weißer Frotteebademantel, viele Betten waren noch bezogen. Alles wirkte, als sei es gestern erst verlassen worden. „Nichts war in irgendeiner Weise charmant“, sagt Ulrike Schartner. gaupenraub+/- sind Experten darin, brachliegende Qualitäten zu entdecken. Es gab eine riesige Gastroküche mit zehn Küchenmonitoren, wandfüllendem Panoramafenster und traumhafter Aussicht, doch sie hatte keine gewerberechtliche Bewilligung mehr. Die Haustechnik war desolat, die Lüftung kaputt, man heizte mit Öl. Alles war hier groß und voller Mängel. Ein Glashaus und 160 Hühner Die Architekten ergriffen die Flucht nach vorne: Sie vergrößerten die 27.000 m 2 landwirtschaftlich nutzbarer Fläche mit Fischteich und den Hotelbestand noch weiter „Wir haben noch ein 600 m 2 großes Glashaus und einen Hühnerstall dazu gebaut“, sagt Alexander Hagner. gaupenraub+/- arbeiten vor allem mit dem, was da ist und dem, was ihnen zufliegt. Das vierschiffige Glashaus stammt aus einer aufgelassenen Gärtnerei in St. Pölten. Freiwillige hatten seine Bestandteile sorgfältig zerlegt, nummeriert, in Maria Anzbach gelagert, nach Mayerling transportiert. Allein: Niemand wusste mehr, wie die Teile zusammengehörten. Recherchen führten zu den Brüdern Winfried und Karl Pfeffer. Die zwei über 80-jährigen Pensionisten hatten es in den 1960er Jahren aufgebaut, sie taten es hier wieder. Der Hühnerstall stand früher im Kamptal und war eine Feldscheune. Schüler und Lehrer der HTL Mödling zerlegten ihn und rüsteten ihn hier mit Solarpaneelen zum Kraftwerk auf. Er ist nun die Heimat von etwa 160 Hühnern in Freilandhaltung. Sechs Rassen ‒ schwarz, gescheckt, braun –, die lauter verschiedenfarbige Eier legen. „ Der private Verein finanziert sich über Spenden und kann daher auch Menschen von der Straße aufnehmen, die keinen Ausweis haben. “ Vor zwanzig Jahren gründete Cecily Corti den Verein Vinzenzgemeinschaft St. Stephan, für den das Architekturbüro gaupenraub+/- von Anfang an plante: 2004 die „VinziRast-Notschlafstelle“ in der Wilhelmstraße, vier Jahre später das „CortiHaus“ mit 16 Wohngemeinschaften für etwa 30 Obdachlose. 2013 bauten gaupenraub+/- ein altes, desolates Gründerzeithaus in der Währinger Straße mit Ehrenamtlichen und Professionisten zur „Vinzi- Rast-mittendrin“ aus, wo Studierende und frühere Obdachlose gemeinsame Wohngemeinschaften bilden ‒ ein weltweit einzigartiges soziales Experiment. „Obdachlose Menschen sind zu 93 % psychisch krank“, sagt Veronika Kerres, die Obfrau der Vinzenzgemeinschaft St. Stephan. Der private Verein finanziert sich über Spenden und kann daher auch Menschen von der Straße aufnehmen, die keinen Ausweis haben. „Es ist wichtig, ihnen Aufgaben zu geben, die sie bewältigen und an denen sie wachsen können.“ Für viele ist ihre Tätigkeit in der VinziRast die Startrampe in eine reguläre Beschäftigung. Die „Vinzirast am Land“ liegt exklusiv entlegen mitten im Wienerwald an der Via Sacra nach Mariazell. Perfekt für Pilgernde, Wandernde und alle, die Natur und Ruhe suchen. Im Haus gibt es 36 Zimmer, 18 davon sind derzeit für die Bewohner(innen) reserviert, der Rest ist wieder Hotel. Seine mondäne Vergangenheit hat Spuren hinterlassen. Ein Bad wirkt, als wäre es Barbarella auf den Leib geschnitten, jedes Zimmer hat Balkon, es gibt viel Raum für Seminare. Ein Großteil des Frühstücksbuffets kommt aus eigenem Anbau, die Eier hat eines der Hühner gelegt, die draußen gackern. Das Personal rekrutiert sich aus der Bewohnerschaft. „Die Leute, die kommen, sind begeistert von der Authentizität“, so Baumgartner. Derzeit wird Hanners Loft zum Schlafsaal für Pilgernde ausgebaut. Julian ist 28 Jahre alt, schlaksig und groß, zwei Meter oder mehr. Er kommt aus einer Hippiefamilie und hat so gut wie alles schon gemacht. Er war auf einem Schiff, in der Immobilienbranche, Animateur, Barista, Student. Er weiß, wie man sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und mit fast nichts durchkommt. Bevor er nach Mayerling kam, hat er zwei Monate auf der Donauinsel geschlafen. Als ihm jemand von der „VinziRast am Land“ erzählte, machte er sich auf den Weg, half beim Ausmalen, putzte vor dem Eröffnungsfest und ist immer noch da. Sein Zimmer ist eine Art Mini-Studio, jeden Samstag fährt er mit Silvia Tuider, einer Ehrenamtlichen, auf den Bauernmarkt in Perchtoldsdorf, um dort Teile der Gemüseernte der Vinzi- Rast zu verkaufen. Im Dezember werden sie am Weihnachtsmarkt stehen. Wer nicht so lange warten will: Am 15. Oktober ist Herbstfest in Mayerling. www.vinzirast.at FEDERSPIEL Zwangsdemokratie Es ist erstaunlich, wie das Vokabular der Rechtspopulisten sich durchsetzt und nach und nach rechte Propagandabegriffe von der Allgemeinheit verwendet werden. Unlängst äußerte jemand in meinem Umfeld die Meinung, die „Zwangsgebühren“ für den ORF mögen abgeschafft werden und dieser solle sich auf dem „freien Markt der Medien“ behaupten. Wahrscheinlich ist damit jener Markt gemeint, den drei Boulevardmedien beherrschen, die (jedes für sich) pro Quartal einen zweistelligen Millionenbetrag von den Steuerzahlenden erhalten. Gestern habe ich im E-Banking meine Einkommensteuer bezahlt, jene Zwangssteuer, aus der auch die Boulevardmedien gefüttert werden. Danach fuhr ich mit dem Fahrrad in die Innenstadt. Aber schon bei der ersten Kreuzung dachte ich: Wozu diese Zwangsampeln? Wieso können zwei oder mehrere beschleunigte Körper nicht in den freien Wettbewerb eines Zusammenstoßes nach den Gesetzen der Physik treten? Man wird schon sehen, wer dabei stirbt, wer verletzt wird und wer unbeschadet davonkommt. Der Witz an rechter Propaganda ist, dass sie nur in der Demokratie möglich ist. Setzen sich die Rechtspopulisten durch und errichten den Staat ihres Ideals, dann wird es nur mehr Zwänge geben ‒ aber niemand wird sie mehr als solche bezeichnen. Denn wer dann die Stimme erhebt, wird nicht lange in Freiheit leben. Daher genieße ich die Zwangsdemokratie und muss ertragen, dass das Geschrei der Demokratiefeinde ein Teil ihrer Freiheit ist. Das sei auch allen gesagt, die den Ausdruck „liberale Demokratie“ verwenden. Es ist eine Tautologie. Illiberale Demokratie ist nach allen Definitionen Scheindemokratie und somit keine Demokratie. Vom Rechtspopulismus sollte man sich abgrenzen ‒ auch durch die Sprache. Der Autor ist Schriftsteller. DIE FURCHE EMPFIEHLT Christine Lavant Preis 2023 Der diesjährige Christine Lavant Preis wird am 8. Oktober im Rahmen einer Matinee im ORF Radio- Kulturhaus in Wien übergeben. Der in der Ukraine geborene Preisträger Yevgeniy Breyger zählt zu den Von Daniel Wisser herausragenden deutschen Lyrikern der jüngeren Generation. Das künstlerische Rahmenprogramm umfasst eine Lesung aus Werken Christine Lavants, begleitet von Musik und Filmausschnitten. Christine Lavant Preis 2023 8. Oktober 2023, 11.00 Uhr, ORF RadioKulturhaus, Tickets unter: 01 50170-377 www.christine-lavant.com WIEDERGELESEN Der Schock, Schuld auf sich geladen zu haben Von Anton Thuswaldner Als im Mai 1956 Albert Camus' Roman „Der Fall“ erschien, war der Autor bereits ein gefragter Intellektueller und eine anerkannte Persönlichkeit, die Einfluss auf die Gesellschaft hatte. Ein Jahr später erhielt er den Nobelpreis für Literatur, im Jänner 1960 kam er bei einem Autounfall ums Leben. So ist der Roman als eine Art provisorischer Schlussstein eines unabgeschlossenen Werkes zu sehen. Camus arbeitete ja nicht Buch für Buch ab, sondern dachte in großen Dimensionen von Zyklen, die in verschiedenen literarischen Genres menschliche Verhältnisse ergründen sollten. Der dritte Zyklus, der ihn zuletzt beschäftigte, sollte dem modernen Menschen seine Maßlosigkeit vor Augen führen, deren Folgen unabsehbare Verwüstungen des Planeten und der Seelen bedeuten würden. Jean-Baptiste Clamence kann als Anwalt auf eine außergewöhnliche Karriere zurückblicken. Im Amsterdamer Hafenviertel, wo er in einer Bar in einem monströsen Monolog Rechenschaft über seine Versäumnisse ablegt, erhebt er dennoch ungerührt Selbstanklage. Das ist einer der Schlüsseltexte des Existenzialismus, der ungeschützt vom Drama des Menschseins berichtet und wenig Anlass zur Hoffnung bietet. Dabei hätte Clamence allen Grund von einem geglückten Leben zu erzählen. Als Anwalt hatte er Erfolg, er hatte stets im Sinn, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, er war im Reinen mit sich und der Welt und genoss sein Leben. Unvermutet kommt jener Moment, der ihn ins Taumeln versetzt und nachhaltig verstört. Als er auf der Brücke ein Lachen vernimmt, das aus dem Nichts zu kommen scheint, vermeint er, dass sein anderes Ich höhnisch auf das scheinbar so untadelige Leben blickt. Einmal zur Selbsterkenntnis angestiftet, erkennt er all die Mängel, die ihm erst jetzt schrecklich bewusst werden. Ein Leben, ohne anderen Verletzungen zugefügt zu haben, ist nicht zu kriegen. Das muss einer erst einmal aushalten. Clamence ist nicht gläubig, deshalb akzeptiert er keinen Gott, vor dem er seine Sünden bekennen müsste. Also sieht er sich dazu gezwungen, als Ankläger in eigener Sache tätig zu werden. Dass Religion in seinem Leben keine Rolle spielt, hindert ihn nicht daran, sich mit deren großen Themen ‒ Schuld, Gnade, Sühne und Erlösung ‒ zu beschäftigen. Es geht um das Ende der Selbstgerechtigkeit, die einen erfolgsgewöhnten Charakter so leicht heimsucht. So subjektiv diese Abrechnung auch immer gehalten ist, Camus geht es um den modernen Menschen, den er nicht aus seiner Verantwortung entlassen will. Grete Osterwald hat dieses harte Stück Literatur neu übersetzt und in eine flüssige Sprache gebracht. Solch einen Roman benötigen wir dringend für unsere Gegenwart, in der Selbstkritik guttut. Um große Literatur handelt es sich dabei sowieso. Der Fall Roman von Albert Camus Aus dem Franz. von Grete Osterwald Rowohlt 2023, 126 S., geb., € 24,70
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