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DIE FURCHE 28.09.2023

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DIE FURCHE · 39 10 Diskurs 28. September 2023 Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. ERKLÄR MIR DEINE WELT Aus meiner neuen Welt mit Hörgerät Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast Meine Welt, die ich Ihnen heute erklären will, jubelt: Mein erstes Hörgerät ist da! Und seit drei Tagen in der Probephase! Ich war ja bis vor Kurzem standhaft dagegen und widerständig und störrisch. Da fällt mir ein, ob „törrisch“, wie man in meiner Heimat zu Schwerhörigen sagt, etymologisch mit dem Wort „töricht“ verwandt ist? Wohlmeinende Menschen in meiner Umgebung haben mir dies ja sanft zu verstehen gegeben. Inzwischen übe ich mich in Zustimmung. Denn: Warum sollte man den Bedarf einer „Hörhilfe“ nicht ebenso emotionsfrei und dankbar zur Kenntnis nehmen wie den einer Brille (ist gleich „Sehhilfe“)? Nun, eine schicke Brille ist ein gesellschaftliches Upgrading – auch des eigenen Selbstwerts. Aber ein Hörapparat? Zweifellos eine Erniedrigung. Gehört aber jetzt zu meiner Welt. Und kann daher ruhig auch sichtbar sein. Basta. Eine Behinderung zu verstecken – noch dazu eine, die mir altersgemäß zusteht –, nur der Eitelkeit wegen, ist eine Verleugnung. Deshalb habe ich mich – analog zu einem Auto – auch nicht für einen Porsche Carrera entschieden. Ich bleibe Mittelklasse und brauch keine Bluetooth-Verbindungen der Ohren mit der Waschmaschine. Der große und bescheidene Ökonom Lepold Kohr, von dem ich Ihnen schon einmal erzählt habe, bleibt ja mein Idol. Small is beautiful, obwohl sein Hörgerät noch ein Riesending war. Ums Hören, liebe Frau Hirzberger, geht es ja eigentlich auch in Ihrer nachurlaublichen Betrachtung über das Quatschen bzw. den small talk, der mir ja seit jeher ein Gräuel ist. Ich liebe ein gutes und inhaltsreiches Gespräch, bei dem es mehr auf das Hören als auf das Reden ankommt. „Stecke deine Augen in die Ohren“, soll Martin Luther gesagt haben. Da ist bei mir jetzt weniger Platz wegen der Ohrstöpsel, aber ich habe schon verstanden, dass Luther mehr Achtsamkeit beim Zuhören empfiehlt. „Sie müssen nicht denken, bevor Sie sprechen“, sagte Elfriede Jelinek in der Dankesrede für einen großen Radiopreis, „aber Sie müssen denken, wenn Sie zuhören.“ Kein unbedachtes Wort „ Bis vor Kurzem war ich standhaft dagegen und störrisch. Ob ,törrisch‘, wie man auch zu Schwerhörigen sagt, etymologisch mit ,töricht‘ verwandt ist? “ Also im ersten Teil dieser Aussage möchte ich der Frau Nobelpreisträgerin submissest widersprechen. Denn: Viel Unheil könnte vermieden werden, wenn Frau oder Mann zuerst denken, bevor ein unbedachtes Wort das Gehege ihrer Zähne verlässt, wie es so bildlich bei Homer heißt. Für alles Geschwätz, Gewäsch oder Gequatsche wäre das neue Modewort „toxisch“, also vergiftend, wirklich angebracht! Schon in der Probezeit, die ich meiner neuen Hörhilfe gewähre, erkenne ich: Es fällt mir damit leichter, gut und genau hinhören zu können. Das ist wichtig. Gerade in letzter Zeit, wo die Phrase, der Hass und die Lüge, diese drei Gespenster, wieder ihr Unwesen treiben. Damit will ich aber diesen Brief nicht schließen, der diesmal wirklich ganz aus „meiner Welt“ kommt. Ich muss noch erwähnen, wie mich, den Alten, der junge Mann vom Hörakustikstudio in die neue Welt einer Hörhilfe eingeführt hat: geduldig, respektvoll, fachkundig und mit Empathie. Dafür bin ich dankbar! Und Sie, liebe Frau Hirzberger, grüße ich herzlich. Von Henning Klingen Gianni Vattimo ist verstorben. 2004 sah DIE FURCHE In FURCHE Nr. 52/53 sein Buch „Jenseits des Christentums“ als Beispiel für 3800 23. Dezember 2004 das neue intellektuelle Interesse an Religion. Er verstand seine gesamte Philosophie als - freundschaftlichen – Dialog. Nun ist Gianni Vattimo, der von 1964 bis 1982 als Professor für Ästhetik und danach für theoretische Philosophie an der Universität Turin lehrte, 87-jährig gestorben. Anlässlich seines Todes bringen wir eine Besprechung seines wegweisenden Buches „Jenseits des Christentums“. Ruhig geworden ist es im theologischen Diskurs: Der gesellschaftliche Relevanzverlust des Christentums hat die Theologie ebenso in die Krise geführt wie ihre universitäre Selbstisolierung. In dieser Situation ist es ausgerechnet die Philosophie, die mit Namen wie Jacques Derrida, Jürgen Habermas oder dem italienischen Grenzgänger zwischen Theologie und Philosophie, Gianni Vattimo, einer Kränkelnden zu Hilfe kommt. Letzterer plädiert [...] in seinem jüngsten Buch „Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott?“ (2004) für eine philosophische Relecture des Christentums, genauer: der jüdisch-christlichen Theologie. Und wie schon zuvor, geht Vattimo auch diesmal von Nietzsche und Heidegger aus. Nietzsches Rede vom „Tod Gottes“ und Heideggers Wort vom „Ende der Metaphysik“ Der Götter Wiederkehr sieht er als charakteristisch für den gegenwärtigen Zustand der Moderne an: Als tot erscheine nämlich gerade jener Gott, der als felsenfestes Fundament sicherer moralischer Urteile herangezogen wurde; als tot erweist sich aber auch jede andere Art, sich auf irgendein letztbegründbares Fundament zurückzuziehen. Was bleibt, ist die Ungewissheit. Diese lässt aber die Theologie für die Philosophie wieder interessant werden, denn: wo keine letztgültigen Aussagen mehr haltbar sind, werden alle Optionen gleich wahrscheinlich. Vattimo [...] versteht die Säkularisierung, jenen Prozess, der gerade in die heutigen Ungewissheiten geführt hat, als Frucht des biblischen Glaubens, denn gerade das sei es, was die paulinische Rede von der [...] Fleischwerdung Gottes, besage: die Absage an jenen Gott, der als übernatürlich-gewaltvoller Herrscher durch die Zeiten regiert. Statt dessen zeuge Jesu Rede von der „Armut im Geiste“ davon, dass der biblische Glaube alles hochtrabende Gottesdenken ablehne – „schwaches Denken“ nennt es Vattimo – und versteht die Säkularisierung selbst als eine „Episode der Heilsgeschichte“. Doch es gibt eine Grenze [...] der Zertrümmerung der Wahrheiten: die christliche „Caritas“, die Nächstenliebe. Sie stellt für Vattimo den nicht-rationalisierbaren Kern der christlichen Botschaft dar, da sie selbst bereits Frucht des „schwachen Denken“ sei, da sie den Sturz des über allem thronenden Gottes bereits verinnerlicht [...] hat. Diese Gedanken Vattimos sind nicht neu. Neu ist die Tiefe ihrer Ausführungen und Begründungen [...]. Dennoch bleibt ein Unbehagen; allzu leichtfüßig wirkt Foto: Getty Images / Mondadori / Adriano Alecchi die Glättung Jahrhunderte alter Grabenkämpfe zwischen Philosophie und Theologie. Und: Vattimo unternimmt nichts weniger als die Preisgabe jenes Gottes, der als das die Zeit befristende Ende gedacht wird! [...] Vattimos Gott bleibt damit ein Gott der Philosophen – gefordert wäre aber eine Besinnung auf die Bedeutung [...] des Glaubens für heutiges Zusammenleben; eine Besinnung, zu welcher die Theologie selbst aus ihrem biblischen Erbe schöpfen müsste – und könnte. AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. 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DIE FURCHE · 39 28. September 2023 Diskurs 11 Auf der Mittelmeerinsel zeigt sich einmal mehr, dass Europa mit seinem Konzept der Externalisierung migrationspolitischer Kontrollen und Restriktionen gescheitert ist. Ein Gastkommentar. Lampedusa: Ohnmachts- Politik der Auslagerung Vergangenen Juni pilgerte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, begleitet von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, nach Tunis, um den dortigen Präsidenten Kais Saied davon zu überzeugen, dass sein Land für die EU doch die Rolle des Grenzpolizisten übernehmen möge. Mitte September reisten die beiden Damen nun nach Lampedusa, um sich ein Bild von der dortigen Lage zu machen. Die italienische Insel, lediglich 138 Kilometer von Tunesien und somit von der nordafrikanischen Küste entfernt, sieht sich nämlich wieder einmal mit einem Ansturm illegaler Migrantinnen und Asylsuchenden konfrontiert. Der vor dem Sommer angekündigte Migrationspakt mit Tunesien zeigt also keine Wirkung. Die in Aussicht gestellte Milliarde Euro hat – wieder einmal – nicht das bewirkt, was man sich in Brüssel und Rom erwartet hatte: die unangenehme „Flüchtlingsabwehr“ fernab der eigenen Außengrenze. Dabei hat die sogenannte externe Migrationspolitik der EU in den letzten beiden Jahrzehnten eine große Zahl unterschiedlicher Instrumente und Abkommen entwickelt, die die Tendenz zur Externalisierung zunehmend verstärken und zu einer Verlagerung migrationspolitischer Kontrollen und Restriktionen in Drittstaaten führen sollten. Fokus auf „Abwehr“ statt Demokratie Zu Beginn noch mit einer Perspektive zur legalen Zuwanderung kombiniert, setzt man heute faktisch nur noch auf finanzielle Anreize bei Wohlverhalten. Als solches gilt, irreguläre Abwanderung einzuschränken und jedenfalls Menschen zurückzunehmen, die das Land auf diesem Weg verlassen haben. Dies soll in jeweils rechtlich bindenden Rückübernahmeabkommen festgeschrieben werden. Auch die früher immer prominent angekündigten Transformationsagenden treten in den Hintergrund. Der Fokus auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit scheint nicht mehr dieselbe Bedeutung einzunehmen. Wichtig erscheint vielmehr die Bereitschaft, bei der „Abwehr“ illegaler Migration mitzuwirken. Dass damit gleichzeitig auch die Hemmschwelle für die migrationspolitische Kooperation mit Foto: Privat DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Stefan Brocza „ Papst Franziskus sagt, dass Migration eine Gegebenheit unserer Zeit sei. Das klingt doch zu sehr nach Fatalismus. “ autoritären und fragilen Staaten sinkt, wird dabei in Kauf genommen. Angesichts dieser etablierten externe Migrationspolitik der EU überrascht der von Ursula von der Leyen verkündete „10-Punkte-Plan für Lampedusa“ nicht wirklich. Altbekanntes wird da als innovative Lösung verkündet. Dass kein einziger der zehn Punkte auch nur ansatzweise dazu geeignet ist, die aktuelle Situation auf Lampedusa nachhaltig zu verändern, wird von der Öffentlichkeit nicht einmal mehr wahrgenommen. Da sollen etwa Menschen von Lampedusa in andere EU-Mitgliedstaaten überstellt werden – einen freiwilligen Solidaritätsmechanismus nutzend, der so nicht funktioniert und in der Realität auch nicht zur Anwendung kommt. Da wird eine Intensivierung der Rückkehroperationen mit wichtigen Herkunftsländern genannt und man verweist dabei etwa auf Burkina Faso. Wohl wissend, dass dieses Land mit seiner russlandfreundlichen Regierung nach dem letztjährigen Putsch keinerlei Interesse hat, mit der EU auch nur über irgendetwas zu reden. Wer solche Maßnahmen verkündet, begeht politischen Etikettenschwindel. Die schließlich auch noch angekündigten „verstärkten Sensibilisierungs- und Kommunikationskampagnen“, um vor einer Mittelmeerüberquerung zu warnen, lassen einen dann nur noch fassungslos den Kopf schütteln. Glaubt man in der Brüsseler EU-Kommission tatsächlich, dass man mit solch einem Paket an potemkinschen Maßnahmen auch nur irgendetwas an der konkreten Situation auf Lampedusa verändern würde? Oder ging es bei dieser 10-Punkte-Verkündigung wieder einmal nur um postdemokratisches Blendwerk? Migrations-Thema: Perfekt für Aktionismus „Migration ist ein sehr komplexes Thema“, stellte Giorgia Meloni dieser Tage fest. Das stimmt fürwahr. Gleichzeitig eignet es sich aber auch wunderbar für politischen Aktionismus. Und so verwundert es auch nicht, dass Österreichs erste Reaktion auf die aktuelle Situation auf Lampedusa darin bestand, die Kontrollen am Brenner zu intensivieren. Wohl wissend, dass die aktuellen Hauptrouten illegaler Wanderbewegungen von Italien nach Frankreich bzw. über die Schweiz nach West- und Nordeuropa führen. Die Kontrollen am Brenner bringen migrationspolitisch – außer ein paar markigen Schlagzeilen im österreichischen Boulevard – gar nichts. Bleibt die Frage, wie man denn nun – abgesehen von der aktuellen Lage in Lampedusa – grundsätzlich mit dem anhaltenden Migrationsdruck umgehen sollte. Angedachte „Korridore zur legalen Einwanderung“ werden das Problem nicht lösen. Die Erwartungshaltung der europäischen Bevölkerung nach tragfähigen politischen Lösungen ist jedenfalls groß. Papst Franziskus hat am Wochenende in Marseille wissen lassen, dass es sich bei der Migration weder um eine Invasion noch um eine Notsituation handle, sondern um eine Gegebenheit unserer Zeit. Das klingt dann aber doch zu sehr nach Fatalismus. Der Autor ist Experte für Europarecht und internationale Beziehungen. Er hat 2015 ein Buch zum Thema „Auslagerung des EU-Grenzregimes“ (Promedia) herausgegeben und für die österr. Gesellschaft für Europapolitik 2018 einen Policy-Brief zu Externalisierung verfasst. QUINT- ESSENZ Von Brigitte Quint Bittersüß, bedrohlich Beverly Hills 90210. Brenda, Brandon, Kelly, Donna, Dylan, die spießigen Walsh-Eltern. Zehn Staffeln, 293 Episoden. Ich habe ein RTL+-Abo abgeschlossen, um mich auf eine Reise in die Vergangenheit zu begeben; eine Lebensphase poppt auf, die aufregend war und bedrohlich und grandios und beängstigend und bittersüß und alles gleichzeitig und nichts davon. Wie alt war ich? Plus minus 16 Jahre. Und ich saß samstags um punkt 15.45 Uhr vor der Glotze. Jeden Samstag. Ausnahmslos. Vielleicht war es auch 16.15 Uhr. Eine Freundin meint, es wäre noch später gewesen. Diese 44 Minuten waren heilig. Vermutlich, weil ich mich für eine Weile aus meiner eigenen Pubertät ausklinken und in eine andere hineinklinken konnte. Dreißig Jahre später schreiben wir das Zeitalter der Streamingdienste. Ich könnte 12.892 Minuten, 215 Stunden, neun Tage am Stück abtauchen. Es ist reine Selbstdisziplin, die mich davon abhält. Nicht unbedingt, weil mich der Erzählstrang so beflügelt. Es ist die Erleichterung. Die Probleme, die in der Serie verhandelt werden, verbuche ich als „überstanden“. Es ist ein Unterschied, ob man nichts sehnlicher erwartet, als endlich erwachsen zu sein und gleichzeitig große Angst davor hat, oder ob man weiß, wie es ist – und immer noch Angst davor hat. Heutzutage zieht sich eine Serie nicht mehr über ein Lebensalter oder gar die ganze Jugend, sondern über ein Wochenende oder wenige Wochen. Zumindest scheinen es die meisten so zu halten. Es werden einem keine Grenzen gesetzt. Was macht das mit einem? Nehmen die „Feel-Good“-Momente ab, weil sie nicht nach einer Folge automatisch enden? Oder sind sie noch ausgeprägter, weil die permanente Angst vor der Schlussmelodie ausbleibt? Ich kann nur für mich sprechen. Mich katapultiert kein TV-Sender mehr ungefragt aus dem Walsh-Haus hinaus. Ich bin autonom und entscheide selbst, wann es genug ist. Als 16-Jährige wäre ich dafür zu durcheinander gewesen. Sind die Teenies heute entspannter? Sicher nicht, wenn „Beverly Hills 90210“ in ihre Lebenswelt vordränge. Die Serie wäre viel zu wenig woke. Aber mir macht das nichts aus. Ich bin alt genug, um damit umgehen zu können. PORTRÄTIERT Der Elektriker, der den UdSSR-Stecker zog Als im Sommer 1980 der arbeitslose Gewerkschafter Lech Wałęsa über die Mauer der Danziger Lenin-Werft ins Werksgelände sprang, Solidarność vom Stapel laufen ließ und sich damit in die Nachrichtensendungen in aller Welt katapultierte, waren die Aussprachevarianten seines Nachnamens Legion. So wie Welt und Kirche zwei Jahre davor vom Zungenbrecher Wojtyła und einem Papst aus Polen überrascht wurden, so erwischte Wałęsa „seinen“ Block der zweigeteilten Welt am falschen Fuß – der Rest ist Geschichte, die von den beiden W’s aus Polen maßgeblich mit- und um- und neugeschrieben wurde. Im Unterschied zu den vielen Lesarten seines Namens beschränkt sich Wałęsas politischer Verdienst auf diese „Sternstunde der Menschheit“, in der ein plötzlich auftauchender Werftelektriker mit Mut, List, Witz und Gottvertrauen das Licht des Sowjetsterns ausschaltete, Polen und die anderen Staaten des Ostblocks an Europas Demokratie-Schaltkreis ansteckte. Freilich, Wałęsa zog der UdSSR nicht allein den Stecker. Viele andere, in Polen, in der DDR, in der Tschechoslowakei, in Ungarn, im Baltikum haben vor und mit ihm für diese Wende gekämpft, gelitten – und gerade auch in Polen – gebetet. Doch von 1980 bis 1990 war Lech Wałęsa der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort, an der Streikfront genauso wie am Runden Tisch. Dass er 1983 seine Frau Danuta an seiner statt zur Verleihung des Friedensnobelpreises nach Oslo schickte, weil er fürchtete, bei einer Ausreise nicht wieder nach Polen gelassen zu werden, ehrt ihn. Wałęsa wollte seinen Kopf nicht aus der Schlinge ziehen zu einer Zeit, als niemand ausschließen konnte, dass sich diese Schlinge nicht zuzieht. Wałęsa hat seinen Kopf hingehalten für die Freiheit seiner Landsleute und vieler anderer. Dafür gebührt ihm Respekt und Dank. Das macht ihn zur Legende der Wende. Die persönliche Wende vom Revolutionär zum Politiker ist Wałęsa weniger gut gelungen. Eine Periode als Staatspräsident des Übergangs reichte, um seinen Solidarność-Kredit aufzubrauchen und trotz zweier Versuche nicht wiedergewählt zu werden. Leider. Polen fehlt eine Integrationsfigur, wie Lech Wałęsa eine hätte sein können. Das zeigt die Zerrissenheit des Landes zwei Wochen vor den nächsten Wahlen, in denen 43 Jahre nach Wałęsas Solidarność-Sprung Polens Demokratie wieder auf der Kippe steht. (Wolfgang Machreich) Foto: APA / AFP / Wojtek Radwanski Nicht nur Polen verdankt Solidarność-Gründer Lech Wałęsa, der am 29. September 80 wird, seine demokratische Wiedergeburt.

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