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DIE FURCHE, 28.05.2024

DIE

DIE FURCHE · 22 8 Religion 29. Mai 2024 Von Markus Schauta Es waren rund tausend Männer, die am 27. April durch die Straßen Hamburgs zogen. Und drei Dutzend Frauen marschierten – getrennt von ihnen und verschleiert – mit. Ihr großes Ziel hatte die Gruppe „Muslim Interaktiv“ ganz unverblümt auf Schildern formuliert: „Kalifat ist die Lösung“, stand darauf zu lesen, begleitet von Rufen gegen eine vermeintliche „deutsche Wertediktatur“. Die Empörung war groß. Sollte es wirklich erlaubt sein, in einem liberalen, demokratischen Rechtsstaat wie Deutschland eine Herrschaftsform unter einem religiösen Führer und unter Geltung der Scharia zu fordern? „Schwer erträglich“ nannte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) die Demonstration, doch habe es „keine Rechtsgrundlage“ für ein Versammlungsverbot gegeben. Zwei Wochen später kam es zur nächsten Demo mit nun 2300 Teilnehmern – diesmal allerdings ohne Rufe nach einem Kalifat. Die Behörden hatten dies in Wort, Bild und Schrift untersagt. Ebenso Aufrufe zu Hass und Gewalt sowie Geschlechtertrennung. So klar das Ziel der Hamburger Islamisten scheint, so historisch uneindeutig ist der von ihnen verwendete Begriff „Kalifat“. Sein Spektrum reicht vom politisch starken Kalifat in Bagdad des 9. Jahrhunderts über das rein repräsentative, wie es etwa in Istanbul der 1920er-Jahre existierte, bis zum aktuellen Kalifat der Gewalt, das Abu Bakr al-Baghdadi mit dem Islamischen Staat in Syrien und Irak errichtete. Geistige Führung oder politische Macht? HINTERGRUND Reformislam aus Indien Foto: Markus Schauta Platz für 10.000 Wegen blutiger Verfolgungen in Pakistan ging der Kalif der Ahmadiyya 1984 ins Exil nach Großbritannien. 2003 eröffnete man in London den größten Moschee-Komplex Westeuropas (s.o.). Während Hamburger Extremisten von einem Kalifat träumen, hat die islamische Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya dieses schon verwirklicht – freilich fernab politischer Machtansprüche. Ein Lokalaugenschein in Wien und London. Die Ahmadis: Das andere Kalifat Ursprünglich stammt die islamische Strömung der Ahmadiyya aus Britisch-Indien. Nach der Teilung des Subkontinents lebte die Mehrheit der Ahmadis im neu gegründeten, mehrheitlich muslimischen Pakistan. Ihr Gründer Mirza Ghulam Ahmad (1835–1908) trat als Erneuerer des Islam auf und erklärte sich zum Messias und Propheten. Nach dem Tod des Gründers spaltete sich die Bewegung. Während sich die Islamische Ahmadiyya-Gemeinschaft (AMJ), um die es in diesem Artikel geht, zahlenmäßig durchsetzte, spielt der Lahore Zweig, der das Kalifat nicht anerkennt, heute nur mehr eine untergeordnete Rolle. 1974 erklärte eine Verfassungsänderung in Pakistan die Ahmadis zu einer nichtmuslimischen Minderheit, der verboten war, ihren Islam zu leben. Auf Zuwiderhandeln stehen schwere Strafen. Um ihre Religion frei ausüben zu können, flüchteten tausende Ahmadis in den Westen. 1984 ging auch der Kalif ins Exil nach London. Anders als die Ahmadiyya in Deutschland, die als öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaft anerkannt ist, sind die Ahmadis in Österreich als Verein registriert. Ein Antrag auf Anerkennung als Religionsgemeinschaft wurde bisher nicht gestellt, da ihnen dazu auch die notwendige Anzahl an Mitgliedern fehlt. (Markus Schauta) Imam Muhammad Ashraf ist leitender Obmann der Ahmadiyya-Gemeinde in Österreich. Auch für die europaweit zehntausenden Anhänger der „Ahmadiyya“ (siehe unten) ist das Kalifat längst Realität – wenn auch deutlich anders, als in Hamburg herbeifantasiert. Während die Organisation Hizb ut- Tahrir, der die Hamburger Islamisten angehören, die Demokratie abschaffen und durch einen islamischen Gottesstaat inklusive Alkoholverbot, Verhüllungsvorschriften und Körperstrafen ersetzen will, haben die Ahmadis keine politischen Ambitionen und glauben an die Trennung von Religion und Staat. „Der Kalif ist unser geistiger Vater“, sagt Imam Muhammad Ashraf, leitender Obmann und Missionar der Ahmadiyya-Gemeinde in Österreich. „Auch Muslime waren daher von den Hamburger Aufrufen verunsichert.“ Nicht zuletzt die Ahmadis selbst, die von Hizb ut-Tahrir als Häretiker angesehen werden. Doch was will diese Gruppe, die sich selbst als islamische Reformbewegung versteht? Das Wiener Zentrum der Ahmadis befindet sich in Gerasdorf. Von außen sieht das blassgrüne Gebäude wie ein gewöhnliches Wohnhaus aus. Nur ein Schild weist darauf hin, dass sich hier der Sitz der Islamischen Ahmadiyya-Gemeinschaft Österreich (AMJÖ) befindet. Mit insgesamt rund 300 Personen ist die Gemeinde überschaubar. Wie überall sonst in Europa stammen die meisten Mitglieder aus Pakistan und Bangladesch, die Zahl der hiesigen Konvertiten ist einstellig. Neben dem Gebetszentrum in Wien Gerasdorf gibt es noch zwei weitere Zentren in Linz und Salzburg. Muhammad Ashraf trägt zu Hemd und Sakko die traditionelle pakistanische Kappe. Hinter seinem Schreibtisch steht ein gerahmtes Foto, das den Imam gemeinsam mit dem weißbärtigen Kalifen zeigt. Obwohl dieser seit den 1980er-Jahren in Großbritannien lebt, ist er für die Ahmadis in Österreich überaus präsent. Seine Predigten werden jeden Freitag live im Gebetszentrum übertragen. Das Oberhaupt spreche darin über das Leben des Propheten Muhammad, rufe zu einem friedlichen Miteinander auf oder kommentiere aktuelle politische Ereignisse, wie den Krieg in Gaza – der so rasch als möglich beendet werden solle, betont Ashraf. Dass die lautstarken Hamburger Forderungen nach einem Gottesstaat für Empörung sorgt, ist für Ashraf durchaus verständlich. Umso wichtiger sei Differenzierung, betont er. Schauplatzwechsel. Im Jahr 1984 verlegte die Ahmadiyya den Sitz ihres Kalifen nach Großbritannien. Grund waren blutige Verfolgungen von Ahmadis in Pakistan, wo die Kalifen bis dahin residiert hatten. Heute leben rund 50.000 Ahmadis im Inselstaat. 2003 eröffneten sie in einem südlichen Bezirk Londons namens „Morden“ den größten Moschee-Komplex Westeuropas mit Platz für mehr als 10.000 Gläubige. Die Stimme des Kalifen Eine Autostunde weiter südlich von London – die Landstraße führt durch Wälder, vorbei an alten Kirchen und über Steinbrücken – überrascht wiederum eine Ortstafel mit der Aufschrift „Islamabad“. Sie markiert die Zufahrt zu einem weitläufigen Gelände, wo seit 2019 der fünfte Kalif der Ahmadiyya residiert. Wie bei den Ahmadis üblich, wurde er von einem international besetzten Wahlkomitee auf Lebenszeit gewählt. Das etwa zehn Hektar große, abgeschirmte Areal nahe dem Dorf Tilford beherbergt daneben auch noch Wohnhäuser und Sporteinrichtungen. Etwa ein Dutzend Ahmadi-Familien leben hier. Im Zentrum der Anlage befindet sich die Mubarak-Moschee. Kalif Mirza Masroor Ahmad – ein 73-Jähriger mit gepflegtem Bart und weißem Turban – leitet hier vor etwa 300 Gläubigen das Freitagsgebet. Die Stimme des Kalifen ist eben-

DIE FURCHE · 22 29. Mai 2024 Religion 9 Lesen Sie zu diesem Thema auf furche.at auch die religionshistorische Analyse „Ein neues Kalifat“ (17. Juni 1976) von Rosalinda Filosa. so im benachbarten Versammlungshaus zu hören, wo die Frauen getrennt von den Männern beten. Über den Satellitensender der Ahmadis, Muslim Television Ahmadiyya (MTA), wird die Predigt live in die ganze Welt übertragen. „Das Gebet gemeinsam mit dem Kalifen ist etwas Besonderes“, sagt Jawat, der Besucher über das Gelände führt. Wie die meisten Ahmadis in Großbritannien kommt er aus Pakistan. Es sei wie bei einem Konzert, wo es einen großen Unterschied mache, ob man es auf YouTube sieht oder live erlebt. Nach der gut 50-minütigen Predigt und anschließendem Gebet verlässt der Kalif die Moschee durch den Seitenausgang. Ein schmaler Weg führt von dort auf das Gelände seines Privathauses. Ein Stück des Weges ist – durch einen Zaun getrennt – vom Hof der Moschee einsehbar. Dort warten bereits ein Dutzend Frauen. Als er sie wahrnimmt und die Hand zum Gruß hebt, sind sie nicht mehr zu halten. Sie kreischen und winken ihm aufgeregt zu – die Szene erinnert an Groupies, die ihr Idol anhimmeln. Verfolgt und angefeindet Zurück in Wien Gerasdorf. Imam Ashraf weiß es zu schätzen, dass sich der österreichische Staat nicht in die religiösen Angelegenheiten seiner Bürger einmischt. Ganz anders in Pakistan, wo den Ahmadis verboten ist, ihren Islam zu leben. Pakistanische Fundamentalisten begründen das damit, dass die Ahmadis den Gründer ihrer Gemeinschaft als einen weiteren Propheten ansehen und dadurch verneinen, dass Muhammad der letzte Prophet gewesen sei. Als Abtrünnige verfolgt und getötet zu werden, müssen sie in Österreich nicht fürchten. „Das Verhältnis zu anderen Muslimen ist aber auch in Wien nicht ungetrübt“, sagt Ashraf. Von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) wurde die Ahmadiyya als muslimische Strömung bisher nicht anerkannt. In einer Stellungnahme der IGGÖ heißt es, dass die Lehre der Ahmadis, wonach ihr Gründer ein Prophet gewesen sei, von Muslimen außerhalb der Ahmadiyya als Widerspruch zum Islam betrachtet werde. Jeder Einzelne habe aber das Recht, seine religiöse Identität und Zugehörigkeit selbst zu definieren und sich als muslimisch zu bezeichnen. Trotz der theologischen Divergenzen begegne man einander daher mit Respekt. Doch nicht alle Muslime sehen das so. Allzu oft würden Ahmadis im Alltag Ablehnung erfahren, so Ashraf. Spricht man mit den Menschen im Gebetszentrum, kann fast jeder dazu eine Geschichte erzählen. So auch der Familienvater Nabeel, dessen Sohn in der Schule einen Freund mit pakistanischen Wurzeln hatte. Da sich die Kinder gut verstanden, entwickelte sich auch zwischen den Eltern eine Freundschaft. Diese hielt aber nur solange, bis der Vater des Schulkameraden herausfand, dass Nabeel ein Ahmadi ist. Prompt wurde dem Kind jeder weitere Kontakt mit Nabeels Sohn verboten. Als Mirza Ghulam Ahmad die Ahmadiyya im späten 19. Jahrhundert in Britisch-Indien gründete, war es sein Ziel, den Islam auf das zu reduzieren, was er als unverfälschte Lehre ansah. Durch die Neubetrachtung koranischer Aussagen und Auslegung der als gültig befundenen Hadithe propagierte Ahmad einen friedensorientierten Islam, ein „ Die Ahmadis sind mit dem Anspruch, den Islam in etwas Zeitgemäßes zu transferieren, nicht allein. Sie sind aber nicht so antikolonial geprägt wie andere sozial ausgerichtetes Leben und die starke Rolle der Frauen. Die Idee, den Islam zu reinigen, sei in dieser Zeit weit verbreitet gewesen, sagt der Wiener Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker: „Insofern sind die Ahmadis mit dem Anspruch, den Islam in etwas Neues, Zeitgemäßes zu transferieren, nicht allein.“ Neu sei indes die Form, in der die Ahmadis diesen Anspruch verwirklichten. „Sie sind nicht so strikt antikolonial geprägt, wie andere Strömungen, und auch ihre Betonung eines friedensorientierten Islam ist in dieser Ausprägung noch nicht vorhanden gewesen.“ In Hinblick auf die Rolle der Frau bestätigt Lohlker, dass bei den Ahmadis bereits in den 1920ern eine Frauenorganisation gegründet worden sei: „Insofern sind sie diesbezüglich Vorreiter“, so Lohlker. Sie als liberal zu bezeichnen, gehe aber dennoch zu weit. Ihr Gesellschaftsbild sieht klare Rollenbilder vor – es ist in erster Linie die Frau, die für Haushalt und Kinder verantwortlich ist, während der Mann für Strömungen. “ Rüdiger Lohlker, Islamwissenschafter Rund eine Autostunde südlich von London residiert seit 2019 der fünfte Kalif der Ahmadiyya (siehe unten). Das abgeriegelte Areal, auf dem rund ein Dutzend Ahmadi-Familien leben, nennt sich „Islamabad“. das Familieneinkommen sorgt. Man könne daher von einem sozial-konservativen Gesellschaftsmodell sprechen, so Lohlker. Die Mission war für die Ahmadiyya von Beginn an von zentraler Bedeutung. In Ergänzung zu Zeitschriften und Büchern setzen sie heute auf Satellitenfernsehen und Internet, um ihre Lehren weltweit zu verbreiten. Und diese Missionsbemühungen fruchten: Laut eigenen Angaben ist die Ahmadiyya in über 200 Ländern vertreten, ihre weltweite Mitgliederzahl bewegt sich im zweistelligen Millionenbereich. Der World Christian Encyclopedia zufolge sei die Ahmadiyya weltweit die größte Gemeinschaft unter den organisierten Muslimen – und die am schnellsten wachsende islamische Reformbewegung unserer Zeit. Lohlker bezweifelt freilich diese Zahlen. Es gebe dazu keine belastbaren Daten, meint er. Blicke man nach Südasien, sei jedoch klar, dass es auch andere Strömungen innerhalb des Islam mit Millionen Mitgliedern gebe. So etwa die Bewegung „Tablighi Jamaat“, bei deren jährlichen Versammlungen sich geschätzte zwei Millionen Gläubige treffen. Ihre weltweite Mitgliederzahl wird auf 80 Millionen geschätzt. „Keine politischen Ziele“ Auch in Wien Gerasdorf hofft man auf Expansion. „Natürlich ist es unser Wunsch, die Gemeinde in Österreich wachsen zu sehen“, sagt Imam Ashraf. Derzeit wird in Linz nach einem Grundstück für eine Moschee mit Minarett gesucht. Danach gefragt, wo er die Ahmadiyya in zehn Jahren sieht, formuliert Ashraf das Ziel, eines Tages als „die weltweit größte Strömung innerhalb des Islam“ zu gelten. Das alles werde jedoch nichts daran ändern, dass das Kalifat der Ahmadiyya ein spirituelles ist, betont Ashraf: „Wir haben keine politischen Ziele, sondern wir streben danach, die Menschheit ihrem Schöpfer näherzubringen.“ Der 73-jährige Kalif Mirza Masroor Ahmad empfängt DIE FURCHE im Süden von London. Rechts im Bild: Yunus Mairhofer, ein Linzer Ahmadi. KREUZ UND QUER ADLER, FREUD UND FRANKL – AUF DER SUCHE NACH DER SEELE DI 4. JUNI 22:35 Drei der berühmtesten „Seelenärzte“ der Welt stammen aus Wien und waren durch die Gesellschaft der Hauptstadt an der Donau geprägt: Adler, Freud und Frankl. Alle drei hatten ihre Wurzeln im Judentum und waren – gläubig oder nicht – dadurch beeinflusst. Die drei wurden berühmt, mussten ihre Heimat verlassen oder wurden verfolgt und haben ihre Herkunft doch nie verleugnet. Zufall? – Die Dokumentation beleuchtet, welche Einflüsse zur Entstehung der drei Wiener Schulen beigetragen haben und welche Rolle insbesondere das Judentum dabei gespielt hat. religion.ORF.at Furche24_KW22.indd 1 23.05.24 09:39

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