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DIE FURCHE, 28.05.2024

DIE

DIE FURCHE · 22 4 Das Thema der Woche Franz Kafka und kein Ende 29. Mai 2024 Die göttliche Illu: iStock/powerofforever (Bildb.: RM) Zugänglichkeit Kafkas Von Ana Marwan Als ich zum ersten Mal während meiner Studienzeit in die Werke von Franz Kafka eintauchte, merkte ich, wie tief man sinken kann. Ich wohnte eine Weile in der Bibliothek, behaupte ich mal der Kürze zuliebe, und las die unterschiedlichsten Deutungen, denen in ihrer Entfernung vom Kern und ihrem Appell an den Glauben ein Hauch von Religiösem anhaftete. Der Unterschied war: Sie lieferten konkrete Beweise. Sie waren plausibel, nachvollziehbar, einleuchtend. Jede für sich alleine. Aber, aneinander angereiht: einander widersprechend. Eine Weile war es für mich ein spielerischer Zeitvertreib, mir die entferntesten Gebiete einfallen zu lassen und die unmöglichsten Verbindungen herzustellen – Luftwege in das Schloss von Franz Kafka zu bauen. So hat beispielsweise meine Spielwiese ausgeschaut: Chemie als Schlüssel zum Schloss Franz Kafka (hier 1888) war das erste Kind von Julie und Hermann Kafka. Zwei weitere Brüder starben als Babys. Es folgten drei Schwestern, Gabriele (1889–1941), Valerie (1890–1942) und Ottilie (1892–1943), die in Konzentrationslagern ums Leben kamen. Foto: Getty Images / ullstein bild K. ist O. Sauerstoff. Es hätte ein Molekül – O₂ – sein sollen, denn so alleinstehend finden wir das Sauerstoffatom nur im Weltall. Aber auch K. ist nur für einen kurzen Moment allein, nur am Anfang, der bedeutungsvoll das All evoziert: „Finsternis umgab ihn […] und er blickte in die scheinbare Leere empor.“ Dunkel und leer ist es am Anfang, bevor das Leben mit dem Sauerstoff beginnt. K. betritt das Wirtshaus. Die Bauern, mit denen K. dort in Kontakt kommt, sind alle N. Nitrogenium. Beschrieben werden sie als „einheitlich“ und „in groben gestickten Stoff gekleidet“ – Stickstoff! Noch expliziter wird das durch die Beschreibung der Fremdheit seiner Umgebung gemacht, „einer Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse“. Nach K.s Ankunft wird im Wirtshaus viel gelacht, was uns eigenartig erscheinen mag, bis wir uns die Formel des Lachgases in Erinnerung rufen: N₂O — Eine Reaktion hat stattgefunden. Unmittelbar nach dem Verlassen des Wirtshauses bekommt K. zwei Gehilfen, die einander so ähnlich sind, dass K. sie nicht auseinanderhalten kann: „Ich werde euch deshalb wie einen einzigen Mann behandeln und beide Artur nennen“. Nennen wir sie H. Zwei gleiche Atome in einem einzigen Molekül – H₂. Sie verbinden sich mit K. sofort in H₂O, links und rechts von ihm stehen sie und reichen ihm sogar wortwörtlich die Hand — ein akkurates Bild der molekularen Verbindung des Wassers – und gemeinsam laufen sie den Berg hinab. Wenig überraschend werden alle Beziehungen im Roman im Einklang mit der chemischen Terminologie als „Verbindungen“ bezeichnet, unabhängig davon, ob es sich um geschäftliche oder intime Beziehungen handelt; alle Kontakte zwischen Schloss, Wirten, Frieda, Barnabas … und K. werden „Verbindungen“ genannt. Die Verbindung mit dem Schloss, die K. von Anfang an als Ziel anstrebt, scheint unmöglich herzustellen zu sein. Nicht einmal die telefonische scheint zu gelingen. Das edle Schloss ist ein nichtreaktives Edelgas. Sagen wir Xe: Mit Xenon „ Eine Weile war es für mich ein spielerischer Zeitvertreib, mir die entferntesten Gebiete einfallen zu lassen und die unmöglichsten Verbindungen herzustellen – Luftwege zu bauen. “ sind theoretisch noch die meisten Verbindungen möglich, und auch der Name (aus dem griechischen ξένος, xénos – fremd) entspricht der befremdlichen Atmosphäre. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, zu Lebzeiten Kafkas, wurden eins nach dem anderen sämtliche Edelgase entdeckt. Das Verfahren, das den ersten Durchbruch erzielte, basierte auf der – Zufuhr von Sauerstoff. Eine vollständige Reaktion zwischen Sauerstoff und Stickstoff ermöglichte die Trennung der Edelgase (von den Natriumoxiden). Als also K. mit den Bauern in Kontakt kommt, rückt das Schloss als selbständige, edle Einheit in die Ferne, durch K. alleine ist der Spalt verursacht, denn sonst gilt es: „Zwischen den Bauern und dem Schloß ist kein großer Unterschied“. Eines der Elemente, mit denen Xenon reagieren kann, ist Chlor – Klamm. Von diesem Angestellten erhofft sich K. anfangs einen Weg in das Schloss. Frieda, die Liebhaberin von Klamm und später K., ist Kohlenstoff (C). Sie reagiert nicht mit Xe, sie hat keinen Zugang zum Schloss, sie kann sich aber sowohl an Klamm, Chlor, als auch an K., Sauerstoff, binden. Die Reaktion mit dem Letzteren führt zur Bildung von CO. Die Gefahren von Kohlenmonoxid sind uns bekannt, somit kann es nicht überraschen, dass auch K. nach dem ersten direkten körperlichen Kontakt mit Frieda unter dem Tisch liegen bleibt, tot erscheint er, und Frieda „schrak auf, […] und fing an, wie ein Kind ihn zu zerren: ‚Komm, hier unten erstickt man ja!‘“ Jedenfalls hatte K. kein Glück mit seinen Bindungen: Als er mit Frieda (C) und seinen Gehilfen (H₂) einen gemeinsamen Haushalt gründet, entsteht dadurch CH₂O – Formaldehyd, Konservierungsflüssigkeit, in der alles so bleibt, wie es ist. Und sie sind für immer verdammt zu „diese[m] nutzlose[n] Dastehen und Warten Tag für Tag und immer wieder von neuem und ohne jede Aussicht auf Veränderung.“

DIE FURCHE · 22 29. Mai 2024 Das Thema der Woche Franz Kafka und kein Ende 5 Schach als Schlüssel zum Schloss Als K. zu Romanbeginn den Ort des Geschehens betritt, ist dieser mit tiefem Schnee bedeckt. Im weiteren Verlauf sind wir Zeuge eines ständigen Wechsels zwischen dem „weißen Feld“ der verschneiten Landschaft und dem dunklen Boden der (Wirts)häuser, was vollkommen der Bewegung einer Figur am Schachbrett entspricht. Auch die Lichtbeschreibungen deuten auf ein abruptes Wechseln hin und unterstreichen den Schwarz-Weiß-Kontrast: „Bis vor kurzem war gleichmäßige Tageshelle gewesen, erst jetzt die Finsternis“. Kafka lässt uns nicht lange rätseln, welche Figur der Protagonist ist – er bezeichnet ihn so, wie die international akzeptierte Standardnotation im Schach den König (King, Kral) abkürzt: K. K. hebt sich von den vielen Bauern ab, die unverschleiert auch so genannt und wortwörtlich als einheitlich beschrieben werden. Schon im ersten Kapitel wird erwähnt, dass K. durch seine Größe heraussticht. Und nicht zuletzt entspricht der Titel seiner Rolle: Wie ein Schachkönig wird K. als Landvermesser für wichtig gehalten und anerkannt, obwohl er als Figur in der Tat schwach und ohnmächtig ist. Unmittelbar nach dem Spielbeginn tauchen K.s „Gehilfen“ auf: Artur und Jeremias. Es könnte sonst verwunderlich klingen, aber im Lichte dieser Interpretation ist es einleuchtend: „Die Gesichtsfarbe war ein dunkles Braun“. Da alle Figuren am Schachbrett entweder Gehilfen oder Angreifer sind, lässt sich daraus schließen, dass K. ein schwarzer König ist. Artur und Jeremias ähneln sich, und sie werden als außerordentlich schnell beschrieben, wie zwei Läufer laufen sie den Berg hinunter, ganz im Gegensatz zu K.s (scheinbar durch den tiefen Schnee) behinderten, langsamen Bewegung eines Schachkönigs. Als sie noch dazu als „mittelgroß“ bezeichnet werden, besteht über ihre Rolle kein Zweifel mehr. So finden wir K. zu Beginn hinter einer Reihe Bauern sitzend, rechts und links von ihm zwei schwarze Läufer, und es ist fast schon zu platt, als sich noch der Sohn des Schlosskastellans mit dem Namen „Schwarzer“ vorstellt. Danach kommt ein Springer ins Spiel … K. wartet regungslos im Schnee, auf einem Weg, der angeblich zum Schloss führt, auf dem es aber keinen Verkehr gibt (wie es am Schachbrett so ist), er wartet auf jemanden, der ihm helfen würde. Die Hilfe kommt sofort; widerwillig, aber pflichtbewusst — die Regeln sind klar, K. ist am Zug. Es muss ihm geholfen werden, und zwar ohne Bezahlung, er ist „doch der Landvermesser“, der König. Wenig überraschend wird der rettende Schlitten „von einem schwarzen Pferdchen gezogen“. Im Wirtshaus hingegen, das „nur Die Autorin wurde 1980 für Herren aus dem Schloß bestimmt“ in Murska Sobota/Slowenien geboren. Sie war, sind erwartungsgemäß alle Figuren weiß. Auch dort gibt es Bauern, „die studierte Vergleichende aber anders aussahen als die Leute in Literaturwissenschaft K.s [sic] Wirtshaus. Sie waren reinlicher und […] in graugelblichen […] Stoff nistik in Wien. Marwan in Ljubljana und Roma- gekleidet.“ Die Kellnerin trägt eine schreibt Kurzgeschichten, Romane und Ge- „cremefarbige Bluse“. Wie am Schachbrett gibt es in Kafkas dichte auf Deutsch und Roman kein richtiges Schloss. „Man Slowenisch. 2022 wurde sie mit dem Ingeborg sieht nur die Türme“, sonst besteht es aus mehreren verstreuten Einheiten, Bachmann-Preis ausgezeichnet. Zudem ist sie die sich zu einem großen Ganzen fügen, denn „zwischen dem Schloss und Chefredakteurin der den Bauern gibt es keinen großen Unterschied“. „Literatur und Kritik“. Literaturzeitschrift Bedeutungsträchtig erscheint der Hinweis am Beginn: „Wir halten uns hier an die Regeln.“ Gleichzeitig ist jedoch auch folgende Beschreibung nachvollziehbar: „Es gibt mehrere Zufahrten ins Schloß. Einmal ist die eine in Mode, dann fahren die meisten dort, einmal eine andere, dann drängt sich alles hin. Nach welchen Regeln dieser Wechsel stattfindet, ist noch nicht herausgefunden worden. lass wartest. “ Einmal um acht Uhr morgens fahren alle auf einer anderen, zehn Minuten später wieder auf einer dritten, eine halbe Stunde später vielleicht wieder auf der ersten und dort bleibt es dann den ganzen Tag, aber jeden Augenblick besteht die Möglichkeit einer Änderung.“ So ist das Spiel: Es befolgt strikte Regeln, trotzdem gibt es mehr unterschiedliche und unvorhersehbare Kombinationen, als es Sandkörner in der Saharawüste gibt. (Oder sagen wir lieber Wortkombinationen im Satz, nach Ferdinand Saussure, der zu Lebzeiten Kafkas den Vergleich Langue/Langage am Beispiel eines Schachspiels zog). Und somit ist am Ende auch klar, warum K.s Ziel – in Kontakt mit dem Grafen zu kommen – von Anfang an zum Scheitern verurteilt war: Die zwei Könige können im Spiel nie in Berührung kommen, es liegt immer mindestens ein Feld dazwischen. „ Ein Gebäude mit unendlichen Eingängen zu errichten, von denen einer „nur für dich bestimmt ist“, dieser aber zugesperrt wird, während du draußen auf Ein- Ich glaube nicht daran, dass es menschlich möglich ist, das zu erschaffen, was Kafka gelungen ist: Eine Reihe von Texten, über die wir (wie Kafka durch den Mund des Priesters im Prozess) sagen können: „Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.“ Nein, es ist nicht möglich. Ein Gebäude mit unendlichen Eingängen zu errichten, von denen einer „nur für dich bestimmt ist“, dieser aber zugesperrt wird, während du draußen auf Einlass wartest. Nein, das ist menschlich nicht möglich. Illu: iStock/ilbusca (Bildb.: RM) ST RKEN, WAS UNS STARK MACHT: EUR PA AM 9. JUNI NEOS Nächste Woche im Fokus: Die EU-Wahl ist der Auftakt für ein Superwahljahr, in dem nicht nur die Parteien auf dem Prüfstand stehen, sondern die ganze Demokratie. Illiberale greifen sie von innen und außen an, die Demokratie bedarf einer Generalsanierung. Wie wir sie reparieren können. Helmut Brandstätter Spitzenkandidat Europa-Wahl neos.eu

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