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DIE FURCHE, 28.05.2024

DIE

DIE FURCHE · 22 14 Literatur 29. Mai 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 13 „ In seinem Alterswerk trennt sich Gerhard Roth mit kindlicher Freude von allen Konventionen und betritt das Reich der Freiheit – ohne Rücksicht auf den Leser. “ kern‘ das Reich der Freiheit. In der ,Jenseitsreise‘ nimmt Roth keine Rücksicht auf den Leser. Das, was wir im Verlag Handlung nennen und auch schätzen, gibt es nicht. Es ist eine nicht enden wollende Reihe von Porträts.“ Damit knüpft er in gewisser Weise an seine allerersten Werke an, die noch wesentlich experimenteller waren. „Immer schon wollte ich ein Buch schreiben, das niemand versteht.“ Mit diesem Satz beginnt die „Jenseitsreise“, ein Satz, dem Jürgen Hosemann dreifach widerspricht: „Erstens versteht man es. Zweitens schrieb er schon in den frühen 70ern Bücher, die niemand versteht. Und drittens wollte Gerhard Roth verstanden werden im Sinne einer emotionalen Verständlichkeit.“ Und tatsächlich: Wer sich auf die Regeln des Franz Lindner als Alter Ego des Autors einlässt, der findet seinen Weg in das Buch und genießt seine Flüge der Freiheit. „Das Schreiben hielt ihn über seine Krankheit hinweg am Leben“, sagt Jürgen Hosemann, der Gerhard Roth, wie Uwe Schütte, als nicht einfachen Menschen 24.000 Bände umfasste Gerhard Roths Bibliothek, die es gleich doppelt gab – im südsteirischen Obergreith und in Wien. beschreibt. Es sei eine „Empfindlichkeit in beide Richtungen“ gewesen: „Das Interesse an anderen Menschen war aufrichtig. Auf der anderen Seite stand eine unheimliche Verletzlichkeit, auch eine Kränkbarkeit.“ Der „Egozentriker, wie er im Buche steht“, hatte sein Werk im Fokus und duldete hier Foto: Theresa Feilacher keine Kompromisse und selten Kürzungen, selbst wenn er gelernt habe, auf seinen Lektor zu hören. Hinterlassen hat Gerhard Roth seinen letzten Roman in vier handgeschriebenen Notizbüchern, die sehr sanft und auf Basis einer 22-jährigen Erfahrung mit dem Autor lektoriert wurden, auch ohne im Sinne von political correctness den Korrekturstift anzusetzen. Gerade für ihn als Vorkämpfer für das Verständnis „geisteskranker Menschen“ sei das Gefühl schwer, „die Sprache aus der Hand genommen zu bekommen“, beschreibt es Jürgen Hosemann an diesem Beispiel. Der dritte Teil des Romans blieb ungeschrieben, das Konzept war aber schon da: In „Die Flussreise“ sollte sich Franz Lindner am Ende entschließen, wieder auf die Erde zurückzukehren. „In meinen eigenen Kopf schauen“ Neben einer editorischen Notiz von Jürgen Hosemann beinhaltet der Band, der diese Woche erscheint, auch einen ausführlichen Aufsatz von Daniela Bartens. Sie bearbeitet am Franz-Nabl-Institut der Universität Graz den Nachlass von Gerhard Roth. Bemerkenswert machen diese Edition ebenfalls die eingearbeiteten Autografen des Autors. In Originalschrift zu sehen ist etwa der letzte Satz von Gerhard Roths Niederschrift: „Ich blicke hinauf zum glitzernden Sternenhimmel, und mir war, als würde ich in meinen eigenen Kopf schauen, der voll Gedanken war.“ Es war vermutlich der letzte Satz eines beeindruckenden literarischen Lebenswerks. Der Autor ist Pressesprecher des Museum Gugging und Lektor an der Universität Wien. Jenseitsreise Roman von Gerhard Roth S. Fischer 2024 416 S., geb., € 27,50 Gerhard Roths Jenseitsreise Florian Müller im Gespräch mit Lektor Jürgen Hosemann 2. Juni 2024, 15 Uhr, Museum Gugging www.museumgugging.at Zusammenhänge entdecken 100. Todestag Franz Kafka Starten Sie mit einem FURCHE-Artikel und blättern Sie durch verknüpfte Beiträge – zurück bis 1945. Ihre exklusiven Vorteile als Abonnent:in Jeden Donnerstag die frisch gedruckte Ausgabe in Ihrem Briefkasten E-Paper für unterwegs Zugang zu allen Inhalten auf furche.at zurück bis 1945 Mit dem interaktiven FURCHE-Navigator Schätze aus 78 Jahren FURCHE entdecken In die Welt der Literatur eintauchen mit unserer Beilage booklet Newsletter mit Leseempfehlungen aus der Redaktion u Losstarten: www.furche.at/abo/gratis aboservice@furche.at +43 1 512 52 61 52 1945 Starten Sie Ihre Zeitreise! Dauervisum für Kafka? 4. Juli 1963 „Wir brauchen Franz Kafka“, hieß es bei einer Literaturkonferenz auf Schloß Liblice in der Nähe der Heimatstadt des Schriftstellers. Dr. Lothar Sträter Landvermessung in einem Kafka Dorf 12. Juli 1973 Ein Besuch in dem Dorf, das Franz Kafka zu seinem Roman „Das Schloß“ inspirierte. Dietmar Grieser In Kafkas Schatten 30. Juni 1983 Notizen zum 100. Geburtstag eines Mannes, der die Zukunft beschrieb. Hans Weigel 2024 Wo Kafka letzte Briefe schrieb 28. April 2016 In einem Sanatorium in Kierling/Klosterneuburg starb 1924 ein bedeutender deutschsprachiger Autor: Franz Kafka. Brigitte Schwens-Harrant

DIE FURCHE · 22 29. Mai 2024 Theater & Literatur 15 Die Wiener Festwochen widmen sich mit mehreren aufrüttelnden Inszenierungen einem brisanten, jahrhundertealten, internationalen und so aktuellen Thema: der Gewalt an Frauen. Kraft trotzt Brutalität Von Christine Ehardt Botticellis Gemäldeserie über Nastagio degli Onesti, Rubens Bild „Der Raub der Sabinerinnen“ oder Dantes „Göttliche Komödie“: Die Kunst ist voll von Frauenmorden und Vergewaltigungsfantasien. Erst seit kurzem werden diese beliebten Motive aus Malerei und Literatur hinterfragt. Auch den Terminus „Femizid“, der Morde an Frauen als misogyne Gewaltdelikte ausweist, gibt es noch nicht lange, in den 1990er Jahren wurde er einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Im selben Jahrzehnt nahm die UN-Sonderbeauftrage für Gewalt an Frauen ihre Tätigkeit auf. In deren Berichten zeigt sich, dass die Zahl der weiblichen Mordopfer von Jahr zu Jahr steigt. 2022 waren es fast 89.000 Femizide weltweit, die Hälfte davon fand im häuslichen Umfeld statt. In Österreich wurden von Jänner bis April bereits acht Femizide und 20 Mordversuche an Frauen gezählt. Der öffentliche Aufschrei ist nach jedem publikgemachten Fall zwar groß, verebbt aber schnell wieder und die Umsetzung politischer Maßnahmen hinkt den Forderungen von Opferschutzverbänden und Frauenhäusern hinterher. Goodnight Cinderella Die Wiener Festwochen versammeln heuer eine Reihe von feministischen Künstlerinnen, die sich in ihren Arbeiten mit Gewalt an Frauen auseinandersetzen und die neben persönlichen Schicksalen auch die jahrhundertealten Traditionslinien frauenverachtenden Terrors aufzeigen. Das an politischer Brisanz nicht gerade arme Festwochenprogramm schafft es damit einmal mehr, ein virulentes Thema unserer Zeit vor den Vorhang zu holen. Den Auftakt machte Carolina Bianchis fesselnde Performance „Die Braut und Goodnight Cinderella“. Nichts für schwache Nerven und auch nichts für Verfechter einer kathartischen Wirkung von Theater, hier wird sicher kein Unbehagen in Erleichterung umgewandelt. „Fuck Catharsis“ ist vielmehr am Auto zu lesen, das im zweiten Teil der Aufführung auf die Bühne geschoben wird und in dessen Kofferraum die von K.-O.-Tropfen betäubte brasilianische Theatermacherin gelegt wurde. Davor hält Bianchi, die mit dieser Inszenierung schon 2023 in Avignon für Aufsehen sorgte, einen einstündigen Vortrag. Sie zeigt Botticellis Gemälde über die bestialischen Methoden zur Bestrafung einer widerspenstigen Frau, spricht über Künstlerinnen, wie Marina Abramović, Tania Bruguera oder Valie Export, denen sie sich verbunden fühlt und die mit ihren radikalen Selbstverletzungs-Aktionen Gewalt zur Schau stellen, ohne sich dabei in eine Opferrolle drängen zu lassen. Im Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung steht aber die Künstlerin Pippa Bacca, die 2008 während ihrer als Friedens- und Kunstaktion angelegten Reise per Autostopp missbraucht und ermordet wurde. Als Bianchi von ihr erzählt, hat sie bereits die in Brasilien unter der Bezeichnung „Goodnight Cinderella“ bekannte Vergewaltigungsdroge in ein Glas gerührt und getrunken. Doch auch wenn sie kurz nach der Einnahme nicht mehr selbst sprechen kann, laufen ihre wortgewaltigen Texte weiter im Bühnenhintergrund ab. Sie erzählen von Orten der Gewalt, wie dem mexikanischen Ciudad Juárez und den dort verscharrten Frauenleichen, vom brasilianischen Torwart Bruno Fernandes de Souza, der nach der Haft für die brutale Ermordung seiner Freundin von begeisterten Fans und einem renommierten Fußballklub in Empfang genommen wurde, sowie von der selbst erlebten Vergewaltigung. Ihre achtköpfige Theatertruppe versprüht derweil Partylaune, übergießt sich mit Alkohol, räumt Leichensäcke, Skelette und Sandhaufen heran, erzählt Witze und singt zu Popsongs. Dazwischen spielen sich kurze Szenen der Gewalt und Begierde ab. Dann wird Bianchis Körper auf die Motorhaube gelegt, ihre Beine werden gespreizt und eine Kamera dringt in sie ein. Ein verstörender Moment, der eine Ewigkeit zu dauern scheint und einen daran erinnert, dass der Faktizität der Gewalterfahrung häufig Zweifel und Misstrauen entgegengebracht werden. Am Ende wacht Bianchi auf einer blumenbekränzten Matratze auf und nimmt noch leicht benommen den langanhaltenden Applaus des Publikums entgegen. Foto: Nurith Wagner Strauss Erzählen gegen das Verdrängen In „The Master’s Tools“ von Zora Howard widersetzt sich die Titelheldin Tituba den vielen Meistern, die ihre Geschichte für sich beansprucht haben, und wird zur Herrscherin über ihren eigenen Mythos. „ Das an politischer Brisanz nicht gerade arme Festwochenprogramm schafft es damit einmal mehr, ein virulentes Thema unserer Zeit vor den Vorhang zu holen. “ Formal reduzierter, aber ebenso kraftvoll zeigt sich Zora Howards Monologstück „The Master’s Tools“. Die amerikanische Autorin, Schauspielerin und Regisseurin lässt die bei den Hexenprozessen von Salem 1692 ermordete Sklavin Tituba, deren Name seither durch die Literaturgeschichte wandert, zu Wort kommen. Den Titel ihres 50-minütigen Stücks entlehnt Howard dem Text „The Master’s Tools Will Never Dismantle the Master’s House“ von Audre Lorde. Ein solches Werkzeug des Meisters schwingt sie gleich zu Beginn noch hinter dem Vorhang, um damit Holz zu hacken. Wenn Tituba dann hervortritt, hat sie aber ein weitaus besseres Mittel zur Hand, um den Schleier des Verdrängens niederzureißen: Das Erzählen von Geschichten und Erinnerungen, wie jene an ihre Mutter, die sich gegen wiederholte Vergewaltigungen zur Wehr setzte und dafür enthauptet wurde. Es ist eine viel zu kurze Vorstellung, die Howard mit Vehemenz und Verve füllt und deren beklemmender Sound lange im Gedächtnis bleibt. „Zorn ist stärker als Rache“ Zwei weitere Inszenierungen, die sich weiblicher Unterdrückung und Ausbeutung widmen, folgen noch diese Woche: Die brasilianische Theatermacherin Christiane Jatahy schreibt Shakespeares „Hamlet“ neu und ermächtigt die marginalisierten Frauenfiguren des Bühnenklassikers, ihr Schicksal selbst zu gestalten. Die gefeierte französische Regisseurin Caroline Guiela Nguyen verwebt im wahrsten Sinne des Wortes menschliche Schicksale zu einem dichten Erzählwerk rund um die Herstellung eines königlichen Brautkleides. Mit der Weltpremiere von „Lacrima“ setzt sie ein fünfteiliges Epos fort, das den Körper der Frau gefangen in ein Kontinuum der Gewalt zeigt. Ihre Geschichte verläuft quer über den Globus, von den Stickerei-Werkstätten Indiens bis zu einem Haute-Couture-Haus in Paris, wo sich vor der Öffentlichkeit verborgene Tragödien abspielen. „Zorn ist stärker als Rache“ ist bei Bianchis Performance zu lesen, die Empörung über Gewalt an Frauen und die Erkenntnis, dass es sich dabei nicht um individuelles Pech, sondern ein kollektives Problem unserer Gesellschaft handelt, wächst. Theaterarbeiten wie jene von Bianchi, Howard, Jatahy und Nguyen machen auf die Notwendigkeit aufmerksam, diesen Prozess deutlich zu beschleunigen. Weitere Vorstellungen im Rahmen der Wiener Festwochen: The Masters Tools Theater Nestroyhof Hamakom, 29., 30.5. Hamlet Volkstheater, 31.5., 1., 2. 6. Lacrima Halle E im MuseumsQuartier, 30., 31.5. WIEDERGELESEN Sich in eine Gegenwelt schreiben Von Anton Thuswaldner Es hat seinen Grund in ihrer Biografie, dass die Schweizer Schriftstellerin Cécile Ines Loos im Roman „Hinter dem Mond“ von 1942 die Sache der Kinder vertritt. Das bringt mit sich, dass sie kein gutes Haar an den Erwachsenen lässt, die Kinder nicht ernst nehmen, ihnen nicht einmal Aufmerksamkeit schenken. So setzen sie sich ihre eigene Welt zusammen, in der sich Magisches mit Alltäglichem zu einer Einheit bindet, aus der die Erwachsenen ausgeschlossen bleiben. Das zeigt sich schon am Anfang, als der Großvater die drei Kinder, deren Eltern verstorben sind, wegbringt von daheim. Er verspricht ihnen, sie ins „Land der Pferde“ zu bringen. Das irritiert Susanna mehr, als dass ihre Neugier angestachelt würde. „Ich erschrak so, als hätte jemand auf mich geschossen, denn ich hatte bisher noch nichts gehört von Tieren, die Länder besitzen.“ Der Großvater wird als windige Figur gesehen, der sich vor allem um sein eigenes Fortkommen in der religiösen Gemeinschaft sorgt, Kinder aber keinen Wert beimisst. Die Fähigkeit, sich vom trostlosen Alltag nicht unterkriegen zu lassen, hat sich die Erzählerin, die mit einem Pastor nach Brasilien gezogen ist, bewahrt. Die ganz normale Wirklichkeit, die sie mit jedem anderen auch teilt, unterläuft sie, indem sie ihr ein Geheimnis belässt. Dessen bedarf sie dringend, um gegen die Lieblosigkeit und Rohheit der Gesellschaft zu bestehen. Die eigene Kindheit von Loos war von Tragödien überschattet. Ihre Mutter starb, als sie zwei Jahre alt war, der Vater kurz darauf. Eine Freundin der Mutter nahm sie als Pflegekind an, verstarb, als das Kind neun Jahre alt war. Die neue Frau des Pflegevaters wollte mit dem Mädchen nichts zu schaffen haben, worauf es in eine Waisenanstalt gebracht wurde. Damit durchlief sie die Schule der Brutalität. Ein vergleichbares Schicksal erleidet Susanna aus dem Roman, der nicht nur auf eigenen Kindheitserfahrungen beruht, sondern auch an die Lebensgeschichte ihrer älteren Schwester angelehnt ist. Dafür findet Cécile Ines Loos eine klare, schnörkell ose Sprache. Als Susanna zur Großmutter gerufen wird, erklärt ihr diese: „Weißt du, Susanna, dass ihr arm seid? Ihr seid ganz arme Kinder, und es gehört euch nichts in der Welt, und es ist ein Unrecht, über seinen Stand hinaus zu leben.“ Das gesamte Leben dieser Autorin stand unter dem Zeichen der Armut. Ihre schriftstellerischen Leistungen wurden katastrophal unterbezahlt. Für die sieben in der Schweiz gedruckten Bücher soll sie insgesamt 6000 Franken bekommen haben, was für den Zeitraum von 20 Jahren 300 Franken pro Jahr ausmacht. Sie nahm schlecht bezahlte Arbeiten an und war auf den Schriftstellerverband angewiesen, der mit kleineren Beträgen aushalf. Hinter dem Mond Roman von Cécile Ines Loos Mit einem Nachwort von Renata Burckhardt Atlantis 2013, 240 S., geb., € 28,80

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