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DIE FURCHE, 28.05.2024

DIE

DIE FURCHE · 22 10 Diskurs 29. Mai 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Ich lerne von Ann-Sofie, was inneres Glück ist Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast „ Meine Enkelin hat Trisomie 21. Oder, wie man sagt, das Down-Syndrom. Aber Down ist sie nur, wenn sie müde ist. Sonst strahlt aus ihr so viel Freude. “ Hoffentlich erwarten Sie heute von mir keine Erwähnung des „Falls“ Lena Schilling. Ich bin es müde, den Anschuldigungen und Dementis auch nur in Gedanken zu folgen. Eines aber schließe ich daraus – wie recht nämlich biblische Sprüche meist haben: „Wer seinen Mund und seine Zunge bewahrt, bewahrt seine Seele vor Nöten“ – eine freundliche Übersetzung aus dem Buch der Sprüche. Ich jedenfalls möchte solche Nöte nicht haben. Und ich wünsche sie auch keiner und keinem. Da wären wir ja beinahe schon wieder bei dem Wort, das wir in unseren letzten Briefen – vielleicht über Gebühr – strapaziert haben: Narzissmus. Ich werde es jetzt zu einem ganz persönlichen Unwort erklären und bei mir selber jedes Mal einen Strafzoll einheben, wenn es wieder einmal – nach einer Redewendung in den streit- und kriegssüchtigen griechischen Epen – „dem Gehege der Zähne entfleucht“. Narzisst – oder gar Narzisstin, welch hässliches Wort! Und – wie Sie geschrieben haben – welch rasch aufgedrückter Diagnosestempel! Viel lieber möchte ich Ihnen endlich einmal von meiner Enkelin Ann-Sofie erzählen. Sie ist im Teenageralter – und geht wahnsinnig gerne in die Schule. Was ich gut verstehen kann, seit ich einmal ihre Lehrerin kennenlernen durfte. Ann-Sofie hat Trisomie 21. Oder, wie man sagt, das Down-Syndrom, benannt nach dem englischen Arzt Dr. John Langdon-Down, der es 1866 im Royal Earlswood Hospital in England entdeckt hat. Ich sage dazu lieber Trisomie 21. Es ist natürlich keine Krankheit, sondern eine Eigenwilligkeit des Erbguts. Down ist nämlich unsere Ann-Sofie höchstens, wenn sie einmal müde ist. Ansonsten strahlt aus ihr so viel Freude und ja, auch Spaß. Beim Malen, beim Memory-Spielen oder wenn sie uns ihre Figuren aus der Ballettstunde vortanzt. Sie streicht mir zärtlich über die letzten Haarstoppel, umarmt mich gerne. Sie kann natürlich auch traurig sein. Aber einen bösen Gedanken von ihr kann ich mir einfach nicht vorstellen. Gewiss fällt ihr vieles nicht so leicht. Apropos Schule: Jedes weitere Schuljahr, das ihr und ihren Freundinnen und Freunden über die normale Schulpflicht hinaus zugebilligt wird, ist eine notwendige Förderung. Sie brauchen fürs Lernen einfach länger! Ich lerne von Ann-Sofie, was „inneres Glück“ ist. Glücklich sein – ganz anders. Wie es uns so selten gelingt! „Ja, so sind sie, die Down-Syndrom-Kinder“, sagen die Leute. Nein, so sind sie nicht! Sie sind so und so und so! Wie alle Menschen. Liebe Frau Hirzberger, Sie haben sich „mehr Naturpoesie“ von mir gewünscht. Bitte, hier ist sie, eine wunderbare Natur- und Menschenpoesie, ein act, performt von Ann-Sofie. Es war in der Nähe von Triest, bei einem Spaziergang am Meer. Wir hatten sie irgendwie aus den Augen verloren. Dann sahen wir sie. Wie entrückt stand sie am steinigen Ufer der Kaimauer, bei windigem Wetter und lebhaftem Seegang. Die Wellen rollten auf die Steine zu und gischten zu weiß schäumenden Fontänen auf. Ann-Sofie blickte wie gebannt auf das bewegte Meer. Dann begann ihr ganzer Körper sich zu bewegen. Mit Armen und Beinen antwortete sie dem Rhythmus der Wellen. Vielleicht hat sie dazu auch gesungen. Was war das doch für ein Gespräch zwischen Mensch und Natur! Das musste ich Ihnen einmal schreiben! Bevor ich Ihnen einen wunderbaren Frühsommer wünsche. Von Anton Thuswaldner Er war keiner, der das mediale Scheinwerferlicht suchte. In FURCHE Nr. 44 Stattdessen schrieb er beeindruckende Literatur. 3800 29. Oktober 2009 Am 24. Mai 2024 ist Walter Kappacher gestorben. Am 31. Oktober 2009 erhielt Walter Kappacher den renommierten Georg-Büchner-Preis. Die Jury hat damit eine ausgesprochen gute Entscheidung getroffen, meinte damals Anton Thuswaldner in der FURCHE – und stellte auch Kappachers neuesten Roman „Der Fliegenpalast“ vor, ging aber auch zurück an die Anfänge diese bescheidenen Schriftstellers. Wir bringen einen Ausschnitt aus dieser Würdigung. Unzeitgemäß und wach AUSGABEN DIGITALISIERT Dabei muss man sich nur die Anfänge von Kappachers Schreibens ansehen, und man begegnet Figuren, die zum Siegen nicht geboren sind. Die freudlose Genossin des Scheiterns ist die Einsamkeit. Der Erzähler aus dem ersten Roman „Morgen“ (1975) befindet sich selbst im Taumel einer rauschenden Party im Zustand der größten Verlorenheit und Selbstvergessenheit. Er passt nicht in eine Gesellschaft, die den Kitzel des kurzweiligen Vergnügens sucht. Er sucht sich nämlich selbst und weiß nicht so recht, wo beginnen. Das macht ihn zu einem missmutigen jungen Mann, abweisend und widerborstig. Erst wenn er sich trotzig allein auf und davonmacht und all die vergnügungssüchtigen Leute verachtend hinter sich lässt, weiß er, dass er bei sich ist. Der Roman kam in einer Zeit heraus, als das Arbeiterleben literarisch geadelt wurde. Nichts davon ist zu bemerken bei Kappacher. Dieser Angestellte ist ein Zauderer. Einem angepassten Leben verweigert er sich nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern aus subjektivem Widerwillen. Er führt ein Leben in der Defensive, um nicht von anderen aufgerieben und vereinnahmt zu werden. Mit diesen Roman hat Kappacher als der unzeitgemäße Zen-Meister inmitten einer quirlig aufgeregten Literaturlandschaft auf sich aufmerksam gemacht. Er erreichte damit nicht das große Publikum, dieses dachte ja, dass es sich bei ihm um einen Literaten auf der menschenabgewandten Seite der Gegenwart handelte. Dabei entdeckte Kappacher nur, dass der Mensch nicht nur ein Gesellschaftswesen, sondern auch ein schrecklich einsames Monster der Bescheidenheit sein kann. Bescheidenheit ist hier kein moralisches Prinzip der Überlegenheit, sondern entsteht aus einem so drängenden wie unerklärlichen inneren Zwang, dem Geist der Zeit zu widersagen. Mit dem Roman „Selina“ aus dem Jahr 2005 scheint Kappacher seine Figur aus dem Roman „Morgen“ endlich zum inneren Gleichgewicht verholfen zu haben. Ein Lehrer zieht vorübergehend in die Toskana und entdeckt dort ein Leben im Rhythmus der Natur. Nichts Bemerkenswertes geschieht, weil alles, was der Alltag dieser Figur zuspielt, von vornherein bemerkenswert ist. Die Sensation der Stille, der Furor der Langsamkeit, die Revolution der Ereignislosigkeit, all diese Momente, die ein Ich dazu zwingen, seiner selbst gewahr zu werden, verdichten sich Foto: APA/ Neumayr / MMV zu einem Roman des Selbstversuchs einer Figur, zu so etwas wie einer Art geläuterter Existenz vorzudringen. Diese Prosa zeichnet etwas Zwingendes aus. Sie bringt den Leser dazu, das Tempo zurückzunehmen und sich eine spitzfindige Form der Genauigkeit anzueignen. [...] Jetzt ist es offiziell: Dieser Schriftsteller gehört zu den maßgebenden Literaten der Gegenwart. VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. 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DIE FURCHE · 22 29. Mai 2024 Diskurs 11 Ulrich H. J. Körtners Verweis allein auf eine Spiritualität der vergänglichen Schöpfung kann nicht nur zynisch klingen, er ist es auch gegenüber jungen Menschen und dem Globalen Süden. Eine Replik. Klima-Engagement ist Ausdruck des Glaubens Differenziert entfaltete Ulrich Körtner in der letzten FURCHE die schöpfungstheologischen Grundlagen, die einer christlichen Umweltethik und dem Einsatz der Kirchen im Umwelt- und Klimaschutz zugrundeliegen sollten. Ohne Zweifel könnten diese in den öffentlichen Diskursen deutlicher erkennbar sein. Gleichwohl beschleicht einen bei einer situationskontextuellen Lektüre das mulmige Gefühl, dass mit diesem Text viele, die sich aus religiösen Gründen klimapolitisch engagieren oder gar die Anliegen von Klimaaktivistinnen und -aktivisten unterstützen, eine saftige theologische Rüge erhalten. Woher nimmt Körtner das so selbstsichere Wissen, dass den klimabewegten Kirchen diese theologischen Grundlagen, die geistliche Grundierung oder gar das Gottvertrauen fehlen und sie theologische Nachhilfestunden benötigen? Wäre ich in diesem Feld politisch aktiv, wäre ich über diese zwar sehr höflichen, subtilen, aber doch ausreichend deutlichen Unterstellungen sehr irritiert – denn zu offenkundig sind die Adressaten. Foto: Privat DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Regina Polak „ Das Reich Gottes war und ist ,angebrochen‘. Gläubige Menschen sind daher berufen, die Welt mitzugestalten. “ ren junger Menschen oder der Armen im Globalen Süden. Überdies ist der Einsatz der Kirchen für Gerechtigkeit in Klimafragen ein konstitutiv theologisches Anliegen, da die Schöpfung eben nicht nur die Natur, sondern aus biblischer Sicht auch die Geschichte umfasst. Warum kritisiert Körtner nicht zuerst jene – die Erde bedrohenden – wirtschaftlichen und politischen Machtkonzentrationen, sondern die eigenen Leute, die sich in diesem Feld abmühen? Warum fällt sein kritischer Blick überdies nicht auf die allzu vielen religiösen Schwestern und Brüder in unseren Breitengraden, die ein quasi angeborenes Recht auf regelmäßigen Fleischkonsum, Flugreisen, Kreuzfahrten und generell eine ressourcenausbeutende Lebensweise beanspruchen? Diese Zeitgenossen werden sich freuen, wenn sie nun geistlich darauf verweisen können, dass die Schöpfung vergänglich ist – auch wenn der kirchliche Einsatz selbstverständlich „Unterstützung verdient“. Aber die rechte theologische Gesinnung ist eben doch wichtiger als klimapolitisches Engagement. Körtner ist zuzustimmen, dass die Kirchen und die Theologie über kein privilegiertes Offenbarungswissen in klimapolitischen Fragen besitzen. Doch: Wer hätte dies behauptet? Auch innerhalb der Sozialethik und in den Kirchen Kapitalozän, nicht Anthropozän Warum überlegt sich Körtner nicht zuerst, wie man diese Schöpfungstheologie jenen Menschen nahebringen könnte, die die Hauptverantwortlichen für die Klimakatastrophe sind? Denn „der Mensch“, der den Planeten Erde mit seinem Wahn vom ewigen Wachstum zum Kippen zu bringen droht, „spricht Englisch, Deutsch und Französisch, in letzter Zeit auch etwas Chinesisch“ – wie es der Wirtschafts-, Sozial- und Umwelthistoriker Ernst Langthaler im Standard vom 8. April formuliert. Die Hauptverantwortung für die planetarische Krise liegt für ihn nach wie vor beim Unternehmerkapitalismus des Westens, während die Menschen des Globalen Südens nur minimal zur Erderhitzung beitragen, aber maximal deren Folgen tragen. Wir leben im Kapitalozän, nicht im Anthropozän. Auch zu solchen Fragen der (Klima-)Gerechtigkeit – ein genuin theologischer Begriff, bezeichnet er doch das Wesen Gottes – wäre einiges zu sagen. Der Verweis allein auf eine Spiritualität der vergänglichen Schöpfung kann in diesem Kontext nicht nur zynisch wirken, er ist es – vor allem in den Ohgibt es durchaus heterogene Zugänge, mit welchen Theologien man welche Klimapolitik begründet. Und ebenso klar ist für kirchlich Motivierte, dass der klimapolitische Einsatz nicht mit der Erfüllung der letzten eschatologischen Hoffnung zu verwechseln ist. Aber die Behauptung, dass sich die christliche Hoffnung auf keinen innerweltlichen Zustand richtet, ist eine Verkürzung der biblischen Botschaft, die man nicht nur ob ihrer einseitigen Spiritualisierung, sondern auch ob der Vergessenheit der jüdischen Herkunft des Verständnisses von Hoffnung nicht unwidersprochen stehen lassen kann. Die biblisch bezeugte Hoffnung – gleichsam eine jüdische Entdeckung infolge einer im Vergleich mit der Antike radikal anderen Wahrnehmung von Zeit als eines auf Zukunft hin offenen Lebensraumes – ist keine ausschließlich innerliche, geistliche Gabe. Biblische Hoffnung als Geistes- und Tatkraft hat sich immer auch auf die Transformation der irdischen Welt bezogen, die von Liebe Recht und Gerechtigkeit geprägt sein soll. Das Reich Gottes war und ist aus jüdischer Sicht – und daher auch bei Jesus und Paulus – immer auch schon hier und jetzt zugesagt, weil „angebrochen“ (Mk 1,15). Und gläubige Menschen sind daher berufen und verpflichtet, die Welt mitzugestalten. Mit Gottes Hilfe die Welt „reparieren“ Dies – und damit klimapolitisches Engagement – ist als solches ein Ausdruck des Glaubens, nicht nur eine Folge. Hoffnung ist auch eine zutiefst praktische und politische Größe. Klimabewegte kirchliche Akteure also primär des Mangels an Theologie zu zeihen, greift zu kurz. Dass es Moralisierung gibt, sei unbestritten. Aber kirchliche Klimapolitik lässt sich theologisch auf verschiedene Weisen begründen und benötigt neben berechtigter Kritik derzeit vor allem theologische Würdigung und Ermutigung. Diese sollten überdies anschlussfähig und kontextsensibel sein – gerade in einer Gesellschaft, die den biblisch bezeugten Gott und seinen Auftrag, mit seiner Hilfe die Welt zu „reparieren“, wie es im Judentum heisst (tikkun olam), kaum mehr kennt. Die Autorin ist Leiterin des Inst. für Praktische Theologie der kath.-theol. Fakultät der Uni Wien. ZUGESPITZT Liebe, Sonne und SS Die Frauen verstehen wieder einmal keinen Spaß. Dabei sind Giorgia und Marine sonst für beinah alles zu haben. Aber Maximilian hat den Verfassungsbogen dann doch ein wenig überspannt, als er meinte, nicht jeder SS-Mann sei ein Verbrecher gewesen. Solche Gags verlieren jenseits von Deutschland rasch an Witz, man hat so seine Erfahrungen. Lieber gehen Giorgia und Marine in den Keller lachen, als mit AfDlern in eine gemeinsame EU-Fraktion. Herbert hingegen hat Humor. Klar, Kärntner. „Da werden wir uns nicht darauf verständigen können, dass ein Verein als solcher oder eine Einheit wie die Waffen-SS kollektiv schuldig zu sprechen ist“, lautete schon vor 14 Jahren eine seiner Lieblings-Pointen. Nicht jeder hat sie verstanden, Ariel etwa erinnerte kurz daran, dass die Waffen-SS im Nürnberger Prozess als verbrecherische Organisation eingestuft wurde. Aber wer wird denn schon so kleinlich sein bei diesem Thema. Überhaupt wäre mehr gute Laune angebracht, am besten mit Gigi d‘Agostinos Hit „L’amour toujours“ auf Sylt. Man muss ja nicht gleich „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ dazu grölen, man kann sich auch noch filmen dabei. Liebe, Sonne und SS: Fast schon ein Sommer wie damals. Doris Helmberger NACHRUF Verfassungsdoyen, bunter Vogel, rot-weiß-roter Europäer Wegen Manfried Welan hätte eine Absolventin der Universität für Bodenkultur am Anfang ihres Studiums fast die BOKU verlassen, um aufs Juridicum zu wechseln. Nicht, weil der Professor und dreimalige Rektor sie vergrault hätte, sondern im Gegenteil: Weil Welan sie, wie viele andere Studentinnen und Studenten, mit seiner Vorlesung zur Einführung ins österreichische Recht begeisterte. Weil demokratisch-rechtsstaatlich zu sein und österreichisch-europäisch zu sein das Welan-Sein bestimmte. Weil er sein Selbstverständnis als Citoyen meisterhaft vermitteln konnte. Am 15. Mai 1955 war Welan bei der Unterzeichnung des Staatsvertrags quasi live im Garten des Belvedere dabei: „Ein solches Glücksgefühl wie damals habe ich in der Politik nie mehr gefunden“, sagte er. Die „Österreich ist frei!“-Euphorie des Maturanten Welan reichte aber aus, um Zeit seines Lebens andere damit anzustecken. Als Ministrant fasziniert von der Rhetorik und Zivilcourage seines Kaplans, des späteren Caritas-Präsidenten Leopold Ungar, wollte Welan Missionar werden. Daraus wurde nichts, die missionarische Flamme seiner Jugend ließ er jedoch auch als Wissenschafter, Autor und Politiker nie erlöschen. Aber er tat es ohne Geifer, er war kein Kriegsprediger à la Abraham a Sancta Clara, mehr ein Wiener Stadtapostel mit Charme und Schmäh wie ein Clemens Maria Hofbauer. „Ich gehöre einer Generation an, die man als ‚altgewordene Zweite Republik‘ bezeichnen kann“, sagte Welan. Er gehörte auch der Generation der altgewordenen, schwarzen ÖVP an, freilich als Mitglied der Erhard Busek-Sektion „Bunte Vögel“. Seine Mutter weckte in Welan den Sinn für Kultur, sein Vater die Liebe zur Natur. „Wien grün werden lassen“, lautete ein Wahlslogan des Stadtpolitikers. Am 31. Mai 1984 schrieb VP-Gemeinderat Welan in der FURCHE: „Reservatdenken reicht nicht mehr“ – und forderte prompt, die Pflanzen- und Tierwelt in ihrer Vielfalt und Schönheit nachhaltig zu sichern. Ein halbes Jahr vor der Besetzung der Hainburger Au bewies Welan damit politisches Gespür für ein Thema, das heute wieder die politische Debatte prägt. Sich in diese mit Enthusiasmus, aber ohne „Grobianismus“ einzubringen, lautet ein Welan-Vermächtnis. Denn für ihn gab es „keinen anderen globalen Humanismus, als die Welt zu sehen und zu nehmen, wie sie ist und sie trotzdem zu lieben“. In dieser Liebe ist Manfried Welan am 22. Mai mit 86 Jahren verstorben. (Wolfgang Machreich) Foto: BOKU Wien Manfried Welan (1937–2024), begnadeter Vermittler und Verfechter der Schönheit von Recht und Demokratie. Unter diesem QR-Code finden Sie ein Dossier mit wesentlichen Texten von und über Manfried Welan aus dem FUR- CHE-Navigator.

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