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DIE FURCHE 28.03.2024

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DIE FURCHE · 13 4 Das Thema der Woche Gott - (k)eine Frage 28. März 2024 Von Andreas R. Batlogg Der „späte Rahner“, der im Herbst 1981 wieder nach Innsbruck zurückkam, seine erste akademische Wirkungsstätte (1936 bis 1939 und 1948 bis 1963), ist vielen als „zorniger alter Mann“ in Erinnerung geblieben. Wo nötig, hat er sich eingemischt und Stellung bezogen: aus „Sorge um die Kirche“. Er sah diese hinter die Öffnungen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–65) zurückgehen, auf dem er sich als von Johannes XXIII. offiziell ernannter Peritus (Konzilstheologe) und als Berater von Kardinal Franz König intensiv eingebracht hatte. Nicht auszudenken, wie er auf die 1986 einsetzenden Bischofsernennungen in Österreich reagiert hätte, die unverkennbar darauf aus waren, die Bischofskonferenz wieder „auf Linie“ zu bringen. Am 16. März 1984, kurz vor seinem unerwarteten Tod am 30. März 1984 (am 5. März hatte er sein 80. Lebensjahr vollendet), setzte er sich noch für den Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez ein, der in Rom unter Verdacht stand – mit einem Brief an den Vorsitzenden der peruanischen Bischofskonferenz, Kardinal Juan Landázuri Ricketts. Eine „Verurteilung“, so Rahner, hätte „sehr negative Auswirkungen auf das ganze Klima, in dem heute eine lebendige und der Verkündigung dienende Theologie allein lebendig bleiben kann“. Seine Kritik war stets, wie sein Schüler Johann Baptist Metz schrieb, „rettende Kritik“. „Nie“, so Metz, „hat Rahner mit der Kirche ,gespielt‘, sie nie als Bühne oder Staffage privater Theologie benützt.“ Erfahrung des unbegreiflichen Gottes Wer Rahner nur mit seinen kirchenpolitischen Kommentaren in den letzten Lebensjahren wahrnimmt, verkennt, dass er Gott ins Spiel brachte, wo andere nur von Kirchenstrukturen und ihrer Reform sprachen. Zu wenig, nicht zu viel wurde ihm von Gott geredet. Und Rahner hat nicht über Gott geschwätzt oder in sanftem, spirituellem Smalltalk über „Transzendenzgläubigkeit“ geschwafelt, die über „Gott“ bestenfalls flüstert oder ihn ganz verschweigt. Plaudereien über einen Wohlfühlgott waren dem Dogmatikprofessor zuwider. Zeitlebens hat er sich, als Jesuit von den Geistlichen Übungen (Exerzitien) geprägt, dafür eingesetzt, die „Erfahrung des unbegreiflichen Gottes“ für möglich zu halten. Er sah es früh kommen: Wo die Kirche als Institution nicht mehr trägt, wo Frömmigkeit auf „Trachtenvereins-“ oder „Traditionschristentum“ reduziert wird, wo Glaube nicht mehr den Alltag prägt, ist der Einzelne mehr denn je auf eine personale Gotteserfahrung angewiesen. Zu einer „ursprünglichen Gotteserfahrung“ müssten Menschen „angeleitet“ werden: „sie in sich zu entdecken, sie anzunehmen und zu ihr sich auch zu bekennen in ihrer worthaften und gesellschaftlichen Objektivation, die, wo sie rein und auf Jesus Christus als ihre Besiegelung bezogen ist, eben das ist, was wir Christentum nennen“. In einem Interview (1981) meinte er: „Für den Moment würde ich einmal sagen: Die wichtigsten Probleme sind vielleicht die, die die Menschen von heute gar nicht für besonders wichtig halten. Nehmen Sie zum Beispiel die Grundfrage der Theologie nach Gott. Die meisten Menschen von heute würden mindestens an der Oberfläche ihres Alltagsbewusstseins der Meinung sein, dass das erstens einmal gar keine wichtige Frage ist und zweitens – wenn und insofern es eine Frage ist – höchstens die Frage gestellt werden kann, ob und warum und in welcher Hinsicht Gott für den Menschen wichtig ist. Ich halte diese anthropozentrische Frage nach Gott letztlich für verkehrt und bin der Meinung, dass diese merkwürdige Art von Gottvergessenheit vielleicht die fundamentalste Problematik von heute ist. Ich sage nicht: Die Menschen reden nicht genug von Gott; ich sage nicht: Es werden nicht genug philosophische und theologische Bücher gedruckt. Aber ich meine: Es gibt zu wenig Menschen, die daran denken, dass im letzten Verstand nicht Gott für sie, Das letzte Interview, das Kardinal König vor seinem Tod am 26.2.2004 gab, handelte von Karl Rahner, nachzulesen unter: „Typisch Rahner!“ auf furche.at. Karl Rahner 1904 in Freiburg/ Breisgau geboren, 1984 in Innsbruck gestorben, war einer der wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Am 5. März jährte sich sein Geburtstag zum 120. Mal, am 30. März vor 40 Jahren verstarb er: Für Karl Rahner stand die Frage nach Gott im Zentrum seines Glaubens und Denkens. „Gott ist das Wichtigste“ sondern sie für Gott da sind. So im allgemeinen theologischen Geschwätz des Alltags gehöre ich gerade zu den ,anthropozentrischen‘ Theologen. Das ist letztlich ein absoluter Unsinn. Ich möchte ein Theologe sein, der sagt, dass Gott das Wichtigste ist, dass wir dazu da sind, in einer uns vergessenden Weise ihn zu lieben, ihn anzubeten, für ihn da zu sein, aus unserem eigenen Daseinsbereich in den Abgrund der Unbegreiflichkeit Gottes zu springen.“ „ Ich möchte ein Theologe sein, der sagt, dass Gott das Wichtigste ist, dass wir dazu da sind, in einer uns vergessenden Weise ihn zu lieben, für ihn da zu sein. “ Karl Rahner Für Rahner war Gott „der Absolute, der Unbedingte, auf den wir, aber nicht so im selben Sinne er auf uns, bezogen sind; der Anzubetende, in den, bedingungslos sich hinein kapitulierend, man sich mit Jesus dem Gekreuzigten weggeben muss. Das ist das eigentliche, das fundamentalste Problem der Menschen, und die Tatsache, dass man das so im Durchschnitt nicht empfindet, ist das fundamentalste Problem auch heute.“ Gedanken machte er sich auch darüber, wie dazu angeregt werden kann. „Früher“, so Rahner im ORF (1984), sei „die Existenz Gottes mehr oder weniger eine Selbstverständlichkeit“ gewesen: „Man hoffte vielleicht auf einen Himmel, in dem es sehr viel Glück und Zufriedenheit gab – oder gibt, aber eigentlich doch nicht auf einen Himmel, in dem man mit einer ungeheuerlichen Lebendigkeit und Innerlichkeit sich sagte: Ich werde diesen absoluten, unendlichen, unbegreiflichen, geheimnisvollen, heiligen Gott von Angesicht zu Angesicht schauen, und wird sich selber mit seiner eigensten Wirklichkeit uns mitteilen. Das ist doch die Substanz der Botschaft des Christentums, und dafür müsste, glaube ich, sehr viel mehr Verständnis, eine sehr viel größere, lebendigere, gekonntere Mystagogie in ein solches fundamentales Geheimnis unseres Existenz gefunden werden.“ Auf die Frage: „Man müsste für Gotteserfahrung die Werbetrommel rühren?“ sagte er: „Ja, das klingt natürlich etwas anmaßend und wichtigtuerisch, aber ich würde sagen, bevor die Kirche so furchtbar viele moralische Lehren einschärft, die durchaus richtig und sinnvoll sein können, müsste sie sich viel mehr, lebendiger, anstrengen, diese ursprünglichste Gotteserfahrung einem Menschen nahezubringen. Der Mensch müsste merken, dass er ja im Foto: picturedesk.com /SZ-Photo Grunde genommen in diesem ungeheuren Geheimnis nächster Nähe und unbegreiflicher Unbegreiflichkeit lebt und schwimmt und mit diesem Gott zu tun hat und dass dieser absolute Gott sich selber den Menschen in absoluter Unmittelbarkeit – natürlich durch Gnade und Tod hindurch – mitteilen will […] Das ist doch nicht die eigentliche, wahre Substanz und Mitte des Christentums! Dass ich durch Jesus Christus hindurch berufen bin, die absolute Selbstmitteilung des absoluten Gottes entgegenzunehmen, das ist die wahre Wirklichkeit des Christentums. Dass man das natürlich dem normalen Menschen anders sagen muss, als es ein abstrakter, theologischer Schulmeister tut, das ist eine andere Sache.“ Karl Rahner hat die „Werbetrommel für Gott“ gerührt – auf anspruchsvollem Niveau. Die „Anstrengung des Begriffs“ ersparte er dabei niemandem. Er hatte, wie sein Provinzial Alfons Klein in seiner Predigt im Trauergottesdienst sagte, Ehrfurcht „auch gegenüber dem Geheimnis des Menschen. Er gab den vom Leben schwer Geprüften, den Ringenden, Zweifelnden und Verzweifelten nie beleidigend billige, wenn auch religiöse, nichtssagende, respektlose Antworten auf ihre Not und ihre Fragen, die sie hatten – auch an Gott.“ Deswegen sei er „ein echter Weggefährte“ geworden, „der andere zum Glauben führen konnte, einer, den Suchende und Leidende ernst nahmen, weil er sie nicht im Namen irgendwelcher Lehrsätze oder auch dogmatischer Prinzipien verurteilte. Vater im Glauben, Bruder im Glauben, Zeuge des Glaubens. Das war Pater Rahner“. „Schulmeister“ der Theologie „Worte ins Schweigen“ (1938), „Von der Not und dem Segen des Gebetes“ (1946), „Kleines Kirchenjahr“ (1954) und andere „fromme Schriften“ waren ihm genauso wichtig wie seine theologischen Abhandlungen zur Christologie oder zur Mariologie. Sein „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“ (1972) oder sein „Grundkurs des Glaubens“ (1976) werden heute noch gelesen. Seine Einstellung als „Schulmeister“ an den Universitäten in Innsbruck, München und Münster: „Ich habe immer Theologie betrieben um der Verkündigung, um der Predigt, um der Seelsorge willen.“ Auch das ist eine Aussage über einen, dessen Bibliografie über 4000 Einträge zählt: Sein erstes Buch trägt den Titel „Worte ins Schweigen“ – ein Meditationsbändchen mit zehn zuvor einzeln erschienenen Betrachtungen. Theologie aus der Gestimmtheit des Betens! Diese Veröffentlichung wurde vielfach aufgelegt, seine theologische Bedeutung aber lange unterschätzt. De facto ist es seine Gotteslehre: Gott – nicht als Idee oder Begriff, sondern als Erfahrung, die mit der Chiffre „Schweigen“ zusammengefasst ist! Es war übrigens die Bedingung des Verlags, seine Studie „Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin“ unter dem Haupttitel „Geist in Welt“ (1939) zu veröffentlichen. „Gott“ verkaufte sich damals besser als Philosophie. Heute ist es oft umgekehrt. Der Autor ist Jesuit in München. Seit 2005 ist er Mitherausgeber der „Sämtlichen Werke“ Karl Rahners, 2008–15 war er wissenschaftlicher Leiter des Karl-Rahner-Archivs. Nächste Woche im Fokus: Mit Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar übernimmt ein neues Duo die Leitung der Diagonale, die in Graz ab 4. April stattfindet. Das Festival des österreichischen Films ist ein Fixpunkt der Branche und gibt den umfassendsten Überblick über Standort und Themen des heimischen Films.

DIE FURCHE · 13 28. März 2024 Politik/Philosophie 5 Von Peter Strasser Das Wort „Gerechtigkeit“ hat Saison. Es ist zurzeit jener Begriff, der in keiner politischen Rede fehlen darf – vom nicht ganz neuen SPÖ-Vorsitzenden bis zum kommunistischen Doch-Nicht-Bürgermeister von Salzburg. Allgemein gilt als unbestritten, dass es unserer Gesellschaft an sozialer Gerechtigkeit mangelt. Entsprechend wenig Gewicht hat in der hiesigen politischen Rhetorik die Lehre des berühmten österreichischen Nationalökonomen Friedrich August Hayek (1899 bis 1922) – wenn man von den Absolventen des nach ihm benannten Institutes absieht. Allein das Wort „Neoliberalismus“ klingt in vielen Ohren so, als sollte die Freisetzung der Marktpotenziale denen, die über Geld und Kapital verfügen, vor allem dazu dienen, sich auf Kosten der Armen schamlos zu bereichern. Und es wäre ja tatsächlich eine Lüge, wollte man behaupten, dass an diesem Vorwurf nichts Wahres dran sei. Allen Statistiken zufolge geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf; und da der Staat viele Gemeinwohlinstitutionen in den privaten Sektor ausgelagert hat, kann er darauf nicht zugreifen. Trotz aller Steuermaßnahmen und Budgetverschuldungen wächst aber in der Bevölkerung – angesichts von steigenden Warenpreisen, Wohnungs- und Energiekosten sowie beachtlichem Kaufkraftschwund und wenig Wirtschaftswachstum – der Unmut, von dem es nur noch ein Schritt bis zu kollektiven Wutaktionen ist. Mehr Wiederverstaatlichung? Das verleiht der Frage, welche politische Ideologie am besten geeignet sei, dem ökonomischen Liberalismus eine Theorie der Gerechtigkeit entgegenzustellen, wieder ein Gewicht, das über den bloß akademischen Diskurs hinausgeht. Dabei kann es wohl nicht darum gehen, durch Akte der Wiederverstaatlichung – wie sie dem SPÖ-Chef vorschweben – vor allem Defizite zu übernehmen. Nur zur Erinnerung: Der österreichische Nationalrat hat schon jetzt für 2024 ein Budgetdefizit von 20,4 Milliarden Euro genehmigt. Das ist, ganz nebenbei, das 836- fache jener 25 Millionen, welche die grün-linke Urururenkelin des BASF-Gründers, die Deutsch-Österreicherin Marlene Engelhorn, seit Jahren für „systemverändernde Projekte“ zur Schaffung von mehr Gerechtigkeit unters Volk bringen will (dies aber bislang aus unerfindlichen Gründen noch nicht schaffte). Ihre geplante noble Geste soll freilich nicht bloß eine noble Geste, sondern Ausdruck eines system-verändernden Willens sein: Massiv erhöhte Erbschaftsund Vermögenssteuern sollen mehr Sozialgerechtigkeit bei der Verteilung von Gütern und Lasten möglich machen. Doch dafür werden sich – wenn überhaupt – nur zögerlich Mehrheiten finden. Wie die „neue“ KPÖ über das soziale Gleichheitsproblem denkt, ist ebenfalls nicht recht absehbar. Vorerst geht es ihren Führungspersönlichkeiten in Graz und Salzburg darum, Versäumnisse der bürgerlichen und wirtschaftsliberalen Politik zu korrigieren. Die Erfolgsthemen lauten: billigeres Wohnen, mehr Lohn bei stei- Foto: APA / Roland Schlager Kay-Michael Dankl wird also doch nicht Salzburger Bürgermeister. Der Erfolg der „KPÖ plus“ wie auch die „Rückverteilaktion“ der Millionenerbin Marlene Engelhorn belegen aber die Sehnsucht nach einem gerechteren „System“. Doch auf Basis welcher Philosophie? Ein Gastkommentar. Gerechtigkeit ohne Ideologie – geht das? genden Lebenshaltungskosten, mehr Kinderbetreuungsplätze und Frauenhäuser. Das alles hat mit Ideologie nur insofern zu tun, als viel zu viel Reichtum existiert, der vielleicht einen Rechtsausweis, aber keine moralische Deckung besitzt. Dennoch sollte man, um des sozialen Friedens willen, nach einem Gerechtigkeitskonzept Ausschau halten, dessen ideologische Schlagseite so gering wie möglich ausfällt. So werden sich die neuen Kommunisten, denen die Gerechtigkeit so sehr am Herzen liegt, von den Totalitarismen derer, die sich in der Vergangenheit ebenfalls Kommunisten nannten, aufrichtig – und nicht bloß der politischen Show wegen – distanzieren müssen. Schließlich geht es darum, dass die liberale Demokratie, deren Verfassung menschen- und bürgerrechtlichen Schutz gewährt, nicht einer autoritären Bevormundungsdemokratie weicht. Insgesamt hat der philosophisch geschulte Beobachter den Eindruck, dass die österreichischen Gerechtigkeitspolitiker viel zu schnell mit „Lösungen“ bei der Hand sind, welche die politischen Gegner (oder Mitbewerber) auf die Palme bringen. Der wechselseitige Ideologievorwurf wird zur rhetorischen Gebetsmühle. Seltsam, dass in diesem Zusammenhang der Name des größten Gerechtigkeitstheoretikers des 20. Jahrhunderts, John Rawls (1921– 2002), nicht einmal erwähnt wird. Das Hauptwerk des Harvard-Professors, „Eine Theorie der Gerechtigkeit“, fand schließlich weltweit Anerkennung – vor allem dort, wo nicht gerade Diktatoren das Sagen hatten, die ihr Volk knechteten, um ihrer Gier nach Reichtum und Macht zu frönen. Wohlstand und Chancen Als Vertreter des sognannten „egalitären Liberalismus“ war sich Rawls wohl dessen bewusst, dass erst der in Grenzen freie Markt jenen Wohlstand generiert, der den unteren sozialen Schichten wie auch dem Mittelstand die bestmögliche ökonomische Situation beschert, ohne – bei strikter Wahrung der Grundrechte – die Gleichheit der Chancen zu verzerren. Der Grundgedanke von Rawls belief sich darauf, dass wir alle über eine Gerechtigkeitsintuition verfügen, die in etwa so aussieht: Wenn ich noch nicht weiß, welche Stellung ich in der Gesellschaft einnehmen werde (quasi hinter einem „Vorhang des Nichtwissens“ existierend), würde ich mich wohl für jenes Gemeinwesen entscheiden, bei dem ich selbst unter der ungünstigen Bedingung, nicht zu den Wohlhabenden zu gehören, noch immer bessergestellt wäre als in jedem anderen Sozialsystem. Zwar gibt es, wie beim Poker, natürlich immer auch Draufgänger; aber diese bilden die Ausnahme von der Regel, so Rawls. Das heißt: Abgesehen von „Wahlzuckerl“-Versprechungen, die zumeist das Budget belasten, aber keinen Langzeiteffekt haben, sollten uns jene, die um unsere Stimmen werben, hinreichend erklären können, wie sie das System im Sinne sozialer Gerechtigkeit verändern wollen. Wovor sich das Wahlvolk als Souverän Unter „Den Kuchen muss jemand backen“ (11.9.2008) lesen Sie auf furche.at ein Gespräch mit Otfried Höffe über John Rawls. „ Nach John Rawls generiert erst der in Grenzen freie Markt den Wohlstand der unteren und mittleren sozialen Schichten. “ Foto: APA / Barbara Gindl Verteilen! Aber was? BASF-Erbin Marlene Engelhorn (li.) will besteuert werden – und lässt nun einen „Guten Rat“ ihr Vermögen verteilen. Rechts Salzburgs künftiger Vize- Bürgermeister Kay- Michael Dankl (KPÖ plus). jedenfalls hüten sollte, ist, jenem Staatspaternalismus Vorschub zu leisten, mit dem Parteiführer gerne liebäugeln – oft scheinheilig zugunsten angeblich existenzverbessernder Vorteile. Ob soziale Gerechtigkeit also ohne Ideologie möglich ist? Die Antwort auf diese Frage lautet: Weitestgehend – sofern die natürlichen Grundbedürfnisse des Menschen im Gesellschaftsvertrag, wie ihn die Verfassung spiegelt, abgesichert werden. Was dabei nicht verlorengehen darf, ist die christliche Pflicht, unbeschadet der herrschenden Gerechtigkeitssituation den Armen hilfreich zur Seite zu stehen. Was das bedeutet, ist im Markusevangelium nachzulesen (Mk 10,21 f). Hier wird Jesus von einem Mann gefragt, was er tun solle, außer die biblischen Gebote zu beachten. Jesus antwortet: „Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben“. Als der reiche Mann dies hört, geht er traurig weg – „denn er hatte ein großes Vermögen“. Der Autor ist Professor i.R. für Philosophie an der Universität Graz.

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