DIE FURCHE · 13 2 Das Thema der Woche Gott - (k)eine Frage 28. März 2024 AUS DER REDAKTION „Du sollst dir kein Bild machen“: Zu diesem Thema musste ich einst meine Deutschmatura schreiben. Es war ein zähes Ringen, so viel sei verraten – und das bleibt es im Hinblick auf das Gottesbild bis heute. Wer oder was ist das, „Gott“? Wo zeigen sich seine/ihre Spuren – auch abseits des Triduum Paschale, jenes dreitägigen österlichen Mysteriums, vor dem wir gerade stehen? Otto Friedrich hat dazu unter „Gott – (k)eine Frage“ einen faszinierenden Fokus gestaltet. Das Bild vom Kommunismus ist zuletzt durch Kay- Michael Dankl deutlich sympathischer geworden. Doch inwiefern kann man beim Ringen um Gerechtigkeit von Ideologie absehen? Peter Strasser hat sich damit auseinandergesetzt. Und Jan Opielka erhellt den seit Jahren andauernden Auslieferungs-Krimi um WikiLeaks-Gründer Julian Assange. Um eine dunkle Seite des Exsultet, das die Osternacht erhellt, geht es im Kompass. Ebenso finden Sie hier eine Kulturgeschichte des 1. April, Beiträge über „Nudging“ und die Mode alter (bunter) Männer sowie einen Gastkommentar von Wolfgang Palaver zur Friedensethik des Papstes. Im Feuilleton schließlich empfehle ich Ihnen den Essay von Brigitte Schwens- Harrant über die Ausstellung „Sterblich sein“ im Dom Museum sowie den Beitrag von Manuela Tomic über ihre nun auch als Buch erschienenen „mozaik“-Kolumnen. Wer noch ein Ostergeschenk braucht: Machen Sie sich doch von ihren „Zehnfingermärchen“ ein Bild! (dh) Von Theresia Heimerl sei Dank“, „Um Gottes willen“, diese Redewendungen hört man in „Gott Österreich quer durch alle weltanschaulichen Lager und regelmäßig in privaten wie politischen Diskursen auch von Personen, die sich offen als Atheisten oder Agnostiker deklarieren. Ist Gott ein survival im Sinn der Theorie von Edward Burnett Tylor, einem der Gründerväter der Religionswissenschaft? Survivals, also wörtlich „Überlebende“, im Deutschen meist mit „Überbleibsel“ wiedergegeben, sind Vorstellungen und Praktiken aus früheren Kulturstufen, die zwar noch vorhanden sind, deren ursprüngliche Bedeutung aber längst vergessen ist. Das klassische Beispiel Tylors ist die beim Gähnen vor den Mund gehaltene Hand: Einst Schutz gegen das Eindringen böser Geister, ist die Geste heute bloße Höflichkeitsform. Verhält es sich womöglich auch mit Gott so? Ein Artefakt der Umgangssprache, so sehr seiner religiösen Bedeutung entkleidet, dass seine Existenz gar nicht mehr weiter auffällt? Viele Theologinnen und Religionswissenschaftler würden mir heftig widersprechen: Religion wandelt sich nur, heißt heute oftmals Spiritualität, aber das Bedürfnis danach lässt sich doch in allen möglichen Studien, in TikTok-Videos und auf Aushängen im Supermarkt ablesen. Das stimmt, was die Religion betrifft. Gott, wie ihn die christliche Theologie über viele Jahrhunderte definiert und wie Christen und Christinnen ihn geglaubt haben, ist aber etwas anderes. Der personale Gott, das so sprachgewaltig von Augustinus bis Buber ausbuchstabierte Du, das zugleich allmächtiger Schöpfer und Ziel allen Daseins ist – das ist ein Minderheitenprogramm. Hieß es vor zwei, drei Jahrzehnten noch „Gott ja, Kirche nein“, lautet heute das Motto der meisten Menschen in unseren deutschsprachigen Breiten „Spiritualität ja, Gott nein“. Fotomontage: Rainer Messerklinger (unter Verwendung von Bildern von iStock/VTT Studio bzw GettyImages / Universal Images Group / Universal History Archive) Zu diesem Thema schrieb am 1.6.2002 auch Hubert Gaisbauer, nachzulesen unter: „Das Wort Gott - toxisch?“ auf furche.at. Mit der Krise der Kirchen scheint auch der personale christliche Gott in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Ist er nur noch ein historisches Artefakt? GOTT. Ein Überlebender Stirbt Gott mit der Kirche? Braucht Gott die Institution Kirche, um in den Köpfen und Herzen der Menschen eine relevante Größe zu bleiben? Oder, noch schärfer formuliert: Haben die Menschen an Gott geglaubt, weil die Kirche sie dazu gezwungen hat? Ist er mit dem Aussterben jener einer Umbruchsgeneration, die sich zwar von der Kirche, aber nicht von dem ihr dort eingebläuten Gottesbild lösen konnte, auch in die Bedeutungslosigkeit verschwunden? Faktum ist: In der Generation meiner Studierenden, junger Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, gibt es eine kleine Gruppe von sehr stark kirchlich geprägten Personen, die ihren Gott in einer von charismatischen Erneuerungsbewegungen geprägten Sprache oft und gerne im Mund führen. Die überwiegende Mehrzahl der Generation Z sieht im christlichen Gott tatsächlich eine Art historisches Artefakt, dem sie sich in einer Lehrveranstaltung einmal neugierig annähert, von dem sie nicht so genau weiß, ob es ihn jetzt seit dem Alten oder erst im Neuen Testament gibt, der in der Generation ihrer Großmutter noch für schlimme Dinge verantwortlich war und jetzt ein harmloser alter Mann ist, der in Unterhaltungsfilmen und Werbespots gute Ratschläge gibt. Die visuellen survivals Gottes sind zahlreicher als jene der (deutschen) Sprache. Manche seiner Bilder sind ihrerseits schon so weit in den Status des versunkenen Kulturguts gerückt, dass sie nur mehr mit ausführlicher Anleitung entzifferbar sind: Der Auferstandene mit Siegesfahne, der dornengekrönte „König der Juden“ im Purpurmantel… die Chance, dass der indische Gott Ganesha richtig erkannt wird, ist größer, immerhin hat er mehrere Restaurants. Jesus als Baby in der Krippe, beim letzten Abendmahl oder am Kreuz identifizieren zwar fast alle mit dem Christentum, ob als Gott oder gar eine der drei trinitarischen Personen ist keineswegs sicher. Am höchsten ist der Wiedererkennungswert noch ausgerechnet bei jenem Gottesbild, das Theologen seit Feuerbach bemüht sind, „ Am höchsten ist der Wiedererkennungswert noch ausgerechnet bei jenem Gottesbild, das Theologen seit Feuerbach bemüht sind, loszuwerden: der nette alte Mann mit weißem Bart. “ loszuwerden: Der nette alte Mann mit weißem Bart. Er darf gerne auch of color sein, wie in den bekannten „Bruce“- und „Evan Allmächtig“-Filmen. Nach den radikalen Kampfansagen und Todesdrohungen im 19. Jahrhundert, den persönlichen Abrechnungen und provokanten Neudeutungen im 20. Jahrhundert wirkt Gott heute oft wie ein ikonisches Zitat, dessen Copyright ausgelaufen ist. Gott wird in der Kunst fast schon wie Marilyn Monroe verwendet, in verschiedenen Farbvariationen, höchstens verkehrt herum aufgehängt wie derzeit im Wiener Stephansdom (vgl. den Leitartikel auf Seite 1). Spiritualität versus Gott? Was hat „Spiritualität“, was „Gott“ nicht hat? Man muss die Frage umdrehen, um einer Antwort näher zu kommen: Was hat Spiritualität nicht, was Gott hat? Zunächst hat Gott eine nicht ganz unproblematische Geschichte, Deus absconditus im 21. Jahrhundert Wird der „verborgene Gott“ der christlichen Theologie zum „abwesenden Gott“, der bestenfalls als historisches Artefakt präsent ist? während die Spiritualität noch vor hundert Jahren mit Geistersehern, den Spiritisten, assoziiert wurde. Sodann hat Gott zwar vieleEigenschaften und Facetten, die ganze Bibliotheken füllen, aber er ist doch mit einigen Eckpunkten umrissen, die ihn als Containerbegriff für fast alles, was sich im Bereich menschlicher Sehnsüchte bewegt, nur bedingt geeignet machen. Vor allem aber, so meine Vermutung, ist es das Personale, das ihn gegenüber der Spiritualität ins Hintertreffen geraten lässt. Direkte Beziehungen sind schwierig. Gott als Vater oder auch Mutter sind Generationen, die zu ihren Eltern ein partnerschaftliches Verhältnis pflegen, entwachsen. Gott als einzigartiges Gegenüber widerspricht dem Anspruch der Gleichberechtigung und vor allem der Auswahl, den wir an andere stellen, wie Jean-Paul Sartre schon 1964 nonchalant seine Nicht-Beziehung zu Gott formulierte: „… so sage ich … wie ein altgewordener Frauenjäger, der eine ehemals schöne Frau trifft: ‚Vor fünfzig Jahren hätte … etwas zwischen uns sein können‘.“ (Les Mots, 59). Immerhin schwingt bei Sartre noch leises Bedauern über die verpasste Gelegenheit mit. Weißer Fleck, Schwarzes Loch Selbst in der Theologie ist Gott eine Art weißer Fleck oder vielleicht auch ein schwarzes Loch, um das herum sich in immer weiteren konzentrischen Kreisen die Rede über ihn bewegt, ohne ihn noch allzu oft beim Namen zu nennen. Er ist ein survival in Textschichten, in Übermalungen, in Theorien von Gesellschaft und Gemeinde. Dieses survival in einer Art pseudomittelalterlichem Reenactment oder aggressiven Halleluja-Gesängen zum Widergänger zu machen, wie es in verschiedenen religiösen Gruppen hierzulande geschieht, wirkt auf die meisten Menschen zurecht befremdlich, ja unheimlich. Vielleicht ist dieser hinter seinen alten Bildern verborgene, nur mehr unmerklich ausgesprochene Gott auch einfach eine neue Version des alten deus absconditus, ein Überlebender, der schon viele Tode gestorben ist, vom Kreuz bis Nietzsche. Ein survival, dessen Bedeutung geduldig im Verborgenen auf ihre Neuentdeckung wartet. Die Autorin ist Prof. für Religionswissenschaft an der Uni Graz.
DIE FURCHE · 13 28. März 2024 Das Thema der Woche Gott - (k)eine Frage 3 Die protestantische US-Theologin Linn Tonstad ist eine der führenden Vertreterinnen queerer Theologie. Im FURCHE-Gespräch erläutert sie dazu: „Ein queeres Gottesbild besteht darin, darüber nachzudenken, was Gott an einem fremden Ort, auf eine ungewohnte Art wäre.“ „Eine Ressource für alle Christen“ Das Gespräch führte Otto Friedrich Der Begriff „queer“ umfasst Menschen, die nicht binär hetero sexuell veranlagt sind beziehungsweise leben. Darunter fal len Schwule, Lesben, Trans- und Intersexuelle und andere geschlechtsspezifische Minderheiten. Mittlerweile beschäftigt sich auch die Theologie mit „Queerness“. Ein Gespräch mit Linn Tonstad, Professorin für „Theology, Religion, and Sexuality“ an der Yale University in den USA. DIE FURCHE: Gibt es ein queeres Gottesbild? Linn Tonstad: Ich weiß nicht, ob ich sagen würde, dass es ein queeres Gottesbild gibt, weil ich nicht sicher bin, ob es „das“ Gottesbild im Singular gibt. Im traditionellen christlichen Denken heißt es, Gott ist unendlich. Das bedeutet, dass jede Facette der geschaffenen Welt Gott widerspiegelt. Ein Gottesbild drückt eine Facette von Gottes unendlicher Kreativität aus. Das deutet darauf hin, dass es Gottesbilder gibt, die als queer beschrieben werden können, die Teil der Vielfalt und Komplexität von Gottes schöpferischem Handeln sind. DIE FURCHE: Können Sie ein Beispiel für derartige queere Gottesbilder geben? Tonstad: Es hängt ein wenig davon ab, wie wir das Wort queer verwenden. „Queer“ wird oft in zweierlei Weise gebraucht: erstens als Ausdruck für Menschen, die anders als heterosexuell sind. Queer steht aber auch als Begriff für alles, was gegen die Norm verstößt. Queere Theologie konzentriert sich typischerweise auf die Erfahrungen von Menschen, deren Leben durch sexuelle oder geschlechtsspezifische Erwartungen eingeschränkt wurde, durch Erwartungen, ein anderes Leben zu führen, als sie selbst leben. Eine der Möglichkeiten für ein queeres Gottesbild besteht darin, darüber nachzudenken, was Gott an einem fremden Ort, auf eine ungewohnte Art wäre. Da sind wir mitten in der christlichen Geschichte, die eine Geschichte darüber ist, wie Gott sich selbst an einem fremden Ort findet: Die Reise des Sohnes ins ferne Land. Wir könnten in traditioneller Sprache sagen, dass Gott in eine Welt eintritt, die anders ist als Gott, geformt, menschlich gemacht, nach dem Bild Gottes geschaffen. Diese Welt spiegelt Gott in jedem Aspekt ihrer Existenz wider. Ein queeres Gottesbild wäre dann Teil dessen, was es heißt, nachzudenken, was Gott bedeutet, wie Unterschied und Vielfalt oder alle Formen des Seins zur Komplexität und dem innerlich differenzierten Schöpfungssystem beitragen, das Gott eingerichtet hat. DIE FURCHE: Gott ist etwas, das unsere Erwartungen übersteigt, über unsere Bilder und Metaphern hinausgeht. Warum brauchen Sie da noch einen queeren Ansatz? Tonstad: Ein Student hat mich einmal gefragt: Wenn Gott kein Geschlecht hat, wie kann er dann queer sein? In dieser Frage befindet sich aber ein geschlechtsspezifisches Pronomen. Wenn Gott jenseits aller Bilder und traditionellen und queeren Verständnisse ist, dann heißt das, dass es kein angemessenes Bild von Gott gibt. Wie aber können wir über das nachdenken und sprechen, was nicht in Worte zu fassen ist? Eine der ältesten christlichen Methoden, das zu tun, besteht darin, mehrere Bilder nebeneinander zu stellen, die sich gegenseitig korrigieren, ohne etwas endgültig zu machen. In den Traditionen der negativen Theologie etwa verwirft man die verschiedenen Gottesbilder. Das ist ein Prozess, bei dem versucht wird, den Geist dazu zu bringen, Visionen zu entwickeln, die über die eigene Vorstellungskraft hinausgehen. Das könnte man eine sehr queere Praxis nennen. Ich bin skeptisch, ob es nützlich ist, das Christentum an sich „queer“ zu machen. Aber ich glaube nicht, dass man leugnen kann, dass die Suche nach Gottesbildern eine Art queere Praxis beinhalten muss, weil Queerness in der Schöpfung zu finden ist. DIE FURCHE: Trotzdem gibt es Bilder, an denen man nicht vorbeikann – etwa: Gott als Vater. Das Hauptgebet der Christen beginnt: Vater unser im Himmel … Tonstad: Das Vaterunser ist eines der zentralen Gebete im Leben und im Gottesdienst christlicher Kirchen. Es ist aber auch ein Bild, das die Spur eines patriarchal strukturierten Wirklichkeitsverständnisses trägt. Wir leben in einem solchen Wirklichkeitsverständnis. Es ist also nicht verwunderlich, dass unsere Gottesbilder daran beteiligt sind. Ich selbst bin aber nicht daran interessiert, bestehende Gottesbilder auszuschließen. Sondern ich will sie erweitern, komplexer machen und verschiedene Gottesbilder nebeneinander stehen lassen. Das erinnert auch an die wichtige christliche Tradition, nach der das Erstellen von Gottesbildern eine Versuchung zum Götzendienst ist. Statt Gottesbilder festzuzurren, sollten wir erkennen, dass Gott in der Welt und in den Menschen zu finden ist. Nicht dass Gott mit der Welt und den Menschen identisch wäre, sondern im klassischen christlichen Denken zu sein bedeutet, die Teilhabe an der Güte Gottes in der jeweiligen Eigenart zu reflektieren. DIE FURCHE: Wie setzen Sie sich als queere Theologin mit anderen theologischen Positionen auseinander? Tonstad: Ich selber bin als Theologin im deutschen Stil der alten Schule ausgebildet. Ich habe meine Dissertation über Hans Urs von Balthasar geschrieben und mich erst nach dem Studium der deutschsprachigen Theologie, protestantisch wie katholisch, der queeren Theologie zugewendet. Für mich war diese Auseinandersetzung von Anfang an Teil meiner Arbeit. Ich bin überzeugt, dass die queere Theologie und traditionelle Arten, Theologie zu treiben, voneinander lernen können. Die traditionelle Theologie erinnert daran, sehr genaue Unterscheidungen zu treffen. Und eines der Dinge, die sie von queerer Theologie lernen kann, ist deren Art von Kreativität und Offenheit. DIE FURCHE: Sie haben sich auch mit dem Werk von Joseph Ratzinger befasst. Gerade er hat wiederholt auf den Befund einer binären Geschlechtlichkeit in der biblischen Schöpfungsgeschichte („Als Mann und Frau schuf er sie“) hingewiesen. Aber queere Theologie geht ja darüber hinaus. Tonstad: Ich denke, schon Hans Urs von Balthasar macht einen großen Fehler, in der Art, wie er die biblische Geschichte umstrukturiert, um das Geschlecht – Gender – in gewissem Sinn zum Mittelpunkt der Schöpfungsgeschichte zu machen. Das hatte natürlich einen großen Einfluss auf Johannes Paul II., aber im Blick auf die Jahrhunderte war dies nicht typisch für katholisches Denken. Balthasar dachte über eine Welt nach, in der Geschlecht und Sexualität aus Gründen, die mit anderen historischen Prozessen zusammenhängen, ziemlich wichtig geworden waren. In dieser Hinsicht hat Balthasar einen großen theologischen Fehler gemacht. Für Joseph Ratzinger ist das Geschlecht in seiner Theologie weniger zentral. Im Lauf der Geschichte des Christentums wurden Geschlecht und Linn Tonstad Foto: Privat Die ursprünglich freikirchliche Theologin studierte u.a. in Yale und an der Southern Methodist University. Seit 2012 ist sie Professorin an der Yale Divinity School. 2017 erschien ihr Buch „Queer Theology“. „ Ich bin nicht daran interessiert, bestehende Gottesbilder auszuschließen. Ich will sie erweitern, komplexer machen und verschiedene Gottesbilder nebeneinander stehen lassen. “ Lesen Sie zum Thema auch Gerhard Marschütz: „Queer und katholisch – Die Schöpfung ist vieldeutig“ vom 2.2.2022, siehe furche.at. Sexualität zum Punkt gemacht, an dem die christliche Geschichte steht und fällt. Das ist eine Entscheidung, die nicht in die biblische Erzählung selbst eingebaut ist. Theologisch halte ich das für einen Fehler. Der Bibelwissenschaftler Ken Stone hat aufgezeigt, dass die Bibel viel mehr Zeit damit verbringt, über Essen denn über Sex und sexuelle Praktiken zu sprechen. Warum macht man dann Sex und sexuelle Praktiken zu dem Teil des Christentums, an dem das Ganze steht und fällt? Entscheidend ist, was wir für die zentrale Geschichte des Christentums halten. Was ist die Botschaft? Was macht es wahr oder nicht? Was ist die Geschichte, die das Christentum zu erzählen hat? DIE FURCHE: Es gibt queere Menschen, die Teil der christlichen Gemeinschaft sein wollen. Ist das ein Beweggrund, sich mit queerer Theologie auseinandersetzen? Tonstad: Bei der queeren Theologie geht es nicht um die Inklusion von queeren und sexuellen Minderheiten in die Kirche. Geschlechtsspezifische Minderheiten waren schon immer in der Kirche. Sie sind also da. Es stellt sich nicht die Frage, ob es in der Kirche Menschen geben soll, die schwul oder nichtbinär sind oder transsexuell. Wir treiben Theologie in einem viel umfassenderen Sinn, als einfach mehr Menschen in die Kirche aufzunehmen. DIE FURCHE: Aber Ihr Ansatz könnte für alle Christen von Bedeutung sein. Tonstad: Ziel der queeren Theologie ist es, beim Nachdenken zu helfen. Die christliche Geschichte handelt von einem Gott, der uns zu neuen Seinsarten hinzieht, von denen wir nicht dachten, dass sie möglich wären. Der queertheologische Ansatz kann eine dieser Denkweisen sein, bei der wir lernen, anders darüber nachzudenken, was die Möglichkeiten von Liebe, Begierde und Identifikation in der Welt, in der wir leben, betrifft: diese Entfaltung, die Kreativität, die wir im Leben von Menschen sehen, deren Leben nicht nach Standardgeschichten abläuft. Diesbezügliche Kreativität ist eine wunderbare Ressource, von der das gesamte Christentum profitiert. DIE FURCHE: In der katholischen Kirche wird zurzeit ein heftiger Streit über queere Themen geführt – etwa über die Segnungen gleichgeschlechtlicher Paare. Tonstad: Die Welt steht vor so vielen Herausforderungen, und die Tatsache, dass so viel Energie für diesen Kampf aufgewendet wird – von beiden Seiten –, ist wirklich bedauerlich. Ich frage: Müssen wir diesen Kampf führen? Natürlich leisten Menschen großartige Arbeit für die Anerkennung von Beziehungen, die nicht traditionell sind, zwischen Menschen des gleichen Geschlechts oder zwischen Menschen, bei denen das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht dasselbe ist wie jenes, das sie leben. Gleichzeitig erfordert es viel Anstrengung, um für Frieden zu arbeiten, sich für Abrüstung einzusetzen und einen Teil des Konsums der Erde zu bekämpfen, den wir derzeit als unsere vielleicht größte gemeinsame Herausforderung ansehen. Ich denke immer noch, dass beide Seiten besser dran wären, würden sie ihre Energie hierfür verwenden. DIE FURCHE: Dennoch: Bedient queere Theologie mehr als eine kleine Nische? Tonstad: Das Leben queerer Menschen ist ein Geschenk an die Welt – genau wie das Leben aller Menschen. Intensiv darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeutet, ist meiner Ansicht nach auch Aufgabe der Theologie.
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