11 · 14. März 2024 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 80. Jg. · € 6,– als Aggressor zu benennen, noch protestierte er gegen den Missbrauch des Christentums durch Patriarch Kyrill II., der das Morden quasi unter Gottes Schutz stellte. Sonderbar, dass der römische Pontifex, der Ungerechtigkeit etwa Flüchtlingen gegenüber lautstark anprangert, hier als geradezu kleinlaut wahrgenommen wird. Von Otto Friedrich Eigentlich müsste der Papst Klartext sprechen, zumal mit den griechisch-katholischen Glaubensgeschwistern in der Uk- er Sturm der medialen Entrüstung, der dieser Tage über Franloser Schlagzeile verbreitet hatte: Einmal raine Katholiken besonders bedroht sind: Franziskus’ Interviewaussage per kontextziskus hinwegfegte, war beachtlich: Eine Passage aus einem auch als römisches PR-Desaster. Man erinbieten – und aus den von Russland okkupier- mehr entpuppt sich der aktuelle Shitstorm Stalin ließ diese mit Rom unierte Kirche ver- TV-Interview des Papstes für einen italienischsprachigen Schweizer Sensches Wort aus der „Regensburger Rede“ Be- griechisch-katholische Gemeinden wieder nert sich, wie ein vermeintlich islamkrititen Territorien mehren sich Berichte, dass der wurde von vielen Kommentatoren als nedikts XVI. 2006 zu einem Aufruhr in der der russischen Orthodoxie einverleibt werden. Das ist Krieg. Das spricht der Ökumene Aufforderung an die Ukraine zur Kapitulation aufgefasst. Der Wiener evangelische mals war ein aus dem Kontext gerissenes Zi- Hohn. Das darf ein Papst nicht hinnehmen. islamischen Welt geführt hatte – auch da- Theologe Ulrich Körtner etwa meinte, Franziskus habe da „den letzten Rest von mora- und das Nicht-Benennen dessen, was Sache tat Ursache für den Furor wider den Papst. Durch – diplomatisches? – Schweigen lischer Glaubwürdigkeit und Autorität verspielt“. Er müsse sich als Protestant „wegen Den Kontext im Blick zu haben, sollte für schmutzig machen. Die Sehnsucht, dass das ist, kann sich aber auch ein Papst die Hände des Papstes fremdschämen“. seriöse Medien eine Selbstverständlichkeit Töten auf den Schlachtfeldern der Ukraine Allerdings war das ganze Interview sein. Und abwägende Kritik, die natürlich enden möge, steht einem Religionsführer noch gar nicht on air, sodass auch der Kontext weitgehend unbeleuchtet blieb, in dem weist sich nur dann als glaubwürdig, wenn durch die Duldung von Putins Menschenver- auch dem Papst gegenüber legitim ist, er- gewiss an. Aber auch dieser darf sich nicht die Äußerung vom „Mut zur weißen Flagge“ fiel, die der Ukraine sinngemäß nahe- genommen wird. wie Franziskus zu Beginn der russischen nicht nur eine Einzelaussage in den Blick achtung zu dessen Ministranten machen – legte, weiteres massenhaftes Sterben auf Hier gilt dennoch ganz sicher, dass beim Invasion in einer selten klaren Wortmeldung Patriarch Kyrill (wie wir heute wissen: den Schlachtfeldern entlang der Frontlinie Ukrainekrieg das Agieren und das Sprechen von Franziskus im Gesamten nicht erfolglos) ins Gewissen geredet hat. durch Verhandlungen zu beenden. Soviel weiß man: Das Interview für den dazu angetan sind, der katholischen Kirchenspitze moralische Autorität zuzubilli- von seinem Papst genau dies einzufordern. Als Katholik darf man nicht müde werden, Sender RSI drehte sich um die Farbe Weiß in vielen Facetten; und es kam dabei auch die gen. Denn um den Menschen in der Ukraine Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist einem Empörungsritual rund um ein Fran- Das ist weit mehr, als sich bloß wieder an weiße Fahne zur Sprache. Auf diesen Kontext gingen die heftigen Reaktionen nicht es unabdingbar, Ross und Reiter beim Namen zu nennen. Doch Franziskus war bisziskus-Wort zu beteiligen. ein. Allerdings war es auch das Papst-Medium Vatican News selber gewesen, welches lang kaum imstande, Wladimir Putin klar otto.friedrich@furche.at Dass Putin bei den Präsidentschaftswahlen wiedergewählt wird, steht außer Frage. Warum lässt er sie überhaupt durchführen? Ein Erklärungsversuch. Seite 6 Was macht die amerikanische Kirche bis heute so anders – und verstörend? Der Theologe Benjamin Dahlke sucht in einem Wie Kreisky buhlt Andreas Babler um Bürgerliche. Doch die heutige SPÖ ist proletarischer denn je. Thomas Köhler über Polit-Spitzen und einen Diskurs „am Limit“. Seite 15 Geschichten über das Unterwegssein und Gedanken über die Fragen des Lebens bestimmen das Werk Christoph Ransmayrs. Ein Porträt zum 70. Geburtstag. Seite 19 Frederic Hanusch forscht zu planetarer Demokratie. Er meint: Um auf die Klimakrise zu reagieren, müssen wir unsere politischen Systeme radikal neu denken. Seite 22-23 Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 DIE FURCHE · 12 21. März 2024 er Psychotherapeut Thomas Köhler hat kürzlich an dieser Stelle aus SPÖ-Vorsitzende deutlich und pointiert, weil der im Vergleich zum Citoyen Kreisky bei chen als in den 1970ern. Und das macht der Gegen diese Inhalte ist der Sprachduktus, seiner Sicht einige Schwachstellen gerade angesichts der multiplen Krisen die Babler weniger nobel sein mag, doch mehr als des SPÖ-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten, Andreas Babler, und Ungleichheitsverhältnisse auch deutli- aufgrund seiner Herkunft aus einer Arbeiter- grundlegenden gesellschaftlichen Konflikte sekundär. Und selbst wenn Letzterer – auch vorgebracht. Im Wesentlichen richtet sich die cher spür- und sichtbar sind: wenn etwa Leute kaum ihre gestiegenen Heizkosten oder erter Politikersprech, so adressiert das doch – im familie – „proletarischer“ klingt als gewohn- Kritik dabei auf eine unzureichende Rücksicht auf die „Bürgerlichen“ inner- und außerhalb höhten Mieten zahlen können, um nur ein Vergleich zu den Schriftdeutsch Gewohnten – der SPÖ und auf die mangelnde „Beherrschung“ Beispiel zu nennen. Auch die Frage nach den die Sprache der Mehrheit. Die „einfachen Leute“ sind wohl weniger auf kunstvolles Deutsch der Hochsprache. Dabei erinnert Köhler an die Superreichen und ihrem Beitrag zur Besserung der Situation der Mehrheit (etwa durch aus als auf engagierte Inhalte, die ihre Pro ble- SPÖ der 1970er Jahre und an Bruno Kreiskys Appell an bürgerliche Wählerinnen und Wähler, „ein Stück des Weges gemeinsam“ mit ihm virulenter denn je, ebenso die Frage nach flä- dem Bauch – manche meinen sogar aus dem Vermögenssteuern) wird in dieser Situation me betreffen. Bablers Reden werden oft als aus zu gehen. Was Köhler vergisst: Der damalige chendeckender gesundheitlicher Versorgung Herzen – kommend und als authentisch-glaubhaft erlebt, im Gegensatz zu manchem gestelz- Appell galt auch ausdrücklich kritischen und solidarischen Intellektuellen und Kulturschaffenden – und das durchaus mit Erfolg. Jeden- sich oft genug in redundanten Floskeln ergeht. tem Gerede seiner Hauptmitbewerber, das falls wird Babler vorgehalten, er imitiere diesen Schachzug Kreiskys, schenke aber jener der „professioneller Distanz“ kritisiert wird, Auch das Duzen, das von Köhler wegen fehlen- Verbürgerlichung v. a. in der SPÖ selbst zu wenig Augenmerk. Dies passt auch zu dem häulogen, wenn Politiker pro forma siezen, um sich sehe ich anders: Ist es nicht auch ein wenig verfig erhobenen Vorwurf, Babler und dessen politisches Programm seien zu prononciert links. Christian Aigner heiten an den Kopf zu Von Josef dann im Off duzend alle denkbaren Gemein- werfen? Nun, ich denke zunächst, dass man die Ich selbst kenne die genannten Einwände 1970er Jahre und die heutige Situation nicht aus Bildungsbürgerkreisen, halte sie mit Verlaub aber für etwas borniert und oberflächlich. so einfach vergleichen kann. Zu verschieden sind die Problemstellungen und damit die Herausforderungen heute an die Sozialdemokrazufriedenen und ja, auch Angehörige bürger- Letztlich geht es doch darum, die vielen Untie. Konnte Kreisky beispielsweise noch als licher Schichten mit möglichst klaren Worten Ziel verkünden, dass vor jedem Arbeiterhaushalt ein Mittelklasse-Pkw stehen sollte, wäre eine gedeihliche Erhaltung der Demokratie und Vorhaben dafür zu sensibilisieren, dass das heute ein ökologischer Fauxpas sondergleichen. Heute stellen sich ganz andere Probleme, se garantiert ist. Nicht zufällig hat Babler sich nur im Rahmen sozial gerechterer Verhältnis- die nicht mit der Zeit eines Kreisky zu vergleichen sind: etwa der starke, demokratiegefähr- ohne Zweiklassenmedizin. Alles Beispiele, nach sozialer Gerechtigkeit schon im letzten mit seinem radikalen (radix, lat. Wurzel) Ruf dende Rechtstrend (u. a. auch durch die ÖVP die auch „Bürgerliche“ und die gesellschaftliche Mitte betreffen. Dazu gehört auch die For- doch bei manchen seiner Forderungen auch Jahr an Christlich-Soziale gewandt – liegt er forciert), die immer noch größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, die dadurch derung nach einer besseren Chancengleichheit im Bereich der Bildung und damit nach dem sozial engagierten Papst Franziskus; et- sprachlich (na also!) gar nicht weit weg von verstärkte Verunsicherung vieler Menschen durch die Folgen der Pandemie – speziell in der Förderung von Kinder-Bildungs- und Betreuungsstätten, die Babler als einen seiner Ärmeren nicht etwas abgeben, sondern ihnen wa wenn er wie dieser meint, wir müssten den Zeiten der Teuerung, dann die von Konservativen und Rechten immer noch zum Schüren Kernpunkte formuliert. Auch die Erderhitzung hinterfragt der SPÖ-Chef zu Recht auf Und das ist eine wichtige Botschaft, unab- „zurückgeben, was ihnen gehört“. von Angst genutzte Migrationsproblematik und die Bedrohung durch die „Erderhitzung“, die Hauptverursacher des CO₂-Ausstoßes hin, hängig von der verbalen Brillanz. wie Babler den Klimawandel treffend dramatisiert (also sprachlich doch recht versiert!). ten beziehungsweise reicheren Staaten der Der Autor ist Psychoanalytiker, Psycho nämlich die wohlhabenderen sozialen Schich- Wegen dieser ganz anderen Probleme gilt es Welt. All diese Themen sind sehr real und harren dringend einer Lösung. schaft an der Universität therapeut und em. Prof. für Bildungswissen vielleicht auch, die Leute „linker“ anzuspre- Innsbruck. eine Position, in der er seine Leidenschaft – er war auch Amateurboxer, Rennfahrer, Flieger, Reiter, Radrennfahrer – zum Beruf machen konnte. Zwischen 1986 und 1990, als er Generalintendant war, baute Podgorski die Regionalisierung des ORF aus – die Dezentralisierung der Landes- war nicht nur ein Urgestein des ORF, sondern auch dessen scharfzüngiger Kritiker, der zwischen zwei Amtsperioden studios und die Sendung „Bundesland heute“ sind bis heute des legendären Gerd Bacher für vier Jahre an der Spitze der sichtbare Zeugen seiner Ära. heimischen Medienanstalt stehen durfte. Am 16. März ist Das FURCHE-Gespräch mit Teddy Podgorski 2005 fand er 88-jährig in Wien gestorben. im Café Gutruf statt, einem unscheinbaren Lokal hinter der Bereits 1953 heuerte der 18-Jährige beim Sender RotWeiß- Wiener Peterskirche, dessen Besitzer das Vorbild für Helmut Qualtingers „Der Herr Karl“ war – über den TV-Skandal, Rot als Nachrichtensprecher an. Zwei Jahre später wechselte er in den Aktuellen Dienst des neu gegründeten ORF- den dieser Spiegel der österreichischen Seele 1961 ausgelöst hatte, konnte Podgorski da ebenso berichten wie dar- Fernsehens, dessen Leitender Redakteur er bald wurde. Der Sendungstitel „Zeit im Bild“ ist ebenso seine Erfindung wie über, dass das Fernsehen 1972, als Karl Schranz von den viele Sendungsformate danach – „Sportpanorama“, „Seitenblicke“, „Universum“, „Seinerzeit“, „Jolly Joker“ etc. schen „aufgehetzt“ hätte. Auch zu den Humanitarian-Bro- Olympischen Spielen ausgeschlossen worden war, die Men- Dabei ließ sich der Fernsehmann mit Leib und Seele den adcasting-Events „Licht ins Dunkel“ und „Nachbar in Not“ Mund nicht verbieten – ein kritischer Bericht vor einem merkte der Altvordere gar Kritisches an – vieles davon wurde erst viel später auch in der öffentlichen Diskussion the- Staatsbesuch des Schahs von Persien führte gar zu seinem kurzzeitigen Hinauswurf, und Gerd Bacher suspendierte Podgorski nach einer unbotmäßigen Bemerkung übers Sein Tod ruft in Erinnerung, dass Teddy Podgorski matisiert. Salzburger Festspiel-Publikum. Er kam dennoch immer gewiss eine Personifizierung des goldenen Zeitalters von wieder zurück: 1967 als Chefreporter, 1972 als Sportchef, Fernsehen in Österreich war. (Otto Friedrich) Lesen Sie auch das FURCHE- Interview mit Teddy Podgorski vom 16.6.2005, siehe „35 Jahre beim Baberlzeug“ auf furche.at. Von Brigitte Quint etztens klärte mich die neunjährige Tochter meiner Freundin über den neuesten Trend auf: Auf dem News-Display der Wiener Linien habe sie gelesen, dass es „mega in“ sei, sich selbst zu heiraten. Noch beim Bezahlen – das Gespräch hatte in einem Beisl im Wurstelprater stattgefunden – diskutierte ich mit meiner Freundin intensiv über diese neue Form von Hochzeit. Der Kellner mischte sich ein, erklärte, wir säßen einem Irrtum auf. „Single-Weddings“, wie er es kundig nannte, hätten sie im Lokal bereits seit Jahren regelmäßig. „Neu sind die nicht.“ Später auf dem Spielplatz überprüften wir diese Information via Google. Tatsächlich. Seit Mitte der 2000er Jahre sagen Alleinstehende regelmäßig Ja zu sich selbst. Der Hochzeitskuss findet via Spiegel statt. Auf der Hochzeitsfeier steht statt des Brautpaares nur eine Braut oder ein Bräutigam im Mittelpunkt. Es gibt Trauzeugen, Hochzeitstorten, Fotografen und natürlich jede Menge aufgehübschter Gäste. Der Trend wurde zur Tradition. Es gilt, der Welt mitzuteilen, dass man sich selbst genug ist, sich dem Paardiktat nicht fügen will. Ich mag ja Menschen, die verstanden haben, dass das Leben mehr zu bieten hat als das ständige Suchen und Finden von Mr. oder Mrs. Right. Aber warum braucht es für diese Erkenntnis eine Inszenierung? Andererseits scheinen viele Paare, die erkannt haben, dass sie zusammenbleiben wollen, auch eine Inszenierung zu brauchen. Würde ich mich selbst heiraten wollen? Ich fürchte, ich wäre mir zu anstrengend. Falsch. Ich bin mir zu anstrengend. Schließlich habe ich mich ständig am Hals. Ich lebe mit mir selbst in einer wilden Ehe. In einer wilden Zwangsehe genau genommen. Eine Trennung von „Mrs. Me“ ist ausgeschlossen. Was ich auch nicht wollen würde. Dafür hänge ich zu sehr an mir. Freilich muss man zusehen, dass man mit sich im Reinen ist, sich das Leben so einrichtet, dass man zurechtkommt. Und wer die eigenen Bedürfnisse ignoriert, tut sich auch keinen Gefallen. Ich fürchte, diese Selbstliebe kann man sich nicht erheiraten, eher erarbeiten. Zum Knutschen finden sich dann von selbst Alternativen zum Spiegelbild. Nein sagen kann man immer noch. Zu wem oder was auch immer. DIE FURCHE · 14 16 Diskurs 28. März 2024 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Präzision und Wissen Der Papst im Shitstorm Von Otto Friedrich Nr. 11, Seite 1 Ich lese die Texte von Otto Friedrich mit großer Begeisterung und ertappe mich, dass ich ständig mit dem Kopf nicke und mich über seine verbale Präzision und sein profundes Wissen zur Sache freue. Möge er nicht müde werden, als Vertreter des Qualitätsjournalismus die Probleme beim Namen zu nennen. Peter Böhm Heidenreichstein Da hilft nur noch beten wie oben Die Entrüstung über die Aussagen von Papst Franziskus zum Krieg gegen die Ukraine ist groß. Der Originaltext ist dabei kaum zu finden und Gedanken wie Friedensverhandlungen werden als Provokation wahrgenommen. Bei allen möglichen Missverständnissen zu den Aussagen erschreckt mich dennoch, dass sich die moralische Entrüstung weniger auf den Krieg als auf Bemühungen um Waffenstillstand und Frieden bezieht. Dies ist wohl tatsächlich eine Zeitenwende. So wird der Krieg zu einer moralischen Notwendigkeit, Frieden zu einer Unverfrorenheit. Da hilft wohl nur noch beten ... Prof. i. R. Dr. Clemens Seyfried Institut für Forschung und Entwicklung Private PH der Diözese Linz sowie wissenschaftlicher Berater der Gesellschaft für interkulturelles Zusammenleben, 13597 Berlin Pro und Contra: Nuklearwaffen für Europa? Gewalt gegen Frauen: Nach dem Notruf? Die Warnung bleibt aufrecht Der Theologe Ullrich H. J. Körtner und der Außenpolitik-Experte Alexander Kmentt über Sicherheits- Beratungsstellen. Drei fiktive Fälle zeigen, wie entführte Westen“. Er liest sich auch heute Nur wenige Frauen wenden sich an die Polizei oder 1983 schrieb Milan Kundera seinen Essay „Der politik und Zeitenwende. · Seite 5 Opferschutz funktioniert. · Seite 12–13 beklemmend aktuell. · Seite 17 Das Thema der Woche Seiten 2–4 Fordert Franziskus die Ukraine zur Kapitulation auf? Auch wenn hier auf ein Interview einmal mehr ein übliches Empörungsritual folgte: Die Position des Papstes zur Ukraine bleibt prekär. Der Papst im Shitstorm D „ Durch Schweigen und Nicht-Benennen dessen, was Sache ist, macht sich auch ein Papst die Hände schmutzig. “ Franziskus geradezu kleinlaut Was wird künftig auf den Teller kommen? Aktuelle Krisen werfen ihre Schatten auf unsere Ernährungssicherheit. Ein Fokus zum Symposion Dürnstein. Was uns beim Essen blüht Foto:iStock/Eplisterra Foto: IMAGO / Bridgeman Images Birgit Minichmayr: „Man ist leider erpressbar“ An der vielseitigen Schauspielerin kommt man derzeit kaum vorbei, so viel Präsenz hat sie auf der Bühne und im Kino. · Seite 20-21 „Einen rein jüdischen Staat lehnte Arendt ab“ Die Philosophin Hannah Arendt kritisierte die Idee einer Zwei-Staaten- Lösung für Israel und Palästina von Anfang an. Historikerin Annette Vowinckel über Arendts Gedanken zu Nahost sowie Auszüge aus einem Essay, der sich prophetisch liest. Seiten 7–8 AUS DEM INHALT Die organisierte Zustimmung Befremdliches bei US-Katholiken neuen Buch nach Erklärungen. Seite 9 Mit Babler „ein Stück des Weges“? Glänzende Verwandlungen „Nicht ohne die Nichtmenschlichen!“ furche.at Nicht Auge um Auge wie oben Zugegeben, fürs Erste war ich auch irritiert über die Aussage von Papst Franziskus, über die zunächst etwas verkürzt berichtet wurde. Derzeit herrscht „Aug’ um Aug’“ und alle rüsten auf, es wird in Zerstörung investiert, ohne Aussicht auf eine Lösung, ganz im Gegenteil: Dieser Weg führt in die Eskalation! Inzwischen ist es ein Krieg zwischen NATO (Nachschubländer) und Russland, das macht die Situation so gefährlich. Wenn die „Weiße Fahne“ bedeutet, Schluss mit Krieg, sofort zurück auf den Verhandlungstisch, dann schwingen wir sie, bevor ein weiterer unberechenbarer Macher in der USA auf die politische Bühne tritt (mögen wir davor verschont bleiben). Putin hat längst seinen Krieg verloren, mag er auch einen Teil von der Ukraine für sich beanspruchen. Es ist ein Trümmerfeld, das er höchstens als „neutrale Zone“ gegenüber dem Rest von Europa nutzen kann. Wer schafft es, wer hat noch die Autorität, die Kriegsparteien auf einen Tisch zu bringen? Anton Wintersteller 5201 Seekirchen Vorbildliche Beispiele Auf dem Holzweg, aber richtig Von Wolfgang Machreich Nr. 12, Seiten 2–4 Ich möchte mich bedanken für die Beiträge zur Land- und Forstwirtschaft! Es ist so, dass wir von der Natur leben müssen, und das geschieht nicht in menschenleerer Wildnis. Zudem ist der Mensch in diesem Sinn nicht notwendigerweise der Feind der Natur, sondern die Natur ist in vielerlei Hinsicht auch auf ihn angewiesen. Es sind letztendlich die konkreten Einzelbeispiele vorbildlichen Wirtschaftens, welche uns weiterbringen: beispielsweise die Plenterwirtschaft im Seckauer Stiftswald oder die Agrartüftler, die sich auf ihrem eigenen Betrieb um Biodiversität bemühen. Die Natur ist auf jedem Bauernhof und in jedem Forstbetrieb anders, daher funktionieren die normierten Konzepte der EU nicht und haben die Bauern auf die Barrikaden gebracht. Sehr wichtig sind auch die Aspekte jener Fachleute, die praktische Erfahrung haben – wie Silvio Schüler und Bernhard Wolfslehner. Und es sollten auch vorbildliche Konsumentinnen und Konsumenten ins Licht der Öffentlichkeit treten dürfen. Ideologische Theoretiker und praxisferne Zurufer von außen, auch wenn sie im rechten Maß als Korrektiv wichtig sind, haben wir nämlich mittlerweile schon viel zu viele. Elisabeth Ertl 8350 Fehring Rundumschlag „Ein Stück des Weges“ gehen – aber welchen? Replik von Josef Christian Aigner auf den Gastkommentar von Thomas Köhler Nr. 12, Seite 11 Der Beitrag des Psychoanalytikers und Bildungswissenschaftlers Josef Christian Aigner liest sich eher wie der Rundumschlag eines beleidigten Babler-Adoranten denn eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Thomas Köhlers Text in der vorhergehenden FURCHE. In beleidigtem und beleidigendem Stil („borniert und D Unvergleichliche Probleme NACHRUF Der Erfinder von „Zeit im Bild“ as Interview, das Thaddäus „Teddy“ Podgorski der FURCHE gab, liegt schon fast 20 Jahre zurück, Dseine Problemsicht auf den ORF könnte über weite Strecken aber heute genauso gesagt werden: Podgorski Foto: Privat DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Diskurs Warum Andreas Bablers „proletarische“ politische Ziele auch Bürgerliche interessieren sollten – ganz unabhängig von der vom SPÖ-Chef gezeigten sprachlichen Brillanz. Eine Replik. „Ein Stück des Weges gehen“ – aber welchen? „ Gegen Inhalte wie Chancengleichheit und Erderhitzung ist ein weniger nobler Sprachduktus sekundär. “ Nahe an Papst Franziskus Foto: APA /ORF / Ali Schafler L QUINT- ESSENZ 11 Knutsch den Spiegel oberflächlich“) geht es ihm offenbar nur darum, Andreas Babler gegen jeden tatsächlichen oder vermeintlichen Vorwurf zu verteidigen. In diesem Furor übersieht er etwa Köhlers Kritik an der Mietenpolitik der ÖVP oder dessen klares Eintreten für Arme und Schlechtverdienende. Nicht nur „Bildungsbürgerkreise“ – ein Begriff, der für den Bildungswissenschaftler Aigner offenbar besonders negativ konnotiert ist – schätzen gepflegte Sprache. Das hat nichts mit einer allfälligen Sehnsucht nach „kunstvollem Deutsch“, sondern mit dem Wunsch nach für alle verständlichem Hochdeutsch zu tun. An wem sollen sich Bürgerinnen und Bürger denn ein Beispiel nehmen, wenn nicht (auch) an Politikerinnen und Politikern? Authentizität sowie das Beherrschen einer gepflegten Sprache sind kein Widerspruch – gerade auch in der Arbeiterbewegung: Denken wir etwa an den Setzer Franz Jonas oder den Elektromechaniker Anton Benya! Auch die Belustigung über Köhlers Plädoyer für höfliche Distanz verstehe ich nicht: Speist denn nicht gerade diese „schwüle Familialisierung“ (© Rudolf Burger, der sich selbst als „agnostischen Marxisten“ bezeichnete) den Verdacht, dass in der Politik Tätige „eh nur packeln“? Überhaupt vermisse ich in Aigners Beitrag eine Auseinandersetzung mit Inhalten, wie er es selbst einfordert und wie es für einen interessanten wie niveauvollen Diskurs wünschenswert gewesen wäre. Prof. Mag. Christian Mertens Wien Gleichstellung in Religionen Frauen? Vergessen Fokus von Brigitte Schwens- Harrant Nr. 10, Seiten 2–4 Die Gleichbehandlung der Geschlechter sollte in unserer aufgeklärten, liberalen und demokratischen Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sein. Der zu unterstützende Femininismus bekämpft jede Diskriminierung, schießt jedoch zu oft über das Ziel und schadet damit dem eigenen Grundanliegen. In der modernen Demokratie ist das Gleichheitsprinzip fest verankert und verdammt jede dagegen gerichtete und vornehmlich männliche Gewalt. Leider gilt der Gleichheitsgrundsatz in vielen Religionen nicht. Die meisten Weltreligionen diskriminieren klar das Weibliche. Gerade auch die katholische Kirche sei wiederum aufgerufen, die dominante weibliche Präsenz in der religiösen Praxis durch eine Gleichstellung in der kirchlichen Hirarchie anzuerkennen. Dr. Heinz Wimpissinger 3400 Klosterneuburg Brillante Analyse Krone der Schöpfung? Von Michael Rosenberger Nr. 1, Seiten 10–11 Herzlichen Dank an Michael Rosenberger für seinen Artikel „Krone der Schöpfung“. Eine brillante Analyse zur aktuellen Wertung der Lebewesen. Andreas Hargassner 3040 Neulengbach Erratum In der letztwöchigen FURCHE wurde in der Rubrik „Kompass in Kürze“ der neu gewählte Superintendent der evangelischen Kirche A.B. in Niederösterreich als Martin Simmer vorgestellt. Tatsächlich lautet sein Name aber Michael Simmer. Wir bedauern den Fehler. (red) Foto: Österreichische Lotterien Geschenkideen für alle ab 18 findet man in den Annahmestellen. Rubbelspaß mit Gewinngarantie Geburtstag, einfach Danke sagen oder vielleicht sogar schon an Ostern denken: Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft und wer noch eine Gewinngarantie drauflegen möchte, wird in den Annahmestellen fündig. Das „Glückspaket“, bereits praktisch verpackt in einem Geschenkset, besteht aus fünf Rubbellosen mit dem Aufdruck „Alles Gute“ und bietet um 10 Euro die Chance auf 10.000 Euro. Jedes Glückpaket enthält mindestens einen Gewinn von 4 Euro. Oder etwa mit dem Rubbellos-Klassiker „CASH“, hier sind Hauptgewinne bis zu 50.000 Euro unter der Rubbelschicht versteckt. Für alle, die schon über Geschenke für Ostern nachdenken, könnte sich auch das Frühlingslos „Goldhendl“ als lohnende Variante erweisen. Es warten zwei Hauptgewinne in Höhe von 30.000 Euro, das Los ist zum Preis von 3 Euro erhältlich. Mit Rubbellos Glück schenken IN KÜRZE MEDIEN ■ Hugo-Portisch-Preis an Antonia Rados Die ehemalige ORF-Korrespondentin sowie RTL-Kriegsreporterin Antonia Rados erhält den diesjährigen, mit 40.000 Euro dotierten Hugo-Portisch-Preis. Rados habe über ihr ganzes Berufsleben hinweg journalistische Qualitätsstandards hochgehalten, ungeheuren Einsatz, Vielseitigkeit, aber auch Kollegialität gezeigt, begründete die Jury ihre Wahl. Wenn es um die Sache ging, konnte Rados „unbequem“ sein. Zudem sei sie im Sinne Portischs multimedial und habe „nicht nur große TV-Präsenz entwickelt, sondern auch Artikel für Zeitungen und Bücher verfasst“. In all dem habe die gebürtige Klagenfurterin „journalistische Meilensteine“ gesetzt – und dies „unerschrocken auch als Frau getan“, so die Jury. Den mit 10.00 Euro dotierten Hugo- Portisch-Nachwuchspreis erhält Kurier-Außenpolitikredakteur Armin Arbeiter. Der ebenfalls mit 10.000 Euro dotierte Preis im Bereich Zeitgeschichte und Dokumentation geht an das Redaktionsteam der ORF III-Reihe „Österreich – die ganze Geschichte“. Foto: Raimond Spekking (cc by-sa 4.0) RELIGION ■ Flüchtlingsboot-Installation Mit einer Installation in der Innsbrucker Maria-Theresien-Straße will die Kirche Bewusstsein für die Situation von Flüchtlingen im Mittelmeer wecken: Vor der Spitalskirche wird am Gründonnerstag ein Schlauchboot platziert. „Hineinversetzen in die Lage der Geflüchteten können wir uns natürlich nicht, dennoch versuchen wir durch die Aktion zu sensibilisieren, das Bewusstsein zu schärfen und so einiges zu bewirken“, so Bernadette Embach-Woschitz vom Frauenreferat der Diözese Innsbruck. In der veranstaltenden Aktion „zusammen.leben“ arbeiten die Katholische Frauenbewegung und die Missionarische Pastoral der Diözese zusammen. MUSIK ■ Maurizio Pollini (1942-2024) „Dieser Junge spielt besser Klavier als jeder von uns“, lobte Arthur Rubinstein, als Maurizio Pollini 1960 in Warschau den Chopin- Wettbewerb gewann. Kritiker beschrieben seinen Stil als unsentimental und intensiv, perfekt und einzigartig, formklar und brillant. Er spielte Klavierkonzerte, Sonaten und Balladen von Frédéric Chopin, Franz Schubert und Ludwig van Beethoven, solo oder im Orchester, bis hin zum Zeitgenössischen: Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen oder Pierre Boulez. 1976 wurde er in einer Kritiker-Umfrage zum „besten Pianisten der Welt“ gekürt. Am 23. März verstarb er in seiner Geburtsstadt Mailand.
DIE FURCHE · 13 28. März 2024 Kunst 17 Von Brigitte Schwens-Harrant Als Ferdinand Hodlers Geliebte an Krebs erkrankte, griff der Maler zu Farben und Stiften und verarbeitete in 50 Ölbildern, 130 Zeichnungen und ungefähr 200 Skizzen die Entsetzlichkeit ihres Sterbens. In den dabei entstandenen Bildern gleicht sich der Körper Valentine Godé-Darels immer mehr der Horizontalen an, bis die Geliebte und Mutter seiner Tochter schließlich wie eine Linie unter anderen Linien flach, aber irgendwie auch geborgen im Bild liegt. „La morte“, „Die Tote“, ein Ölbild vom 26. Jänner 1915, ist im Rahmen der Ausstellung „Sterblich sein“ zur Zeit im Dom Museum Wien ausgestellt. Es ist das letzte dieser Bilderserie und strahlt eine ewige Ruhe aus. Der Schmerz der vergangenen Zeit ist irgendwie noch spürbar, aber er ist zu Ende. Die österreichische Künstlerin Petra Sterry wiederum versuchte in ihrer Serie „The Nada Trust“ das Sterben und den Tod ihrer an einem Tumor erkrankten Mutter mit Bleistift skizzenhaft zu bearbeiten. Sie zeigt eine Patientin inmitten von medizinischen Hoffnungen und monsterhaften Ängsten. „Nada“, das heißt auf Spanisch „Nichts“, in slawischen Sprachen hingegen bedeutet es „Hoffnung“. Beides ist da, die Erfahrung des Nichts, die ständige Hoffnung dennoch. Kunst als Protest Wie Hodler und Sterry reagieren auch andere Künstler und Künstlerinnen auf den Schrecken des Todes, oder weniger abstrakt gesprochen: auf den Abgrund, der sich auftut, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Kunst erscheint als Mittel der Bewältigung, aber oft auch des Protestes. Der Tod sei sein Todfeind, schrieb Elias Canetti, der Schreiben zeitlebens als Aktion gegen den Tod verstand. Alfred Kubin, Herwig Zens und Günter Brus wiederum zeichneten dagegen an. Die Ukrainerin Olia Fedorova, die zu Beginn des Krieges in Charkiw lebte, schrieb im Bunker auf ein Leintuch ihr Wutgebet: „Ich werde aufrecht stehen. Ich stehe auf-recht. / Und du: Renn, so lange du noch kannst.“ Und die französische Künstlerin ORLAN ruft im Video „Ich will nicht!“, „Ich will das Leben!“ und fordert in ihrer „Petition gegen den Tod“ zur Unterschrift auf. Ihre Plakate kann man mitnehmen und so auch außerhalb des Museums gegen den Tod protestieren. Das Sterben, das neben diesem künstlerischen Protest thematisiert wird, ist das besonders Sinnlose: das Sterben im Krieg. Tom Schmelzer hält mit einem „Denkmal für den unbekannten Deserteur“ („memorial to the unknown deserter“, 2007) dagegen. Auch die Gewalt an Frauen wird sichtbar: Die mexikanische Künstlerin Teresa Margolles überließ dem Dom Museum eine Vase, auf der Frauen mit ausgekratzten Gesichtern zu sehen sind. Unterwegs nach Wien ging die Vase auf dem weiten Weg von Mexiko über die USA kaputt. Grenzbeamte haben sie wohl auf der Suche nach Drogen zerstört. Nun sind die Scherben ausgestellt, der Titel „KAPUTT“ ist ebenso passend wie das Bild des Häufleins: zerschlagene Teile, das Innen teils nach außen gewendet, Verletzlichkeit, Verletztheit. Foto: Brigitte Schwens-Harrant Leben heißt sterblich sein. Das ist traurig und empörend, aber es ist so. Das Dom Museum Wien lädt mit alter und neuer Kunst zum Nachdenken über die Endlichkeit ein. „Es ist nur ein Auf Wiedersehen“ Khaled Barakeh hat in seiner Serie „The Untitled Images“ (2014) Fotos aus dem syrischen Krieg verwendet, wie sie die Medien zeigen. Aber er hat die Toten aus den Fotos gelöscht. Anstatt eines Leichnams ist nur das Weiß des Hintergrunds zu sehen. Dies ist einerseits eine Geste der Würde (die Kriegsopfer nicht auch noch in Fotografien aus- und damit bloßzustellen), andererseits wirken die Fotos dadurch noch stärker: Sichtbar wird die Lücke, sichtbar wird das Loch, sichtbar wird, dass hier jemand ausgelöscht wurde. Die Bilder sind tief gehängt, man muss den Kopf neigen, um sie anzusehen. Daneben „Noch mal leben“, Zeugnisse aus dem Hospiz. Beate Lakotta und Walter Schels haben Menschen begleitet, ihren Geschichten zugehört und ihre Gesichter fotografiert, vor dem Tod und danach. Den Porträts ist so vieles eingeschrieben, einiges davon steht auch als Text dabei, anderes kann man vielleicht aus den Gesichtern lesen, das meiste wird man nie erfahren. Leben, dann Tod: Und was ist eigentlich dazwischen? Das „Sterblich sein“ ist dem Körper von Anfang an eingeschrieben, es ist „Mitten im Leben“, wie auch der erste Ausstellungsraum heißt. Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben kann ohne Auseinandersetzung mit dem „Sterblich sein“ schwer gelingen. Es gab Zeiten, da verstand man Sterbekunst als Lebenskunst. Das im Dom Museum Wien ausgestellte Buch „Ars bonæ mortis“ („Die Kunst des guten Sterbens“) von 1761 erinnert daran. Sterblichkeit akzeptieren als positive Lebenseinstellung: Auch diesem Aspekt möchte man im Museum Raum geben. Trauer und Schmerz Kunst aller Zeiten zeigte und zeigt aber auch die Trauer der Hinterbliebenen. Giovanni Giulianis „Kreuzabnahme“ von 1730 beeindruckt durch die Darstellung der Gefühle auf den Gesichtern von Mutter Maria, Maria Magdalena und Johannes. Zärtlichkeit ist ebenso zu sehen wie der Schrei des Schmerzes. Die Trauer ist menschlich und jedem vertraut, der schon einmal um Liebste weinte. Auch mit dieser Jahresausstellung zeigt das Dom Museum Wien, wie sehr „sakrale“ und „profane“ Kunst miteinander thematisch und formal verschränkt und verbunden sind. Und es kommt nicht von ungefähr, sondern entspricht auch existentiellen Erfahrungen, dass selbst zeitgenössische Künstler auf die Formensprache der christlichen Kunst zurückgreifen. Der australische Künstler Sam Jinks etwa zitiert mit seiner Pieta „Still Life“ (2007) dezidiert das Vorbild Michelangelos, hier aber sieht man Vater und Sohn – oder vielleicht auch ein Ich in zwei Zuständen. Das Dom Museum Wien überschreitet wie immer Grenzen, zwischen sakral und profan, alt und neu, europäisch und außereuropäisch, die Aufstellung der Kunstwerke lädt zum Dialog. So hat Nikolaus Gansterer aus dem „Triumph des Todes“ von Jan Brueghel d. J. (um 1620) heraus in die Gegenwart gemalt: „Ende – Gelände“ (2023). Und die „Weinende Maria“ (1694) von Giovanni Giuliani steht vor einem beeindruckenden Bild des französisch-senegalesischen Künstlers Alexandre Diop, der ihm den hoffnungsvollen Titel gab: „Ce n’est qu’un au revoir“ („Es ist nur ein Auf Wiedersehen“, 2020). Die barocke Totenkasel von 1630, die den Sensenmann drastisch zeigt, braucht kein Kunststück aus der Gegenwart neben sich gestellt: Sie wirkt in ihrer Radikalität selbst äußerst modern. Kein christliches Auferstehungssymbol findet sich auf ihr abgebildet, dafür jede Menge zu Boden „Jemand fehlt: Tod und Trauer in der Literatur“ von Brigitte Schwens-Harrant, erschienen am 6.9.2012 in der Literaturbeilage „booklet“, siehe furche.at. „ Das Museum zeigt, wie sehr ‚sakrale‘ und ‚profane‘ Kunst miteinander thematisch und formal verbunden sind. “ Trauer und Trost Die „Weinende Maria“ (1694) von Giovanni Giuliani steht vor Alexandre Diops Bild „Ce n’est qu’un au revoir“ („Es ist nur ein Auf Wiedersehen“, 2020). gefallener Dinge, Machtinsignien. Die Botschaft ist klar. Im baulich beeindruckenden Stiegenhaus des Museums fallen die langen roten Fäden auf, an denen Schilder hängen. Jedes erinnert an einen Menschen, der 2022 einsam begraben wurde. „Stiller Abtrag“ nennt Sybille Loew ihre Installation, die in ihrer Einfachheit und Luftigkeit auch Gebetsfahnen assoziieren lässt. Ihr entspricht ein weiterer Raum, der zum Zurückziehen und Beteiligen einlädt: Besucherinnen und Besucher können hier selbst persönliche Erinnerungen an Menschen auf Zettel notieren und diese an Fäden knüpfen. Etwaige Bedenken, das Thema Sterblichkeit wäre zu dunkel, bestätigten sich nicht. Das Museum zählt mehr Besucherinnen und Besucher denn je. Eltern kommen mit ihren Kindern, Schulklassen nehmen an begleitenden Workshops teil. Die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit ist nötig, und sie wird gesucht. „Wer, wenn nicht wir“, sollte sich dieses Themas annehmen, meint Direktorin Johanna Schwanberg. Und da ist ihr wieder einmal recht zu geben. Sterblich sein Dom Museum Wien Bis 25. August 2024 Täglich 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr An Feiertagen geschlossen www.dommuseum.at
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