DIE FURCHE · 30 4 Das Thema der Woche Weniger 27. Juli 2023 Von Josef Christian Aigner Angesichts der Hitze und der schweren Unwetter in den letzten Wochen würde man meinen, dass politisch und auch individuell mehr Bereitschaft zu Maßnahmen gegen die Erderwärmung entstünde. Ob aber Wissenschaftsautor Martin Kugler recht behält, der in der Presse (16.7.2023) argumentierte, dass es bei den Emissionen durch Fliegen keine andere Lösung gäbe als weniger Fliegen, darf bezweifelt werden. Denn unsere Klimaschutz-Politik habe „hauptsächlich ein Problem des Unterlassens“, so die Verfassungsjuristin Miriam Hofer von der Universität Graz anlässlich der gescheiterten Klagen gegen die Säumigkeit beim Klimaschutzgesetz durch den VGH. Unabhängig davon spricht auch der Berliner Politologe Philipp Lepenies in seinem Buch „Verbot und Verzicht“ über eine „Politik aus dem Geiste des Unterlassens“ (2. Auflage 2023). Verbot und Verzicht sind aus Sicht des deutschen Autors nämlich unausweichlich – wenn auch nicht die einzige Lösung gegen die Klimakrise. Dagegen weissagte Ex-Kanzler Sebastian Kurz einst, wir würden durch Verzicht in die Steinzeit zurückfallen. Generell werden einschränkende staatliche Steuerungsinstrumente, wie schon bei Corona, vehement abgelehnt. Und Kanzler Karl Nehammer war gar so originell, Österreich als „Autoland schlechthin“ zu bezeichnen. Vor allem rechte Parteien geißeln jede staatliche Einschränkung der CO₂-Emissionen geradezu fanatisch-religiös als Bevormundung und Raub der persönlichen Freiheit – egal, wie groß die (vielfach noch geleugnete) Bedrohung ist. Dagegen setzt man auf technische Innovationen und Anpassung an die neuen Belastungen, womit man „alles im Griff“ zu haben meint. Wo sich der Spaß aufhört Obwohl Verbote zur Verhaltenssteuerung oder Verzicht bei Ressourcenknappheit wirksam sein mögen – wenn es um eine Einschränkung von Konsum im weiteren Sinn (also auch Mobilität, Reisen usw.) geht, hört sich der Spaß auf. Diese Ablehnung jeder Infragestellung des bisher gewohnten Wohlstands und Konsums kommt aber nicht zufällig daher. Denn Konsum bzw. die „Konsumentensouveränität“ stellen im Zeitalter neoliberalen Wirtschaftens ein oberstes Gebot dar: Der ungehinderte Konsum ist ein dominantes identitätsstiftendes Merkmal in postmodernen Gesellschaften, ob er nun leistbar oder wenigstens anzustreben ist. Lepenies nennt das die „douce consommation“ („süß“ oder „mild“ wegen des Genießens, frei von jeglicher Einschränkung). Sie wird im Neoliberalismus durch die Unterwerfung unter die Wettbewerbslogik des Marktes zu einer normativen Kraft – ohne jede moralische Rücksichtnahme auf irgendjemand oder -etwas. Im Gegenteil: Konsum folgt den individuellen Wünschen und wird damit selbst zur besseren Moral, weil er das Selbstverständnis des sich „frei“ wähnenden Subjekts stützt. Wird dies missachtet, werden Einschränkungen quasi-natürlich als illegitim erlebt. Der Staat hat in diesem Szenario lediglich die Rolle, der Konsumentensouveränität den größtmöglichen Freiraum zu sichern. Diese sich ab den 1980er-Jahren durchsetzende Doktrin hat unser Denken, zurückgehend auf prominente, von Lepenies besprochene Ökonomen – etwa Friedrich August Hayek oder Milton Friedman – weitgehend durchdrungen, ja sie ist Teil einer „Normalität“ geworden, der wir fast täglich in Politiker-Haltungen begegnen. Waren im Hochkapitalismus noch Verzicht und Sparsamkeit ein Mittel der Wahl zum Erreichen von Wohlstand und Zivilisiertheit, dreht der Neoliberalismus dieses „ Die sich selbst genügenden Individuen wollen – ungestört von Vorschriften – nur noch ihre Präferenzen leben – und niemandem gegenüber moralisch verantwortlich sein. “ Verbot und Verzicht Politik aus dem Geiste des Unterlassens Philipp Lepenies edition suhrkamp SV Verbot und Verzicht Politik aus dem Geiste des Unterlassens Von Philipp Lepenies Suhrkamp 2022 266 S., kart, € 18,50 Österreichs Regierung leidet an mangelnder Gestaltungskraft. Warum es Politiker(inne)n so schwer fällt, Restriktionen überhaupt anzudenken. Eine Analyse. Die Crux mit dem Verbot Denken um. Jetzt wird der „freie“ Markt idealisiert: Er produziert, was der Souverän Konsument haben will. Diese „Freiheit“ führe sogar zur wahren Form der Demokratie, der sogenannten „Verbraucherdemokratie“. Zu wessen wirtschaftlichen Profit dies dient, bleibt freilich verborgen. Konsumentscheidungen seien deshalb sogar demokratisch wichtiger als freie Wahlen, weil sich die Marktteilnehmer(innen) rationaler verhielten als Wähler(innen), die Partikularinteressen vertreten, während der Markt in unser aller Interesse funktioniere. Der solcherart ungehinderte Konsum und das daraus resultierende Wachstum nützten auch den Ärmsten – eine bis heute zu hörende Legitimierung neoliberalen Wirtschaftens. Dass „Freiheit“ aber auch etwas mit sicheren Beschäftigungsverhältnissen, Foto: iStock/ nzphotonz Freiheit als Fetisch Es gibt eine Menge von Verboten, die die Gesellschaft organisieren – im Straßenverkehr ebenso wie im Zivil- und Strafrecht. Warum nicht auch bei einem so wichtigen Gut wie der Ökosphäre? gerechten Löhnen, betrieblicher Mitbestimmung usw. zu tun hat, kommt in diesem Denken nicht vor. Gewerkschaften seien lediglich ein Wettbewerbshindernis. Hier setzt auch die Kritik dieses Weltund Menschenbildes an – zum Beispiel beim Soziologen und Psychoanalytiker Zygmunt Baumann: Moderne Unwägbarkeiten, der Verlust von Sicherheit, der sich durch alle Lebensbereiche bis in die Politik zieht, die wachsende Schere zwischen Arm und Reich usw. rufen massive soziale Verwerfungen und Orientierungsprobleme hervor, die das Bild der Konsumentensouveränität, so es denn jemals real war, obsolet werden lassen. Die „freien“ Konsument(inn)en seien mittlerweile unfreie Getriebene, die ihre Unsicherheit durch Konsum zu kompensieren trachten. Konsumentscheidungen werden nun, was sie nicht unbedenklicher macht, verstärkt zum Finden von Einzigartigkeit genützt. Es geht um einen „affektgeladenen Geltungskonsum“. Dadurch werden Vernunft-Entscheidungen – etwa sich zu mäßigen – für viele zur Zumutung. Nun ist bemerkenswert, mit welcher Einäugigkeit bedeutende Wirtschaftswissenschaftler an dieses Problem herangingen: Als ob es keine Dialektik zwischen Angebot und Nachfrage gäbe, keine manipulative Ausbeutung narzisstischer Bedürfnisse usw. – nein: Der Markt ist gut und weise. Beim Ökonomen Milton Friedman etwa (der auch Reagan-Berater war) geht das so weit, dass er dergestalt Umweltverschmutzung bagatellisiert, sowie auch die Nachfrage nach schädlichen Dingen zur „Freiheit“ zählt, über Risiken selbst entscheiden zu können. Staatliche Intervention hingegen rückt Friedman in die Nähe sozialistischer Planwirtschaft – auch das kennen wir bis heute herauf, ebenso wie die Verachtung von Intellektuellen und Wissenschafter(inne)n, die vor einem Weitermachen wie bisher warnen. Freiwillig Tempo 100? Zieht man nun die starke Verdrängungsneigung gegenüber solchen Gefahren mit ins Kalkül, werden wir aus psychologischer Sicht neben gut gemeinten Verzichtsund Freiwilligkeitsappellen (wie Tempo 100!) an Verboten nicht vorbeikommen. Warum auch? Wir haben eine ganze Menge von Verboten, die die Gesellschaft organisieren und die Einzelnen schützen: Man denke nur an den Straßenverkehr, das Zivilrecht und erst recht das Strafrecht, wo Zuwiderhandeln jeweils sanktioniert wird. Warum also nicht auch bei einem so wichtigen Gut wie der Ökosphäre und dem Schutz aller Menschen, besonders der sozial und ökonomisch Schwächeren? Die Politik des Unterlassens aktueller Regierungen stellt so gesehen einen Erfolg des Neoliberalismus auf allen Ebenen dar. Zugleich verunmöglicht eine zumindest latente „staatsfeindliche“ Haltung jedes „Wir“-Gefühl und den Sinn für gemeinsame Betroffenheit. Die sich selbst genügenden Individuen wollen nur ungestört von Vorschriften und Verboten ihre Präferenzen leben und niemandem gegenüber moralisch verantwortlich sein (also „verantwortungslos“?). Folglich wird „gute“ Politik eben zur Politik des Unterlassens von Steuerungsmaßnahmen. Zusätzlich legitimiert das Schielen auf Wahlergebnisse diese Untätigkeit – wo sachlich gesehen eine aktive Politik für schnelle Lösungen vonnöten wäre. Der Autor ist Bildungswissenschafter, Psychoanalytiker und Psychotherapeut in Innsbruck. Nächste Woche im Fokus: Am 9. August jährt sich die Hinrichtung von Franz Jägerstätter zum 80. Mal. Die mit dem Leben bezahlte Weigerung des Innviertler Bauern, aus christlicher Überzeugung an Hitlers Krieg teilzunehmen, hat auch das Verständnis von Martyrium verändert.
DIE FURCHE · 30 27. Juli 2023 International 5 Der Verantwortung Das Abkommen zwischen der Europäischen Union und Tunesien zeigt auf, wie kurz der Weg zwischen Realpolitik und Barbarei sein kann. Was man in Brüssel – aus Mangel an „demokratischen Alternativen“ – in Kauf zu nehmen bereit ist. entledigt Von Tobias Müller Demonstrative Zufriedenheit: So kann man die Reaktionen der drei EU-Vertreter zusammenfassen, die Mitte Juli mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied eine Absichtserklärung über eine „umfassende strategische Partnerschaft“ unterzeichneten. „Wir haben geliefert“, befand EU-Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen in Tunis. Giorgia Meloni, die italienische Ministerpräsidentin, bilanzierte: „Nach viel diplomatischer Arbeit haben wir ein sehr wichtiges Ziel erreicht.“ Ihr scheidender niederländischer Amtskollege Mark Rutte sprach von einem „Meilenstein“. Enthalten sind Bereiche wie nachhaltige Landwirtschaft, erneuerbare Energie, Wassermanagement, die Teilnahme tunesischer Studenten am Erasmus-Austausch oder Auszubildender an Lernprogrammen in Europa. Im Kern aber steht zweifellos ein simpler Deal: Das wirtschaftlich schwer angeschlagene Maghreb-Land, Abfahrtsort der meisten Bootsmigranten in Richtung EU, soll ebenjene zurückhalten und erhält dafür aus Brüssel insgesamt rund eine Milliarde Euro. Allein 105 Millionen sollen in Grenzsicherung, Such- und Rettungsaktionen und Rückführung von Migranten in ihre Herkunftsländer fließen – dreimal mehr als bislang. Foto: imago / zuma Wire Die Reform als Prestige-Projekt Über das Abkommen wurde in identischer personeller Besetzung bereits im Juni verhandelt. Es soll ein Kernstück der neuen EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik darstellen. Die nach der Corona-Pandemie stark gestiegenen Ankunftszahlen dienen jenen als Beleg, die vor einem „neuen 2015“ warnen. Im Fokus ist vor allem Italien, das im Frühjahr wegen der Migrantenboote an seinen südlichen Küsten den Notstand ausrief. Laut UNHCR wurden dort bis zum Wochenende über 84.000 Geflüchtete registriert – 80 Prozent der Gesamt-Zahlen von 2022. In vielen Mitgliedsstaaten fordern daher entweder Regierung oder die öffentliche Meinung die Überfahrten drastisch einzuschränken. Die Bootskatastrophen mit vielen tödlichen Opfern – etwa im Februar vor dem italienischen Steccato di Cutro oder zuletzt im Juni nahe der griechischen Hafenstadt Pylos – verstärken den Druck. Strengere Grenzsicherung soll die lebensgefährlichen Bootspassagen verhindern und den Menschenschmugglern, die sie organisieren, das Wasser abgraben: Diese Logik bekräftigten auch Von der Leyen, Meloni und Rutte. Wie die Erfahrung der letzten Jahre lehrt, ist der Effekt eher gegenteilig. Fakt ist aber auch, dass die nationalen Regierungen so wortgewaltig wie tatkräftig ihren Einsatz gegen die klandestine Migration zeigen wollen. Für die EU-Kommission hingegen wäre die lange erwartete Reform der gemeinsamen Asylpolitik vor den Europawahlen im Mai ein Prestige-Erfolg. Zugleich steht sie intern unter starkem Druck von Mitgliedsstaaten wie Polen und Ungarn, die am liebsten keinerlei Migranten aufnehmen wollen und damit den zweiten Pfeiler der Reform – eine geregelte interne Verteilung der Asylbewerber – hinauszögern. Je weniger Migranten, desto kontrollierbarer ist die Sprengkraft der Totalverweigerung Budapests und Warschaus. Ob Von der Leyen nach der Unterzeichnung etwas bedröppelt in die Kameras blickte, liegt im Auge der Betrachtenden. Jedenfalls stellte die Präsidentin nicht das Strahlen einer Meloni oder eines Rutte zur Schau, die sich Anfang des Jahres zu ihrer gemeinsamen Mission der Flüchtlingsabwehr zusammenfanden. Trotz unterschiedlicher geografischer Voraussetzungen – Italien ist das Ankunftsland schlechthin, die Niederlande ein Zielland – eint beide der immigrationsfeindliche Diskurs in weiten Teilen der Bevölkerung. Krude Hetzrede über „Horden“ Im Gegensatz dazu steht die Besorgnis von Volker Türk, des Hohen Kommissars für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen. Kurz nachdem das Abkommen in Tunis geschlossen wurde, mahnte der österreichische Jurist im Ö1-Morgenjournal, den Aspekt der Menschlichkeit in die Debatte um Migration und Asyl zurückzubringen und beim Tunesien-Deal die Folgen auf dem Gebiet der Menschenrechte zu beachten. Türk bezog sich auf den zweifelhaften Ruf des Maghreb-Lands, das von Menschenrechtsorganisationen stark kritisiert wird. Zugleich erhob er schwere Vorwürfe in Richtung europäischer Gesellschaften: Die Diskussion zu Asyl und Migration sei „so polarisiert und voll mit Emotionen geladen“, dass dies zu Lasten einer „vernünftigen Auseinandersetzung“ gehe. Angesichts der „komplexen Materie“ gelte es etwa zu sehen, dass kriminelle Schlepper-Netzwerke Menschen ausbeuten, aber auch, dass es „zu wenig legale Einreisemöglichkeiten“ gebe. Türk kündigte daher an, er wolle Tunesien einen Besuch abstatten. Dazu bietet das Land reichlich Anlass. Präsident Saied, der 2021 das Parlament suspendierte und es letztes Jahr auflöste, befindet sich gemäß der Wiener Zeitung „auf dem Weg zum Diktator“. Laut The Guardian hat er am Ursprungsort des arabischen Frühlings „eine giftige Diktatur“ aufgebaut, laut Al Jazeera „nicht nur eine Diktatur, sondern auch einen gescheiterten Staat“. Le Monde zu Folge „ersetzt er demokratische Transition mit einer Restauration der Diktatur“. All Lesen Sie hierzu auch den Text „Die Rutte- Dämmerung“, ebenfalls von Tobias Müller, (12.7.2023) auf furche.at. „ Saied ist berüchtigt dafür, den im Maghreb verbreiteten Rassismus gegenüber dunkelhäutigen Migranten anzufachen. “ Entwertet, diffamiert Dunkelhäutige Geflüchtete aus den südlich der Sahara gelegenen Teilen Afrikas haben in Tunesien einen besonders schweren Stand. Tunesiens Machthaber spricht diesbezüglich von einem „kriminellen Plan“ der seit Anfang des Jahrhunderts in Wirkung sei, um die arabisch-islamische Identität des Landes auszulöschen. diese Beschreibungen stammen aus dem letzten Jahr. Besonders berüchtigt ist Saied dafür, den in maghrebinischen Ländern verbreiteten Rassismus gegenüber dunkelhäutigen Migranten aus den südlich der Sahara gelegenen Teilen Afrikas anzufachen. Im Februar raunte er gegenüber dem Nationalen Sicherheitsrat von einem „kriminellen Plan“, der seit Anfang des Jahrhunderts in Wirkung sei, um die arabisch-islamische Identität Tunesiens aufzulösen und stattdessen eine „Besetzung durch irreguläre sub-saharische Migranten“ zu ermöglichen. Die krude Hetzrede Saieds, der vor „Horden“ auf dem Weg nach Tunesien befindlicher „illegaler Migranten“ warnte, ist eine maghrebinische Variante des unter Komplottdenkern, Identitären und White Supremacy-Rassisten populären Motivs eines „Bevölkerungsaustauschs“. Vor wenigen Tagen erst ließ Viktor Orbán eine ähnliche Tirade vom Stapel: „Die EU verwirft das christliche Erbe und organisiert Bevölkerungsaustausch durch Migration“, so der ungarische Premier am Samstag bei einer Veranstaltung im siebenbürgischen Băile Tușnad. Die Parallelen erschöpfen sich FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE
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