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DIE FURCHE 27.07.2023

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DIE

DIE FURCHE · 30 18 Film 27. Juli 2023 MELODRAM Penélope Cruz als unerfüllte Ehefrau und Mutter Clara im Rom der 1970er. Mutter-Tochter/ Sohn-Beziehung Emanuele Crialese wurde mit Filmen wie „Lampedusa“ (2002) dafür bekannt, einen genauen Blick auf gesellschaftliche Verstrickungen in der italienischen Gesellschaft für die Grundlage eines Filmplots zu machen. Das versucht er auch in „L‘Immensità – Meine fantastische Mutter“. In seinem neuen Spielfilm richtet Crialese aber das Augenmerk auf eine römische Familie in den 1970er Jahren: Die Borghettis sind gerade in eine schicke Wohngegend gezogen, was aber nicht bedeutet, dass ihre Mitglieder besonders glücklich sind. Allen voran ist Mutter Clara in ihrer Ehe unter dem Familientyrannen Felice gefangen, auch den drei Sprösslingen scheint keine unbeschwerte Kindheit vergönnt. Insbesondere ihre älteste Tochter Adriana kommt mit der Situation – und ihrem Geschlecht – nicht zu Rande: Die Zwölfjährige beginnt, ein Bub zu sein, sogar den Namen Adri legt sie sich zu. Die Leichtfüßigkeit von Clara passt dem Gespons ebenso wenig wie Adris Genderfluidität . Crialese erzählt ergreifende Geschichten, es gelingt ihm aber nicht, sie nachhaltig zu verankern. „L‘Immensità“ lebt vor allem von der Darstellung der Clara durch Penélope Cruz sowie durch das Spiel von Luana Giuliani in der Rolle der/des Adri. In diesen beiden Performances blitzt auf, wie eine ebenso brüchige wie innige Mutter-Tochter-Beziehung einen Film zu berühren sucht. Wie gesagt, bleibt aber doch zu wenig Zeit, um das auch emotional durchzubuchstabieren. Trotz Penélope Cruz bleibt da der Nachgeschmack, dass hier mehr möglich war, als Crialese zeigt. (Otto Friedrich) L‘Immensità – Meine fantastische Mutter (L‘Immensità) I 2022. Regie: Emanuele Crialese. Mit Penélope Cruz. Lunafilm. 139 Min. Was die Gebrüder Philippou schon im Internet an Versatzstücken des Grauens zeigten, probieren sie nun in „Talk to Me“ fürs Kino aus. YouTube goes Film Von Thomas Taborsky So weit es sich auch vom Alltagsleben entfernen mag, so sehr braucht das Horrorgenre die Realität, um seine Wirkmacht entfalten zu können. Den fern vertrauten, durch die Zombie-Apokalypse umgekrempelten Anblick des Einkaufszentrums aus „Dawn of the Dead“ etwa. Die Liebe zum Kind, das im eigenen Bauch wächst und in der Home-Invasion „Inside“ vor der anderen Frau beschützt werden muss. Den nicht verarbeiteten Tod eines Liebsten im Ritualschocker „Midsommar“ oder in „Babadook“. Bei letzterer, einer gepflegt-schaurigen australischen Produktion, sammelten vor einem Jahrzehnt die Brüder Danny und Michael Philippou erste Erfahrungen an einem Set. Mit „Talk to Me“ legen sie nun selbst ihr Regiedebüt vor – und bedienen sich einer nicht unähnlichen Situation: Zwei Jahre ist es her, dass Mia (Sophie Wilde) ihre Mutter beerdigen musste. Ihrem Vater geht sie seither aus dem Weg. Stattdessen verbringt sie die meiste Zeit bei ihrer besten Freundin Jade und deren Familie. Als Schulkollegen seltsame Videos posten, in denen Leute in Trance sind, wollen Mia und Jade wissen, was dahintersteckt. Sie werden zu einer Séance eingeladen, bei der die Jugendlichen mit Hilfe einer Handskulptur Tote beschwören – ein Nervenkitzel zuerst, doch spätestens dann blutiger Ernst, als sich Mias Mutter von der anderen Seite meldet und die Geister nicht mehr zurück in ihre Flasche wollen. Nicht nur das Trauma eines Verlusts und die Bindungen zur Ersatzfamilie samt kleinem „Bruder“, der in Gefahr schwebt, lassen die Philippous auf der realen Seite für sich arbeiten. Sie legen eine ganze jugendliche Lebenswelt an, dazu deren Spannungsfeld von Mutproben bis zur latenten Eifersucht zwischen Freundin und Ex-Freundin, und befeuern es durch perfide Wortspenden aus dem Jenseits. Hoch ist die Nachempfindbarkeit, und damit auch der Horror im eigenen Kopf. Beim Übernatürlichen wiederum greifen sie auf ein im Genre beliebtes Motiv zurück: die Hand ohne Körper. Die Kinogeschichte kennt reichlich Exemplare davon – sei es das eiskalte Händchen aus der „Addams Family“, die amputierte, mörderische aus „Die Hand“, die weder Oliver Stone noch Michael Caine die Karriere kostete, oder auch die Hand eines toten Pianisten, die Peter Lorre in „Die Bestie mit den fünf Fingern“ das Fürchten lehrte. Bei ihrer Version davon spielen die Philippous geschickt mit dem Grusel des okkulten Gegenstands, dem Zögern vorm Zugreifen und der unendlichen Schwierigkeit, sich loszureißen. Vorbild „RackaRacka“ Symbol Hand Mit und ohne Body spielt der Körperteil eine entscheidende Rolle im Mystery- Horrorthriller „Talk to Me“ Dass sie Versatzstücke, Timing und Schockmomente beherrschen, zeigten die Gebrüder schon auf ihrem YouTube-Kanal „RackaRacka“, dessen Action-Comedy-Horror-Videos insgesamt 1,5 Milliarden Mal abgerufen wurden. In ihrem Kinodebüt fehlt davon nur die launige Mischung; ein kleiner Rest findet sich in der Rolle von Miranda Otto („Der Herr der Ringe“) als meist einzige Erwachsene und zugleich Unverblümteste im Raum. „Talk to Me“ ist auch zu sehr geradliniger Mystery-Psychohorror, als dass er sich große Ausflüge in andere Fächer leisten könnte. Das mag Fans enttäuschen, die sich mehr Subversivität gewünscht hätten, ihnen bleiben aber immer noch Alternativen wie die durchgeknallten Werke von Tyler Cornack und Ryan Koch, ebenfalls YouTube-Absolventen. War es vor 30 Jahren das Musikvideo, dessen Talente ins Kino aufstiegen, so ist heute die Migration aus den Onlineformaten in vollem Gange. Was zwei Schlüsse zulässt: 1. Sie bringen gute, frische Ideen mit und 2. Kino ist immer noch die Königsklasse. Talk to Me AUS 2022. Regie: Danny Philippou, Michael Philippou. Mit Sophie Wilde, Alexandra Jensen. Polyfilm. 94 Min. FILMBIOGRAFIE Hommage an einen Phantasten Der im Südosten Frankreichs gelegene „Palais idéal“ ist heute eine Touristenattraktion, die jährlich von über hunderttausend Menschen besucht wird. Zu Lebzeiten galt aber der Postbote Joseph Ferdinand Cheval (1836– 1924), der dieses Bauwerk in jahrzehntelanger Handarbeit schuf, als verrückt. Nils Tavernier fokussiert in seinem rund 50 Jahre umspannenden Biopic „Der Palast des Postboten“, in das Zeitumstände wie die Dreyfus-Affäre oder der Erste Weltkrieg nur am Rande einfließen, ganz auf seinem Protagonisten. Er setzt diesem Phantasten ein großes und bewegendes Denkmal und feiert sein bedingungsloses Festhalten an seinem Traum. Großartig spielt Jacques Gamblin Cheval als einen Mann, der nicht in der Lage ist, seine Gefühle zu zeigen, im Innersten aber doch intensiv fühlt. Keine Träne mag ihm da beim Begräbnis seiner ersten Frau kommen, aber sein ganzer Schmerz wird spürbar, wenn er sich nach dem Tod seiner Tochter verzweifelt in einen Fluss stürzt. Wenig scheint er auch für seine von Laetitia Casta gespielte zweite Frau zu empfinden, doch spürbar wird bei einem letzten Gespräch, wie dankbar er ihr ist und wie innig er sie liebt. So erzählt Tavernier in dem stimmig ausgestatteten Film auch bewegend eine Familiengeschichte und bietet in den weiten Wegen Chevals, der in 30 Dienstjahren zu Fuß fünfmal die Erde umrundete, ohne je seine Region verlassen zu haben, mit beeindruckenden Totalen der prächtigen Landschaft und den sich ändernden Jahreszeiten auch einen visuellen Genuss. (Walter Gasperi) Der Palast des Postboten (L’incroyable histoire du facteur Cheval) F 2018. Regie: Nils Tavernier. Mit Jacques Gamblin. Polyfilm. 105 Min. Jacques Gamblin (li.) spielt in Nils Taverniers Film den Postboten Cheval. FILMKOMÖDIE Operngesang statt Finanzwelt MEDIEN IN DER KRISE Ein für ein vormachen Ben Lewin schickt in der Komödie „Verrückt nach Figaro“ eine erfolgreiche britische Fondsmanagerin (Danielle MacDonald), die von einer Karriere als Opernsängerin träumt, zum Gesangsunterricht in die schottischen Highlands. Dort muss sich die junge Frau nicht nur mit einer schroffen Ex-Operndiva (Joanna Lumley), unter deren rauer Schale sich ein wohlwollender Kern verbirgt, und einem zunächst mürrischen Pub-Besitzer (Gary Lewis) auseinandersetzen, sondern trifft im Amateur-Sänger Max (Hugh Skinner) auch auf einen Konkurrenten bei dem bevorstehenden TV-Talentwettbewerb. Vieles ist hier vorhersehbar, doch geschickt hält Lewin mit Montagesequenzen, die die Handlung raffen, das Tempo hoch, und spielt gekonnt mit dem Kontrast von steriler Londoner Finanzwelt und dem in erdige und warme Farben getauchten ländlichen Schottland. Dazu kommen ein blendend harmonierendes Ensemble, markante Figurenzeichnung und nicht zuletzt die im Kino selten so präsente Opernmusik, die dafür sorgen, dass dieses Feelgood-Movie beträchtliches Vergnügen bereitet und im Idealfall Lust auf Oper weckt. (Walter Gasperi) Verrückt nach Figaro (Falling for Figaro) AUS/GB 2020. Regie: Ben Lewin. Mit Danielle MacDonald, Hugh Skinner, Joanna Lumley, Gary Lewis. Filmladen. 105 Min. Lieber Elon Musk, was wäre die Welt, ohne den täglichen Wahnsinn, mit dem du uns Twitter-User tagtäglich beglückst? Wir wissen ja, dass einer wie du eine Spielwiese braucht, in der er sein unternehmerisches Hire-and-fire (vornehmlich: Fire) ausleben kann. Wenn jemand den Titel für ein „Wie ruiniere ich eine globale Community“ verdient, dann gewiss du. Unsereiner weiß ja gar nicht mehr, ob er, weil er keinen bezahlten Twitter-Account hat, noch ungestört tweeten darf. Und jetzt willst du uns dein X für den guten alten Zwitscherer vormachen! Erstaunlich, dass die Community bislang unverdrossen weitertwittert, die Alternative Mastodon hat sich (noch) nicht so bewährt. Aber wer weiß, ob Mark Zuckerbergs Angriff via Thread, welches es gewiss auch in Europa bald geben wird, das gute alte Twitter, äh: X nicht bald obsolet machen wird? Wundern würde es uns nicht. (Otto Friedrich)

DIE FURCHE · 30 27. Juli 2023 Literatur 19 In ihrem neuen Lyrikband „Weggehen für Anfänger“ thematisiert die Lyrikerin Cvetka Lipuš das Abschiednehmen und Wiederankommen, eine fragile Existenz in einer zunehmend zerrütteten Welt. Sie reiht sich damit einmal mehr in die österreichisch-slowenische Literatur ein. Poetische Anleitung zum Abschied Von Gerhard Moser ist das, / dass sich manche um uns still verabschieden, / in die Stille treten, / sich selbst aus „Was dem Leben nehmen, / dass die Nähte reißen, / die uns verbinden.“ So hebt das wohl berührendste Gedicht in Cvetka Lipuš neuem Gedichtband „Weggehen für Anfänger“ an. „Für Fabjan“ lautet die Widmung dieses Epitaphs, dieser Elegie. Gemeint ist der im Jahr 2016 viel zu früh verstorbene Lyriker, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Fabjan Hafner. Ein herausragender Vertreter dessen, was man gemeinhin die kärntnerisch-slowenische Literatur nennt, ein Generationskollege von Cvetka Lipuš ebenso wie von Maja Haderlap, einer Lyrikerin, die erst als Erzählerin mit ihrem stark autobiografisch geprägten Roman „Engel des Vergessens“ (2011) die ihr zustehende und weit über die Landesgrenzen hinausreichende Anerkennung gefunden hat. Lyrik in zwei Sprachen Geradezu prototypisch stehen diese drei für eine – nach Florjan Lipuš, Janko Messner und Gustav Januš – herangewachsene Generation der kärntnerisch-slowenischen Literatur, der formbewusste Könnerschaft und Stilistik zumindest ebenso wichtig ist wie Identitätssuche und -bestimmung als Angehörige einer österreichischen Volksgruppe und Minderheit (Koroški Slovenci), die von nationalsozialistischer Vertreibung und Vernichtung bis hin zu deutschnationaler Unterdrückung und mehr zwanghafter als freiwilliger Assimilation alles Erdenkliche durchgemacht hat. Prototypisch, aber auch verschieden. Denn während Maja Haderlap ihren Roman in deutscher Sprache verfasst hat, dichtet Cvetka Lipuš seit Jahrzehnten konsequent in slowenischer Sprache. Umso erfreulicher ist die Tatsache, dass ihr neuer Lyrikband in einer zweisprachigen Ausgabe erschienen ist. Klaus Detlef Olof hat die slowenischen Gedichte ebenso einfühlsam wie meisterhaft ins Deutsche übertragen. Gedichte, die – wie es schon der Titel „Weggehen für Anfänger“ verrät – vom Abschied nehmen, vom Reisen in fremde Länder und ins eigene Ich, aber auch vom Wiederankommen, von einer fragilen Existenz in einer zunehmend zerrütteten Welt handeln. Mit poetischen Landvermessungen einer Globetrotterin und feinziselierten Introspektionen hat man es hier ZUM BILD AUF SEITE 20 Österreich als Ölfleck seines Verbrauchs zu tun. Grandiose Sprachbilder und Metaphern finden sich in diesem nach Kapiteln geordneten Band. Da wird „die Sonne an den Horizont“ genagelt, da werden „Ängste verspielt“ „wie Fohlen vor dem Sturm“, „die Landschaft“ wird „wie ein Buch“ aufgeschlagen, den „Städten und Dörfern, die sich in dir / breitgemacht haben“ kehrt die Autorin den Rücken zu, denn „mit dem Heimweh sind wir längst fertig. / Wir haben der Ewigkeit abgesagt. / Die Ewigkeit ist mit uns / schon längst fertig.“ Seit 1. Mai sind alternierend rund sechs Monate lang am Wienfluss, auf der Stubenbrücke, an zahlreichen Orten im Stadtraum Wiens, in virtuellen Ausstellungsräumen online und in medialen Räumen von Zeitungen und Magazinen die Flaggen von insgesamt 26 internationalen Künstlern und Künstlerinnen sichtbar. DIE FURCHE begleitet „raising flags“, das Projekt von „museum in progress“, kuratiert von Alois Herrmann und Kaspar Mühlemann Hartl, indem sie ausgewählte Fahnen abdruckt. Auf Seite 20 findet sich „Petro National #79 (Austria)“ von John Gerrard. Der Künstler stellt in „Petro National“ 196 Nationen als Ölflecken auf den Weltmeeren dar. Er hat einen speziellen Algorithmus entwickelt, der das Phänomen der prismatischen Lichtreflexe durch die Simulation von Millionen von Lichtstrahlen in eine neuartige konzeptuelle oszillierende Sprache übersetzt. In „Petro National“ spiegelt jedes Land seinen jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch an Erdöl innerhalb seiner Grenzen wider. Länder mit niedrigem Verbrauch werden durch dünne transparente, zum blaugrünen Spektrum tendierende Ölflächen präsentiert, während Länder mit hohem Verbrauch dicke, glänzende und stark schillernde Formen aufweisen. Weitere Informationen: raisingflags.mip.at Präzise und stimmig Frei und ungebunden, assoziativ bis hermetisch präsentieren sich diese Gedichte. Was aber auch nicht verschwiegen werden soll, ist der Umstand, dass der Metaphernreichtum gelegentliche Stilblüten hervorbringt, etwa jene vom „Meteor“, der „durch den interplanetaren Raum“ reist oder die vom „Fanatiker in mir“, der „zu einem Cocktail“ bittet, „damit sie mir keine Molotows / einladen“. Aber das sind seltene, vereinzelte Ausrutscher in einem sprachlich präzisen (soweit man es anhand der Übersetzung ins Deutsche beurteilen kann), durchgehend stimmigen Gedichtband. Neben aller Weltläufigkeit findet Cvetka Lipuš hier auch an die Orte ihrer Herkunft, in die eigene Geschichte und in die Gegenwart der Kärntner Slowenen zurück, auch wenn sie – wie einmal von ihr betont – „kein Sprachrohr der Volksgruppe“ sein will. Das beinahe zum Poem herangereifte Gedicht „Aufeinanderfolge“ ist – ähnlich „ Neben aller Weltläufigkeit findet Cvetka Lipuš hier auch an die Orte ihrer Herkunft, in die eigene Geschichte und in die Gegenwart der Kärntner Slowenen zurück. “ FEDERSPIEL Cvetka Lipuš Mit Liebe und Dampf Von den mehr als 80 Stücken Johann Nepomuk Nestroys findet sich keines in den aktuellen Spielplänen der großen Wiener Theater. Warum? Vielleicht weil man diesen Giganten der Posse, um ihn zeitgemäß zu interpretieren, erst einmal verstehen muss. Zum Glück jedoch gibt es die Nestroy-Spiele in Schwechat, die sich der edlen Aufgabe unterwinden, auch die kaum bekannten Lustspiele des Dichters auf die Bühne zu bringen. Die ersten 50 Jahre war Peter Gruber im Schloss Rothmühle dafür zuständig, nach der Jubiläumsinszenierung von „Nur Ruhe!“ im Vorjahr hatte heuer sein Nachfolger Christian Graf seinen Einstand mit „Eisenbahnheiraten oder: Wien, Neustadt, Brünn“. Die politisch unauffällige Rarität aus der Eisenbahnurzeit 1843 (nach einer Vaudeville-Vorlage) gehört gewiss nicht zu Nestroys stärksten Stücken, aber die gemischte Laien- und Profitruppe macht das mit Hilfe eines Chris-Lohner-Doubles in die 1980er verlegte Verwechslungs- und Verwirrspiel zu einer sehr lustigen Angelegenheit – und Nestroy bleibt doch immer Nestroy: „Den Mann hab ich auf den Foto: Marko Lipuš 1966 in Bad Eisenkappel geboren, verfasst die Lyrikerin ihre Werke ausschließlich in slowenischer Sprache. wie der eingangs erwähnte Abschied von Fabjan Hafner – Elegie und Bestandsaufnahme in einem. Von „Geschichten, die wir uns immer wieder neu erzählen“ ist hier die Rede und von einer „Gedenkzählung“ – wohl eine Anspielung auf die höchst umstrittene und teilweise boykottierte Volkszählung des Jahres 1976 und angedrohter „Minderheitenfeststellungen“ in Sachen zweisprachiger Ortstafeln. „Die Zeit kommt zu Fuß“, heißt es in diesem Gedicht, „sie setzt sich dem Haus auf die Hüften. / Drinnen ordnen wir die Vorfahren nach neuem Muster. / Wer an den Glanz gerührt hat, wer ins Alter gelatscht ist, und / wer sich ausgezählt hat.“ Auch eine Art des Abschiednehmens, eines „Weggehen für Anfänger“, wie Cvetka Lipuš ihren Gedichtband betitelt hat. Oder, wie der bekannte slowenische Schriftsteller Drago Jančar in seinem knappen Vorwort zum Buch schreibt: „Unter den Fragmenten der Welt, unter den Bruchstücken des Alltagslebens, unter den geistreichen Denkfiguren und dem unaufhörlichen Aufblitzen der Ironie, unter dem eleganten Spiel der Metaphern liegt eine seltsame, einsame Stimmung des Vergehens, ein schwindelerregender Abgrund, eine dunkle Melancholie. Hinter dem heiteren Lächeln eine Spur Bitterkeit.“ Dem ist kaum etwas hinzuzufügen, außer ein kurzes Zitat aus dem den Band abschließenden Gedicht mit dem Titel „Das Zeichen“: „Zwischen den Buchdeckeln graben sich / die Buchstaben zu ihren Nachbarn durch / zum Dorf, zum Ort, wo / Helden geboren werden – / sie werden bis zur letzten Seite kämpfen.“ Und das ist gut so. ersten Blick ausstudiert, dem geb ich Kagran für Saragossa aus“, bemerkt der Zimmermaler Patzmann, quasi der Fahrdienstleiter der Komödienhandlung, über den Hinterwäldler Stimmstock aus Krems – wunderbar tölpelhaft: Rafael Schuchter – und gibt ihm sein Fahrziel Wiener Neustadt für Brünn aus. Er selbst ist unerschrocken: „Ich betret’ das gefährliche Ehstandsgebiet mit dem gewissen glückerzeugten ’s Kannmirnixg’schehngefühl, welches allein der Gefahr das Gefährliche benehmen kann.“ Der pfiffige Hauptdarsteller Markus Weitschacher hat tatkräftige Unterstützung: etwa Bella Rössler als köstlich böhmakelnder Bäcker-Onkel, Stefan Rosenthal als irrwitzig verliebter Bäckergesell, Mario Santi als übervorteilter Biedermann mit beredter Mimik. Beherzigenswertes Fazit: „Mit Liebe und Dampf geht alles.“ Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin. Weggehen für Anfänger Gedichte von Cvetka Lipuš Otto Müller 2023 148 S., geb., € 23,– Von Daniela Strigl

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