DIE FURCHE · 30 14 Diskurs 27. Juli 2023 Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. ERKLÄR MIR DEINE WELT Die Rolle von Schönheit Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast „ Barbies waren meine Lieblingsspielzeuge. Nicht wegen der schrillen Outfits, die ich sehr geliebt habe, sondern wegen der Storys, die ich mir überlegte. “ Haben Sie sich schon den neuen Barbie-Film angeschaut? Ich finde es interessant, nun bin ich in dem Alter und in der Generation, deren Kindheit als „retro“ gilt. Ehrlich gesagt habe ich schon Vorurteile diesem Werk gegenüber. Angeblich soll der Film feministisch sein, vielleicht bin ich also nur zu konservativ? Barbies waren nämlich eigentlich meine Lieblingsspielzeuge. Nicht wegen der schrillen Outfits, die ich sehr geliebt habe, sondern wegen der Storys, die ich mir überlegte. Mein Barbie-Haus war die billige Version vom Discounter aus Pappe, dafür hatte ich sogar ein Barbie Wohnmobil. Zu Ostern habe ich es geschenkt bekommen, ich meine, acht Jahre alt gewesen zu sein. Meine Lieblings-Barbie hatte haselnussbraune Locken, mit Ken wusste ich nie so recht zu spielen. In meinen Aufführungen im Wohnzimmer fehlte der richtige Charakter für ihn. Deshalb habe ich die Puppe eher als Requisit in der Inszenierung „Steinzeit Johanna“ als Hähnchen-Alternative für mein Lagerfeuer verwendet. Und nein, Männerhass war nicht der Grund für die Zweckentfremdung. Also gut, genug von meinen Erinnerungen. So etwas Sinnvolles wie Löcher Stopfen kann ich leider (noch) nicht. Aber ich versuche mich seit dieser Woche im Häkeln. Welche Funktion mein Erstlingswollwerk haben wird, weiß ich noch nicht, aber die Bewegungsabläufe machen Spaß und sie lenken mich vom Handy ab. Und jetzt zu ihrer Anmerkung auf das Buch „Herzzeit“. Ohja! Ich habe von der FURCHE in den Briefen zwischen Celan und Bachmann gelesen und musste schmunzeln. Auf Ihr Anraten habe ich mich wirklich bemüht. Ich habe „Brandmal“, „Die Krüge“ und „Mandorla“ gelesen – und abgesehen davon, dass mich die Worte schwermütig machen, habe ich das Gefühl, das Wesentliche nicht zu verstehen. In mir kommt der Wunsch nach mehr Kontext auf. Wenn ich also ein Gedichte lese, fühlt es sich manchmal an wie Rätselraten. Soll das so sein? Beim „Ageism“ erwischt Momentan lese ich andere Dinge. Für einen Radiobeitrag beschäftige ich mich mit dem Altern und der Rolle von Schönheit. Deshalb war ich diese Woche in einem Wohnheim für Seniorinnen und habe die sogenannten „Faltenrockerinnen“ kennengelernt. Der Name bezieht sich auf den Podcast, den sie wöchentlich veröffentlichen – „Faltenrock FM“. Die Frauen und Männer haben engagiert mit mir über Schönheitsideale in ihrer Jugend, Soziale Medien und ihre momentanen Schönheitserwartungen an sich selbst gesprochen. Interessant fand ich und da habe ich mich wohl selbst beim „Ageism“, also der Altersdiskriminierung, erwischt, dass es so eine vielfältige Bandbreite an Zugängen gab. Ja natürlich, warum sollten ältere Menschen nicht auch diverse Meinungen vertreten, dachte ich mir im Nachhinein. Wahrscheinlich hat das mit eindimensionaler medialer Repräsentation von Personengruppen zu tun. Während also ein paar meiner Gesprächspartnerinnen argumentierten, Schönheit sei im Alter nebensächlich oder gar belanglos, äußerte sich eine Frau klar dazu, dass es ihr wichtig ist, sich hübsch zu machen, und sie es auch in Ordnung fände, dafür einen Eingriff in Kauf zu nehmen. Abseits schöner Gemälde, welche Rolle spielt Schönheit für Ihr Wohlbefinden? Von Shraga Har-Gil Im Heiligen Land sind Politik und Religion derart In FURCHE Nr. 2 miteinander verquickt, dass für viele religiöse 3800 13.Jänner 1975 Erscheinungen nur eine politische Erklärung möglich ist. Nach der Verabschiedung eines Kernelements der umstrittenen Justizreform vergangenen Montag haben in Israel wieder Zehntausende Menschen demonstriert. Mit dem neuen Gesetz ist es dem Obersten Gericht künftig nicht mehr möglich, eine Entscheidung der Regierung oder einzelner Minister als „unangemessen“ zu bewerten. Zahlreiche Experten befürchten, dass dies Korruption begünstigen könnte. „Ein ganz besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl und eine tief empfundene Verbundenheit zeichnen die israelische Gesellschaft aus“, schreibt Susanne Glass in der FURCHE Nr. 29. 2023, „eine Spaltung, die sich seit nun 29 Wochen in Massenkundgebungen manifestiert, in ‚Tagen des Widerstands‘ und Streiks gegen Langzeitpremier Benjamin Netanjahu mit seiner Regierungskoalition aus extrem-rechten, ultra-orthodoxen und Siedler- Parteien.“ Der israelisch-deutsche Journalist Shraga Har-Gil, der 2009 verstorben ist, hat sich schon 1975 mit der Frage beschäftigt, ob Israel auf dem Weg in eine Theokratie ist. Bleibt Israel eine Theokratie? Von den 13 Millionen Juden, die es auf der Welt gibt, sind maximal 20 Prozent religiös. Auch im Staat Israel ist die Zahl der orthodoxen Juden nicht größer. Um ihre religiösen Interessen vertreten zu können, bildeten die orthodoxen Juden in Israel und in der Diaspora drei Parteien, unter denen die religiösnationale Partei die weitaus wichtigste ist und auch die weitaus größte Anhängerschaft vereinen konnte. Es gibt heute im Staate Israel 2,9 Millionen Juden, die gezwungen sind, in Bezug auf Religion einen theokratischen Status zu akzeptieren, weil es für die jüdische Religion keine Trennung zwischen Staat und Kirche gibt. Da die Orthodoxie sich exklusiv mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, steht sie anderen Religionen sehr großzügig gegenüber, solange diese nicht den Versuch machen, sich in das jüdische orthodoxe Leben einzumischen. Die arabischen Christen im neugegründeten Staat Israel versuchten, eine christliche Partei zu gründen und sich Foto: APA/Keystone/STR voll zu integrieren. Doch die israelischen Regierungen verkannten diese Bestrebungen und warfen alle Araber – Moslems oder Christen – in einen Topf. Als der jüdische Staat sich allmählich mit seiner arabischen Minderheit abgefunden hatte, war es zu spät und heute sind die christlichen Araber Israels ein Teil der arabischen Minderheit und fühlen dementsprechend auch arabischnational. Kontroversen zwischen der christlichen und der jüdischen Religion entstehen nur in den ganz seltenen Fällen, in denen die Juden Missionierung vermuten. Missionstätigkeit ist in Israel zwar nicht verboten, weil aber ein orthodoxer Jude an der Spitze des Religionsministeriums steht, versucht man, sie nach Möglichkeit zu verhindern. Das religiöse Leben im Heiligen Land ist vielfältig und wer heute durch die Gassen von Ost-Jerusalem wandert, trifft diese Vielfalt auf Schritt und Tritt. Auf der einen Seite läuten die Kirchenglocken, auf der anderen Seite ruft ein mohammedanischer Muezzin die Gläubigen zum Gebet und nicht weit davon kann man Juden in einer Synagoge sehen, wie sie, in den Gebetsmantel gehüllt, monoton das Nachmittagsgebet sprechen. AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktion: Dr. Otto Friedrich (Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (Chefin vom Dienst), Jana Reininger BA MA, Victoria Schwendenwein BA, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: 01 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo: € 181,– Uniabo (Print und Digital): € 108,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. 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DIE FURCHE · 30 27. Juli 2023 Diskurs 15 Die These hält sich hartnäckig, dass Nahrungsmittelknappheit und Überbevölkerung miteinander einhergehen. Doch das ist falsch. Es gilt die globale strukturelle Ungleichheit in den Blick zu nehmen. Der westliche Lebensstil befeuert Hungersnöte 60.000 Tonnen Getreide wurden bei einem Bombardement der Hafenanlagen in Odessa zerstört – nach dem russischen Stopp des Getreideabkommens hat das Thema Hunger erneut seinen Weg in die Schlagzeilen gefunden. Wieder einmal. Schon im vergangenen Jahr hat der Angriffskrieg den Getreidepreis in die Höhe getrieben und den Welthunger befeuert. Die Zahl der Menschen, die hungern, ist von 678 Millionen im Jahr 2019 auf 828 Millionen gestiegen. Der Krieg ist nicht der einzige Hunger-Treiber. Da war die Corona-Pandemie. Und da ist die Klima-Krise, die den afrikanischen Kontinent besonders hart trifft. Seit mehreren Jahren bleibt der Regen immer häufiger aus. Wenn es regnet, dann unwetterartig. Beides zerstört die Ernte. Die Lage verschärft sich in den Sommermonaten. Die Diakonie und andere Hilfsorganisationen thematisieren dies Jahr für Jahr. Ich habe ziemlich genau vor einem für ein österreichisches Medium über die Hungerkrise in Ostafrika berichtet. Dort herrscht die schlimmste Dürre seit 40 Jahren. 82 Millionen Menschen hungerten 2022 – um 30 Millionen mehr Menschen als im Jahr davor. Ich habe auf die Gründe für Hungerkatastrophen hingewiesen und darauf, dass es mehr als genug Nahrungsmittel gibt für die acht Milliarden Menschen auf der Erde. Dass so viele Menschen hungern, liegt am ungleichen Zugang zu den Lebensmitteln. Die Reaktionen der Leserschaft waren ungewöhnlich zahlreich, und alle haben mir erklärt: Schuld am Hunger ist die Überbevölkerung in Afrika. Im Schatten von T.R. Malthus Der Mythos von der Überbevölkerung hält sich hartnäckig. Seit 225 Jahren. Er geht zurück Thomas Robert Malthus, der 1798 mit Blick auf England die These aufstellte, die Bevölkerung würde progressiv wachsen, die Nahrungsmittelproduktion hingegen nur linear. Die Folge seien Hungersnöte, die wiederum bewirkten, dass das Gleichgewicht zwischen Bevölkerung und Nahrungsmittel wiederhergestellt würde. Als Forderung leitete Malthus daraus ab, man dürfe den Armen nicht helfen und keine Sozialreformen durchführen, denn das würde das Foto: Diakonie Österreich Bevölkerungswachstum vorantreiben. Sozialhistoriker gehen davon aus, dass Malthus’ These mit ausschlaggebend dafür war, dass die britische Regierung während der große Hungersnot in den 1840-iger Jahren in Irland der Laissez-faire-Ideologie folgte und nichts unternahm. Eine Million Menschen starben. Malthus lag auf ganzer Linie falsch. Noch im 19. Jh. fanden die Hungersnöte in Europa aufgrund der Entwicklungen in der Landwirtschaft ein Ende. Wir wissen: Entwicklung führt zu höherem Lebensstandard und höherem Bildungsniveau und das wiederum zum Sinken der Reproduktionsrate. Last but not DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Maria Katharina Moser „ Auf einer Fläche, die man für 60 Kilogramm Fleisch benötigt, könnte Getreide für 420 Kilo Brot angebaut werden. “ least werden heute genug Nahrungsmittel produziert, um die acht Milliarden Menschen auf der Welt – zur Zeit von Malthus lag die Weltbevölkerung noch bei einer Milliarde – zu ernähren. Es gibt sogar einen „Überschuss“ bei der weltweiten Kalorienproduktion von 24 Prozent, das zeigt der „Dietary Energy Supply-Indikator“ der Welternährungsorganisation FAO. Expert(inn)en gehen davon aus, dass die Erde auch zehn Milliarden Menschen ernähren kann – vorausgesetzt, wir entwickeln unsere Landwirtschaft weiter in Richtung klima- und ressourcenschonende Produktion. Jeder zehnte Mensch auf dieser Welt hungert – und gleichzeitig werden jährlich 931 Millionen Tonnen Lebensmittel verschwendet, 57 Millionen davon in Europa, eine Million in Österreich. Hunger ist ein Problem globaler struktureller Ungleichheit. Zur Verteilungsproblematik gehört auch der Ressourcenverbrauch in der Lebensmittelproduktion. Am Beispiel tierischer Produkte lässt sich dies plastisch verdeutlichen: Rund 15 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen gehen auf das Konto der Nutztierhaltung. Nur 33 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche wird für den Anbau von Pflanzen für den menschlichen Verzehr genutzt, auf 67 Prozent der Fläche wird Tierfutter angebaut. Fläche, für die Wälder gerodet werden, die CO₂ binden könnten. Schuldgefühle, die ausgelöst werden Um eine Kalorie tierischer Produkte zu produzieren, müssen drei bis zehn pflanzliche Kalorien eingesetzt werden – Kalorien, die direkt zur Ernährung von Menschen dienen könnten. Soja zum Beispiel: 87 Prozent des weltweit angebauten Sojas wird an Tiere verfüttert und nur 13% zu Lebensmitteln verarbeitet. Soja und Fleisch haben eines gemeinsam: Sie sind Eiweißlieferanten. Aus der Menge Soja, die man für ein Kilogramm Rindfleisch braucht, können 14 Kilogramm Tofu hergestellt werden. Klar, nicht jeder mag Tofu. Ich persönlich esse auch ein Mal die Woche Fleisch. Aber die Vorstellung, dass wir in Österreich 60 kg Fleisch pro Kopf im Jahr verzehren, stimmt mich doch nachdenklich. Das ist in etwa mein Körpergewicht. Und wenn ich dann noch bedenke, dass auf der Fläche, die man für die Produktion dieser 60 kg Fleisch braucht, Getreide für mindestens 420 Kilo Brot angebaut werden könnte … Hunger hat eben auch mit unserem Lebensstil zu tun. Sich das vor Augen zu führen, ist, nun ja, sagen wir: nicht gerade angenehm. Löst Schuldgefühle aus. Ruft nach Umverteilung. Es ist wohl leichter, die Armen in Afrika als Problemverursacher zu sehen. Deshalb hält sich der Mythos von der Überbevölkerung als Grund für den Hunger so hartnäckig. Die Autorin ist Direktorin der Diakonie Österreich und evangelische Pfarrerin. QUINT- ESSENZ Von Brigitte Quint Die Weiße-Würfelfalle Kennen Sie dieses Spiel, bei dem jemand einen Begriff sagt, und alle anderen rufen das in die Runde, was ihnen dazu in den Kopf kommt? Mir ist leider Sinn und Zweck des Spiels entfallen. Aber egal. Ich spiele es jetzt. Mit mir selbst. Was bedeutet, dass ich für Wortwahl wie Assoziation gleichermaßen zuständig bin. Ich sage „Bürgermeister“ und mir fällt folgendes ein: „Mächtigster Mann im Ort“; „Politisch geschickt oder gewieft (sonst wäre er nicht gewählt worden)“; „Einer der weiß, wie man die Fäden ziehen muss“; „Ein Mann (jawohl ein Mann), der lauter einflussreiche Leute kennt“, „Viele Menschen, die ihm einen Gefallen tun würden“; „Sein Wohlwollen schadet nicht“. Mein Brainstorming sagt mehr über mich als über die Bürgermeister in Österreich oder meiner Heimat Bayern aus. Es gibt Aufschluss darüber, wie ich sozialisiert wurde; welche Glaubenssätze mir mitgegeben wurden. Nein, mitnichten stamme ich aus einem progressiven Elternhaus. Es galt eher die Parole: „Pass dich an, falle nicht unangenehm auf – und leg dich um Himmelswillen nicht mit dem Bürgermeister an!“ Also letzteres wurde so nicht gesagt, aber gemeint. Alfred Riedl ist ungefähr so alt wie meine Eltern. Und ich wette, er ist ebenfalls mit der Überzeugung aufgewachsen, dass der Bürgermeister unantastbar ist. Wenn man es bis zu diesem Amt geschafft hat, hat der Rest der Welt zu kuschen. Die Position ist automatisch mit Privilegien verbunden – und mit Geld. Möglichkeiten reich zu werden, gibt es genug. Riedl hat sich für weiße Würfel entschieden, die nun als „Dubai im Weinviertel“ geschmäht werden. Ich spiele mein Spiel weiter. Was fällt mir zur Causa Riedl ein? „Man lässt Bürgermeistern nicht alles durchgehen“; „Es gibt Menschen, die keine Angst haben, sich mit dem Bürgermeister anzulegen“; „Bürgermeister zu sein, ist kein Freifahrtschein“. Sinn und Zweck des Spiels ist klar: Ich reflektiere, ziehe Schlüsse. Alles, was man so über den Gemeindebundpräsident „in Ruhefunktion“ hört, ist haaresträubend. Doch es scheint ihm an den Kragen zu gehen (es gilt die Unschuldsvermutung). Ein bisschen was ist also doch weiter gegangen in den vergangenen vier Jahrzehnten. PORTRÄTIERT Eine starke Frau Eine Familie beschließt, anders als in den Jahren zuvor, nicht Ende August, sondern Anfang September den Urlaub zu beenden und nach Paris zurückzukehren. Der kurze Aufschub hat ungeahnte Folgen. Das Wetter schlägt um und im plötzlich einbrechenden Nebel wird das scheinbar Bekannte fremd. Nicht nur in ihrem Roman „Ein Tag zu lang“ (1994) zeigt sich die 1967 in Pithiviers bei Orléans geborene Autorin Marie NDiaye als Spezialistin für Verwandlungen und das Unheimliche, das in jedes Leben einbrechen kann – oder das vielleicht schon immer da war. Selbst Verschwundene können unter den Anwesenden leben, man habe sie nur vergessen, „so wie man den Regen, die Steine und die Gräser auf den Wegen vergaß“. In ihrem besonders empfehlenswerten Roman „Drei starke Frauen“ (2009) verbindet NDiaye, Tochter einer Französin und eines Senegalesen, in drei Erzählungen Europa und Afrika, Gegenwart und Vergangenheit und das Schicksal dreier Frauen. Sie rückt Nebenfiguren in den Mittelpunkt und schärft die Wahrnehmung. Was bedeutet stark sein? Vielleicht sich wie die verstoßene kinderlose Witwe auf ihrem Weg nach Europa durch nichts und niemanden brechen zu lassen und an der Grenze zu Europa selbst „noch in dem Augenblick, da ihr Schädel auf dem Boden aufschlug“, zu denken: „Das bin ich, Khady Demba.“ Die beschriebenen Räume sind oft real und geografisch verortbar, doch scheinen die Protagonistinnen mit dem Wechsel von Orten zugleich Grenzen zu überschreiten in einen anderen, mythischen Raum. Menschliche Abgründe nimmt NDiaye in ihrem literarischen Werk in den Blick. So auch in „Die Rache ist mein“ (2021) über die Gewalt einer Mutter an ihren Kindern, den Ausbruch aus einer Beziehung, die ein Gefängnis war. Das ist nicht privat, sondern hoch politisch. Denn der Mensch lebt ja in einem Umfeld, dem er versucht zu genügen oder gegen das er angeht, einem Umfeld, das geprägt ist von Machthierarchien, Klasse, Herkunft und nicht zuletzt durch die französische Kolonialgeschichte. Auch ihr faszinierendes „Selbstporträt in Grün“ (2005) widersetzt sich den Gewissheiten, die biografische Aussagen gerne verströmen. Ihr Thema ist viel mehr als ein fiktives Ich: die Wahrnehmung, die Freiheit, die Literatur, die „vieldeutige Gestalt“ der Frauen in Grün: „reale Menschen und literarische Figuren zugleich, ohne die mir die Rauheit des Leben Haut und Fleisch abschürfen würde bis auf den Knochen.“ (Brigitte Schwens-Harrant) Foto: imago / Agencia EFE Die Schriftstellerin Marie NDiaye erhält am 28. Juli in Salzburg den diesjährigen Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.
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