DIE FURCHE · 26 6 International 27. Juni 2024 Ankara Türkei Lesen Sie auch das Interview mit dem Pentagon-Berater Martin Levi van Creveld (6.3.2024) auf furche.at. FORTSETZUNG VON SEITE 5 „essen“, politisch zu gebrauchen, sprich: zu missbrauchen. Meine Urgroßmutter nannte solche Leute: „Hochstudiert und doch saudumm.“ Studiert oder nicht, viele plappern Unwissen papageienhaft nach. Das sind dann die scheinwissenden Mitläufer. Mitläufer sterben nie aus. Im Gegenteil, es gibt sie en masse. Überall und immer. Nicht zuletzt beim Judenhass. Auf der Linken seit Karl Marx, bei Faschisten und Islamisten ohnehin. Auch der liberale Judenhass oder die Feigheit der Liberalen sind als Mitläuferphänomene nicht neu. DIE FURCHE: Auf den Straßen im Westen wird gegen Israel demonstriert, doch die engsten Verbündeten unterstützen Israel nach wie vor im Grundsatz, wie die Abwehr des iranischen Angriffs auf Israel eindrücklich gezeigt hat. Doch selbst die USA, der wichtigste Verbündete, üben Kritik an der Kriegsführung Israels in Gaza. Welchen Eindruck macht das auf die israelische Regierung und Netanjahu? Wird der Premierminister, nach all dem Leid und der Zerstörung, jetzt zurückrudern? Wann endet der Krieg? Wolffsohn: Der Krieg endet sofort, wenn die Hamas die Geiseln freilässt und die Waffen niederlegt. Letzteres wäre militärisch das einzig Vernünftige, um die Zivilbevölkerung in Gaza endlich nicht mehr als offensives und defensives Kanonenfutter zu missbrauchen. Das wäre auch die Befreiung der Bevölkerung von der Hamas. Dass „die“ USA Kritik üben, stimmt nicht. Der Kongress ist mehrheitlich eindeutig aufseiten Israels. Präsident Joe Biden wackelt, weil er Angst vor den Linken seiner eigenen Partei und den Arab Americans hat. Wenn die Hamas die Geiseln nicht freilässt und die Waffen nicht niederlegt, geht der Krieg weiter. Mit und ohne Netanjahu. KLARTEXT Experte Wolffsohn sieht Israel derzeit im Kampf an „sieben Fronten“: Gaza, Westjordanland, Libanon, Syrien, Irak, Jemen, Iran. Nordzypern Ägypten Syrien Beirut Libanon Damaskus Israel Amman Tel Aviv Kairo Jerusalem Jordnien DIE FURCHE: Viele Beobachter behaupten, die Hamas kann nicht besiegt werden. Wenn dem so ist, was bedeutet das für den weiteren Kriegsverlauf? Wolffsohn: Auf Westentaschenstrategen soll man nicht hören, und über Nahost wird mehr geredet als gewusst. Wenn Hitler-Deutschland besiegt werden konnte, kann man auch die Hamas besiegen. Denn die Hamas nicht besiegen heißt letztlich: Die Hamas gewinnt. Gleichzeitig wurde der Gazastreifen in Schutt und Asche gelegt, spricht Slowakischer Wunschrundfunk Die slowakische Regierung unter dem Populisten und Putin-Verehrer Robert Fico hat ihre Ankündigung wahrgemacht und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aufgelöst. Seit Monaten beschwert sich Fico, die Sendeanstalt berichte voreingenommen und stehe „im Konflikt mit seiner Regierung“. Man kann sich unschwer vorstellen, was sich der slowakische Ministerpräsident vom neuen Sender erwartet, der jetzt gegründet werden soll. Und falls die Journalisten von Ficos Wunschrundfunk doch mal allzu kühne kritische Fragen stellen, wird ihnen sicher die nicht näher definierte Ethikkommission als neues Kontrollgremium erklären, was die Regierung medienmäßig für moralisch geboten hält. Konsequenterweise sollen auch Privatmedien auf Regierungslinie gebracht werden. Ihnen droht das Fico-Lager im Falle von Aufmüpfigkeit, die Werbegelder von Staatsunternehmen zu kürzen. Unabhängige Zeitungen und das kritische Privatfernsehen Markiza hat die Regierung bereits zu Feinden erklärt. Sie sollen keine Interviews mehr bekommen. Für „ Über Nahost wird mehr geredet als gewusst. Wenn Hitler- Deutschland besiegt werden konnte, dann kann man auch die Hamas besiegen. “ Bagdad Saudi-Arabien Irak Sanaa Riad Jemen Teheran Bahrain von knapp 40.000 eigenen Toten. Sieht ein Sieg so aus? DIE FURCHE: Gewiss nicht. Doch Hamas-Angehörige nehmen die zivilen Opfer in Kauf oder nutzen Zivilisten für ihre Kriegsführung. Unabhängig davon, wie das Verhältnis von getöteten Hamas- Kämpfern zu zivilen Opfern ist – jeder tote Zivilist ist in den Augen der Weltöffentlichkeit einer zu viel. Hat Israel den Krieg um die „hearts and minds“ und in Social Media bereits verloren? Wolffsohn: Kriege werden nicht in der Arena der öffentlichen Meinung entschieden, sondern auf dem Schlachtfeld. Und schon gar nicht von weltpolitisch bedeutungslosen Deutschen und Europäern. Anders sieht es bei der Öffentlichkeit der USA aus. Wegen des Drucks seiner Parteilinken Von Susanne Glass diese schamlose Einschränkung der Pressefreiheit hat die Fico-Regierung prominente Vorbilder innerhalb der EU. Auch in Viktor Orbáns Ungarn sowie in Polen unter der mittlerweile abgewählten PiS-Partei wurden die Medien systematisch beschnitten. Das war jeweils der erste Schritt, bevor die Demokratie immer weiter ausgehöhlt wurde. Die slowakische Opposition war mit ihren Protesten bisher erfolglos. Nach dem schweren Attentat auf Fico Mitte Mai sind diese ohnehin abgeebbt. Umso wichtiger ist, dass die neue EU-Kommission als eine der ersten Amtshandlungen dieses EU-rechtswidrige Vorgehen der Slowakei sanktioniert. Am besten funktioniert dies erfahrungsgemäß mit der Drohung, am Geldhahn zu drehen. Hierfür sei Fico sogar ausdrücklich der Blick ins Nachbarland Ungarn empfohlen. Die Autorin ist Redaktionsleiterin Ausland und politischer Hintergrund beim Bayerischen Rundfunk. Iran Katar Abu Dhabi VAE Oman Maskat Grafik: Rainer Messerklinger (Quelle: Wikipedia) und der grölenden Scheinelite an den Universitäten agiert Präsident Biden zögerlich. DIE FURCHE: Die Zahl antisemitischer Ausbrüche, gerade auch an Unis in den USA und Europa, ist nicht kleinzureden. Doch gibt es auch Kritiker der israelischen Kriegsführung, die israelische und palästinensische Opfer beklagen und die keine antisemitischen Parolen grölen, die darauf verweisen, dass täglich Zivilisten sterben. Was entgegnen Sie denen, die fordern, dass Israel unverzüglich die Waffen ruhen lassen solle, auch wenn die Hamas nicht besiegt ist? Wolffsohn: Dass sie nichts von Politik verstehen und dass Krieg – schöne Grüße von Clausewitz – ein Instrument der Politik ist. Wenn Israel heute aufhörte, gäbe es übermorgen eine neue Mordorgie à la 7. Oktober 2023. Wer will, dass das Leid der Gaza-Palästinenser aufhört, muss die Hamas dazu bringen, sofort die Waffen niederzulegen. „ Ich erwarte, dass Israel – mit oder ohne Hilfe der USA, der Saudis, der Emirate, eventuell Aserbaidschans – den Iran angreifen und entnuklearisieren wird. “ DIE FURCHE: Welche Bedeutung hat die jüngste Geiselbefreiung? Wolffsohn: Sie ist ein Mutmacher und eine geheimdienstliche und militärische Meisterleistung. Aber keine Kriegsentscheidung. DIE FURCHE: Die Zahl auch ziviler Opfer in Gaza ist ausgesprochen hoch, Teile Gazas liegen in Trümmern, die humanitäre Lage ist katastrophal. Wie soll der Gazastreifen wieder aufgebaut werden? Wolffsohn: Aufbauen kann man erst, wenn nicht mehr zerstört wird, also kein Krieg mehr herrscht. Es herrscht kein Krieg mehr, wenn entweder Hamas die Waffen niederlegt oder besiegt ist. Dann kann und wird der Aufbau rasch erfolgen. Mit Hilfe Israels. DIE FURCHE: Die israelische Führung ist zerstritten darüber, dass es offenbar keine konkreten Vorstellungen einer Nachkriegsordnung in Gaza gibt. Wie könnte diese aussehen? Wolffsohn: Hier ist zu unterscheiden zwischen der kurz- und der langfristigen Ordnung. Kurzfristig wird es bei einer militärischen Kontrolle des Gazastreifens durch Israel bleiben, denn in Israel gilt: „Nie wieder ein 7. Oktober!“ Die Verwaltung könnte international geregelt werden. Langfristig greifen nur föderale Strukturen. Ich denke an eine Mischung aus Bundesstaat und Staatenbund. DIE FURCHE: Welche Rolle spielt bei alledem der Iran? Wolffsohn: Der Iran spielt die Hauptrolle. Wenn der Iran atomar gerüstet ist, kann Israel langfristig weder konventionell noch nuklear überleben. Deshalb wird es zur nuklearen Abrüstung des Iran kommen müssen. Und zwar bald. Entweder diplomatisch oder militärisch. Diplomatisch sehe ich derzeit keine Chance. Ich erwarte, dass Israel mit oder ohne Hilfe der USA, der Saudis, der Emirate und eventuell auch Aserbaidschans den Iran angreifen und „entnuklearisieren“ wird. Am 13. April 2024 haben wir gesehen, dass der Iran militärisch überschätzt wird. Seine Luft- und Raketenabwehr ist schwach, auch die Offensivkraft iranischer Raketen. Ja, sie würde Israel erheblich treffen, aber nie und nimmer vernichten. Das Mullah-Regime wäre dramatisch geschwächt. Kann dann die bürgerliche Opposition im Iran diese Chance nutzen? Versuchen wird sie es. Und hoffentlich schaut der Westen dann nicht nur zu. DIE FURCHE: Einen großen Krieg zwischen Israel und dem Iran halten Sie also für unausweichlich? Wolffsohn: Ja, leider. Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus Von Michael Wolffsohn Herder 2024 96 S., geb., € 13,– Zum Weltfrieden Ein politischer Entwurf Von Michael Wolffsohn dtv 2019, 216 S., kart. derzeit vergriffen
DIE FURCHE · 26 27. Juni 2024 Gesellschaft 7 Die Nichtnachhaltigkeit des westlichen Lebensmodells liegt auf der Hand. Zugleich wächst der gesellschaftliche Protest gegen jeden Wandel. Was nun? Zwei Bücher geben Denkanstöße. Von Fred Luks Ein Berg an Problemen Die krisengeschüttelte Spät moderne ist dabei, ihre Werte umzuwerten, statt ihren Umgang mit der Natur grundlegend zu ändern. Die unhaltbare Normalität Wie man eine sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit organisiert, kann man für die größte Herausforderung unserer Zeit halten. Die Heftigkeit des aktuellen Streits über das EU-Renaturierungsgesetz (vgl. „Diesseits von Gut und Böse“, Seite 13) zeigt, worum es geht: nämlich nicht um formale Zuständigkeiten, sondern um die gesellschaftliche Frage, ob „Normalität“ herrschen soll oder ein Bewusstsein davon, dass diese selbst infrage steht. Oder zugespitzt: ob der vielzitierte Hausverstand wichtiger ist als unerfreuliche wissenschaftliche Erkenntnisse. In dieser Lage kommen zwei Bücher gerade recht, die die Möglichkeiten und Grenzen einer demokratischen und wirkungsvollen Transformation ausleuchten. Die Historikerin Hedwig Richter und der Journalist Bernd Ulrich – bis 2023 stellvertretender Chefredakteur der Zeit – argumentieren in ihrem Buch „Demokratie und Revolution“, dass grundlegender ökologischer Wandel sich demokratisch organisieren lässt. Ingolfur Blühdorn, der an der Wiener Wirtschaftsuniversität Soziologie lehrt, analysiert hingegen die titelgebende „Unhaltbarkeit“ westlicher Gegenwartsgesellschaften. Er liefert Argumente, warum die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Wandel zur Nachhaltigkeit oft auf falschen Voraussetzungen beruht. Richter und Ulrich beschreiben die Transformation zur Nachhaltigkeit als „Revolution in der Demokratie“ und hoffen auf „Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit“. Eine ihrer zentralen Thesen lautet: „Radikale Veränderungen, die ökologisch notwendig sind, können innerhalb einer Demokratie stattfinden.“ Mit großer Verve legen sie dar, was Gesellschaften daran hindert, angemessen radikal auf die radikalen ökologischen Herausforderungen zu reagieren. Im Zentrum der Argumentation steht das „Zumutungslosigkeitsversprechen“ der herrschenden Politik. Diese „Ideologie der Zumutungslosigkeit“ führe dazu, dass Politik sich vor allem darum bemühe, das Wahlvolk nicht zu verprellen, statt wirkungsvollen Klima- und Artenschutz zu betreiben. Die tiefsitzende Orientierung an der Rettung der Normalität verhindere den Wandel zur Nachhaltigkeit. Dabei sei klar, dass die heute herrschende gesellschaftliche Normalität das Kernproblem der Nichtnachhaltigkeit sei. „Die Normalität ist kein Garant gegen die Katastrophe, im Gegenteil: Sie ist deren Quelle“, heißt es hier. Dass unser Wohlstand auf nichtnachhaltigen und (beim Umgang mit Tieren) oft grausamen Praktiken beruht, wird hier schlüssig dargelegt. „Das Weiter- So“, schreiben Richter und Ulrich, „ist eine apokalyptische Ideologie.“ In der Tat – und die höchst bemerkenswerte gesellschaftliche Verdrängungsleistung, die hier am Werk ist, wird in „Demokratie und Revolution“ überzeugend analysiert. Was brauchen Menschen? Weit weniger überzeugend ist jedoch die Lösung, die die beiden Autoren präsentieren. „Ohne Verzicht an der einen Stelle“, schreiben sie, „sind neue Freiräume an anderer Stelle nicht mehr zu schaffen. Verzicht ist zu einer ehernen Voraussetzung der Freiheit und der westlichen Selbstbehauptung geworden.“ Sie plädieren dafür, „danach zu fragen, was Menschen brauchen, um ein freies, selbstständiges, gutes, partizipatives Leben führen zu können, nicht danach, was möglicherweise noch fehlen könnte und wo man noch mehr materielle Ansprüche stellen sollte.“ Dieser Wechsel der Denkrichtung ist zunächst ein plausibler Vorschlag – gleichzeitig lauert hier ganz offensichtlich die komplizierte Frage danach, wer denn bestimmt, was die Menschen brauchen. Vor allem fragt man sich dies: Wie naiv ist die Überlegung, in kurzer Zeit erfolgreich eine demokratische Revolution anzuzetteln, die wesentlich auf Einsicht, Umkehr und Verzicht setzt? Nach der Lektüre von Ingolfur Blühdorns Buch muss man sagen: extrem naiv. Der Soziologe lässt sich auf tagespolitische Debatten ebenso wenig ein wie auf moralische Haltungsnoten. Auch Zahlen zu ökologischen Veränderungen sucht man bei ihm vergeblich. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die grundsätzliche (Nicht-) Nachhaltigkeit westlicher Gesellschaften. „Unhaltbarkeit“ ist also im besten Wortsinn ein theoretisches Buch. Es ist auch hervorragend geschrieben, doch Blühdorns enorme Flughöhe und die Verknüpfung unterschiedlicher „Unhaltbarkeiten“ fordern den Lesenden Konzentration und Geduld ab. Die Lektüre wird freilich mit einem tiefen Einblick in die Blockaden einer nachhaltigen Entwicklung belohnt. Die sind nach Blühdorn gesellschaftlicher Natur – und in spätmodernen Demokratien grundsätzlich angelegt. Für diejenigen, die sich für das „öko-emanzipatorische Projekt“ eines ökologischen und politischen Wandels einsetzen, sei dies geradezu traumatisch. Das Scheitern dieses Projekts bedeute den „Untergang ihrer Welt“. Doch das bedeute „weder die Unbewohnbarkeit des Planeten noch den Untergang der Menschheit“. Diesen Gedanken kann man auf westliche Gesellschaften insgesamt beziehen: Nicht „die“ Welt „ Nicht ,die‘ Welt geht unter, sondern unsere Welt. Sie ist unhaltbar geworden. ,Es geht um die fortschreitende Normalisierung des Apokalyptischen.‘ “ geht unter, sondern unsere Welt. Sie ist unhaltbar geworden. Es geht dabei laut Blühdorn nicht lediglich um die Verfehlung nachhaltigkeitspolitischer Ziele, zum Beispiel beim Klima: „Es geht um die fortschreitende Normalisierung und Entproblematisierung des bisher Apokalyptischen und Undenkbaren.“ Es sind eben nicht nur die politisch Handelnden, die eine wirksame Klimapolitik verhindern: Es sind ganz wesentlich die Bedingungen einer krisengeschüttelten Spätmoderne, die dabei ist, ihre Werte umzuwerten, statt ihren Umgang mit der Natur Foto: Foto: iStock/ronstik Lesen Sie auf furche.at von Fred Luks auch: „Wie sich Freiheit, Frieden und Nachhaltigkeit ergänzen müssen“ (15.11.2023). grundlegend zu ändern. Wenn fundamentale Dinge wie Freiheit und Selbstbestimmung sich wandeln, kann das für eine Demokratie geradezu dysfunktional sein. Blühdorn schreibt: „Viele insistieren, dass es noch nicht zu spät sei, und drängen auf ‚Handeln für den Wandel‘. Aber längst ist klar, dass diese Narrative eher therapeutischen Wert haben, als dass sie tatsächlich einen grundlegenden Wandel herbeiführen könnten.“ Überzeugend legt der Autor dar, dass im gesellschaftlichen Diskurs und vor allem in der gesellschaftlichen Praxis die Sicherung eines nichtnachhaltigen Wohlstandsmodells nach wie vor absolute Priorität gegenüber ökologischen Zielsetzungen hat. Oft spitzt Blühdorn gnadenlos zu und bringt damit seine Dia gnose der krisenhaften Lage westlicher Gegenwartsgesellschaften auf den Punkt. So insistiert er auf der Einsicht, „dass Autonomie, Demokratie und Mündigkeit längst zur unerträglichen Belastung geworden sind und spätmoderne Bürgerinnen und Bürger sich nach entlastender Einfachheit, Orientierung, Führung und Autorität sehnen“. Zu beobachten sei eine von den Bürgern gewollte „Befreiung aus der Mündigkeit“. Von Blühdorns Ausführungen kann man enorm viel lernen, ohne ihm in allem zu folgen. Am Ende ist die gesellschaftliche Realität vielleicht doch nicht ganz so aussichtslos, wie es in seinem eleganten Theoriegebäude aussieht: Es tut sich eben nicht nichts. Dennoch erscheint die Lage düster. Allen, die trotzdem (oder gerade deswegen) für die Nachhaltigkeit streiten wollen, seien beide Bücher wärmstens empfohlen. Wer verstehen will, warum allüberall von Klima und Nachhaltigkeit die Rede ist und gleichzeitig viel zu langsam viel zu wenig passiert, wird hier fündig werden. Der Autor ist Ökonom, Nachhaltigkeitsforscher und Publizist. Sein jüngstes Buch „Ökonomie der Großzügigkeit“ ist im Herbst 2023 bei transcript erschienen. Unhaltbarkeit Auf dem Weg in eine andere Moderne Von Ingolfur Blühdorn Suhrkamp 2024, 320 S., kart., € 20,95 Demokratie und Revolution Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit Von Hedwig Richter u. Bernd Ulrich Kiepenheuer & Witsch 2024 368 S., geb., € 26,50
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE