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Die Furche 27.06.2024

DIE FURCHE · 26 4 Das

DIE FURCHE · 26 4 Das Thema der Woche Das Blaue vom Himmel 27. Juni 2024 Rote Zone für Kinder Das Rotlichtviertel „Soi Cowboy“ in Bangkok ist ein Hotspot für die sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen durch Touristen. Gerade in Thailand konnte aber durch Zusammenarbeit von ECPAT und Behörden die Missbrauchsrate verringert werden. Von Michael Lastric Während die Urlaubsreisenden bei der Passkontrolle auf dem Wiener Flughafen gedanklich bereits auf den Stränden dieser Welt ihre Badetücher ausbreiten, zeigen die Bildschirme über den Durchgangsschleusen eine dunkle Seite des internationalen Tourismus. „Nicht wegsehen!“ heißt die Kampagne der Kinderschutzorganisation ECPAT Österreich, die während der Ferienreisezeit auf den Info-Monitoren des Flughafens für ein Thema sensibilisieren soll, das so gar nicht ins Bild von Sommer, Sonne, Strand passt. Weltweit werden Minderjährige durch Reisende sexuell ausgebeutet – Schätzungen gehen von zwei Millionen Betroffenen aus. Am stärksten gefährdet sind Kinder und Jugendliche in Südostasien, Lateinamerika, Afrika und Osteuropa, letztlich kann die sexuelle Ausbeutung Minderjähriger aber für kein Reisegebiet ausgeschlossen werden, sagt Kerstin Dohnal, die in der österreichischen Sektion von ECPAT („End Child Prostitution, Pornography and Trafficking“) den Bereich Kinderschutz im Tourismus und Entwicklungszusammenarbeit leitet. „Aufmerksame Reisende können Kinder vor sexueller Ausbeutung schützen“, erklärt Dohnal im FURCHE-Gespräch. „Bei Flugund Fernreisen sprechen wir oft vom CO₂- Fußabdruck, den wir hinterlassen. Es gibt aber durchaus die Möglichkeit, einen positiven Handabdruck zu hinterlassen, indem wir darauf achten, was in unserer Umgebung passiert – und selbst Verantwortung übernehmen.“ Ausgenutzte Verwundbarkeit Prostitution basiert bei Kindern nie auf Freiwilligkeit, sie werden vielmehr durch Armut, häusliche Gewalt, falsche Versprechungen, Erpressung oder Drohungen in diesen „Sektor“ hineingedrängt. Täterinnen und Täter nutzen die Verwundbarkeit von Kinder aus. „Wenn ich auf Reisen Kinder spätabends in Bars sehe oder wenn „Sex hat keine Kalorien“ vom 3. Februar 2000 berichtete vom ersten Weltkongress gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und der Gründung von ECPAT; nachzulesen auf furche.at. Sexuelle Ausbeutung von Kindern im Tourismus nimmt weltweit zu – nicht nur in Fernost. Aufmerksame Reisende können mithelfen, Minderjährige wirksam zu schützen. Das ferne Verbrechen „ Wenn ich auf Reisen mitbekomme, dass Erwachsene ein merkwürdiges Verhältnis zu Kindern haben, sollte ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen und handeln. “ Kerstin Dohnal, ECPAT Österreich Kinder in Prostitutionsvierteln herumgehen oder wenn ich am Strand mitbekomme, dass ein Erwachsener ein merkwürdiges Verhältnis zu einem Kind hat, das offensichtlich nicht sein eigenes ist, sollte ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen und handeln“, sagt Dohnal. Damit die sprachliche Barriere zu den örtlichen Behörden im Urlaubsort kein Hindernis darstellt, bietet ECPAT auf der Kampagnenwebsite nicht-wegsehen.at ein deutschsprachiges Formular, das Touristinnen und Touristen bei auffälligen Beobachtungen weltweit online ausfüllen können. Die Meldung gelangt direkt zum Bundeskriminalamt, das sich der Sache annimmt. In fernen Destinationen würden sich Täterinnen und Täter aufgrund von Anonymität häufig in falscher Sicherheit wiegen, sagt Dohnal – und hält dem entgegen: „Sexualstraftaten verjähren nicht und sind weltweit strafbar.“ Kommt es im weiteren Verlauf zu Ermittlungen, kontaktieren die Behörden den Melder oder die Melderin – und man wird im Rahmen unseres Rechtssystems als Zeuge befragt. Zur Angst vor einer Falschmeldung meint Dohnal: „Besser einmal mehr gemeldet und die Einschätzung den Expertinnen und Experten überlassen, als nichts gesagt.“ Dass jemand eine Falschmeldung abgebe, um jemanden anzuschwärzen, komme so gut wie nie vor, denn dafür sei die Meldungseingabe schlicht zu aufwendig. Informationen zu Missbrauchs-Hotspots Jede Meldung hilft den Behörden auch, die Hotspots für Sexualstraftaten in touristischen Regionen überall auf der Welt ausfindig zu machen. 80 Prozent aller Täterinnen und Täter, die Kinder im touristischen Bereich sexuell ausbeuten, sind laut Dohnal aber Gelegenheitstäter: „Die sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen ist meist nicht das primäre Ziel oder der Zweck einer Reise. Sondern es herrscht Urlaubsstimmung, es ist schön, es ist ein Reiz dabei, und es passiert …“ Auch gewisse Gruppendynamiken können sexuelle Übergriffe befördern. Prinzipiell findet sexuelle Ausbeutung von Kindern aber in jedem Reisekontext statt, auf Urlaubsreisen genauso wie auf Geschäfts- oder Kulturreisen, es passiert in Bordellen oder im Rotlichtviertel genauso wie an Stränden oder in Fünf-Sterne-Hotels. Foto: iStock/aluxum In manchen Ländern hat sich die Gefahrenlage für Minderjährige, Opfer sexueller Ausbeutung zu werden, mittlerweile verbessert. Vor 25 Jahren war Thailand ein Hotspot in diesem Bereich. Kriminelle Banden haben damals Kinder – Burschen wie Mädchen – aus Laos, China und Burma entführt, sie nach Thailand gebracht und zur Prostitution gezwungen. Die kriminelle Struktur, die Kinder systematisch sexuell ausbeutet, konnte dank der damals gestarteten Bewusstseinsarbeit und weltweiten Vernetzung von ECPAT durchbrochen werden. „Doch kriminelle Energie findet leider immer wieder Lücken und baut neue Infrastrukturen zur sexuellen Ausbeutung von Kindern auf“, betont Dohnal. Aktuell bereiten freilich die steigenden Zahlen der Ausbeutung im Internet Sorge: „Online ist immer ein Indikator dafür, wohin die Zahlen gehen“, erklärt die Expertin. „Wenn der Online-Missbrauch und die Online-Ausbeutung ansteigen, wächst auch die sexuelle Ausbeutung vor Ort, denn die Täter suchen irgendwann auch den tatsächlichen Kontakt zu den Kindern.“ Besonders riskant werde es dann in den Destinationen, die kriminelle Systeme für die sexuelle Ausbeutung von Kindern bieten, „wo es leichter geht als in anderen Ländern und wo man sich unbeobachteter fühlt“. Laut UNICEF locken Betrüger auf den Philippinen armutsbetroffene Kinder unter dem Vorwand, Geld für Videos zu bekommen, in einschlägige Internetcafés. Auch der neue Trend, in Hotels und anderen Unterkünften online und ohne Personal an der Rezeption einchecken zu können, erleichtert kriminelle Machenschaften. Dohnal warnt: „Überall dort, wo es keinen menschlichen Kontakt mehr gibt, steigt die Anonymität – und das schafft mehr Gelegenheiten für Täterinnen und Täter.“ Falsche Waisenhäuser Eine spezielle Form des Reisens, abseits üblicher Touristenpfade, ist der gerade unter jungen Menschen beliebte „Volun tourismus“, also Reisen verknüpft mit Freiwilligenarbeit. Nach der Matura, nach dem Studienabschluss oder anderen Lebensabschnitten suchen Interessierte nach Möglichkeiten, um ein Jahr lang in armutsbetroffenen Gegenden der Welt Gutes zu tun. Bevorzugte Ziel- und Einsatzorte sind dabei oft Waisenhäuser, Schulen oder Spitäler. Doch auch bei diesen Angeboten gehen Gefahren für Kinder einher. „Es gibt falsche Waisenhäuser gerade im südostasiatischen Bereich, die Kinder aus ihren Familien reißen, um den Bedarf an Voluntourismus-Projekten zu decken“, warnt Dohnal vor Blauäugigkeit bei dieser gutgemeinten Freiwilligenarbeit. Seriöse Anbieter von Voluntourismus erkennt man laut Dohnal daran, dass sie Einschulungen anbieten, polizeiliche Führungszeugnisse verlangen und Kinderschutzrichtlinien befolgen. Fallen den Freiwilligen während ihrer Einsätze verdächtige Vorkommnisse auf, können sie sich ebenfalls an ECPAT wenden, wo den Verdachtsfällen nachgegangen wird. „Wichtig ist, genau hinzuschauen und die richtige Organisation auszusuchen“, sagt Kerstin Dohnal. So wie das die „Nicht wegsehen!“-Kampagne auf den Flughafenmonitoren rät: „Bei Flugpreisen schauen Sie auch immer genau hin!“ Weitere Info unter www.nicht-wegsehen.at Nächste Woche im Fokus: Immer wieder wird hierzulande über das Recht auf die Staatsbürgerschaft diskutiert. Ist es zu streng oder zu lasch? Und welche Rolle spielt es bei der Integration von Einwanderern? Wer Geld hat, kann sich einen Pass auch kaufen. Über den Reisepass als Privileg und Politikum.

DIE FURCHE · 26 27. Juni 2024 International 5 Das Gespräch führte Philipp Fritz Michael Wolffsohn gilt als einer der renommiertesten deutschsprachigen Nahostexperten. 2018 wurde der Historiker und Publizist, der in Tel Aviv geboren wurde und in der israelischen Armee diente, mit dem Franz- Werfel-Menschenrechtspreis der „Stiftung Zen trum gegen Vertreibungen“ ausgezeichnet. Im Interview mit der FURCHE geht er mit der westlichen Berichterstattung über Israel hart ins Gericht, erklärt, warum der Krieg mit und ohne Benjamin Netanjahu weitergehen wird und inwiefern er die internationale Gemeinschaft in die Pflicht nehmen würde. DIE FURCHE: Herr Wolffsohn, der Krieg in Gaza, Unruhe im Westjordanland, ein aggressiver Iran und eine entlang unterschiedlicher Fragen zunehmend gespaltene Gesellschaft: Haben Sie den Staat Israel je in einer derart bedrohlichen Lage gesehen? Michael Wolffsohn: Man werfe die außen- und innenpolitischen Bedrohungen nicht in einen Topf. Beide sind existenziell, aber nur teilweise miteinander verwoben. Freilich behaupten viele, die Hamas und der Islamische Dschihad hätten am 7. Oktober 2023 ihre Mord- und Blutorgie gegen Israel gestartet, weil die innerisraelische Polarisierung so dramatisch war. Als ob jemand die Entscheidungsvorgänge der Hamas so genau kennt. Die innenpolitische Polarisierung zwischen Religiösen und Nichtreligiösen ist nicht neu. Weil die Religiösen inzwischen so zahlreich sind, greifen sie nach mehr Macht – und die Nichtreligiösen wehren sich. Ein normaler Vorgang in Demokratien. Der Kampf um oder gegen die starke Stellung des Obersten Gerichts ist auch kein allein israelisches Phänomen; Stichwort Polen, Ungarn oder auch die USA. Projiziert und personalisiert werden alle innen- und außenpolitischen Probleme Israels auf eine Person: Benjamin Netanjahu. Für die einen ist er der Teufel, für die anderen der „König Israels“. Beides ist gleichermaßen übertrieben, entfaltet aber eine Eigendynamik. Sobald Netanjahu durch Wahlen oder partei intern entmachtet ist, wird sich die innenpolitische Front beruhigen. Nicht aber die außenpolitische. Für die Hamas, den Islamischen Dschihad, die libanesische Hisbollah, Irans syrische Marionette Assad, die proiranischen Milizen im Irak und die Huthis im Jemen sowie vor allem deren Patron Iran ist jeder Israeli gleich verhasst. Israel kämpft daher derzeit an sieben Fronten: Gaza, Westjordanland, Libanon, Syrien, Irak, Jemen, Iran. Es geht um Sein oder Nichtsein. Ja, daher ist Israels Lage so bedrohlich wie 1948, zur Staatsgründung. Mit einem fundamentalen Unterscheid, den die Feinde Israels offenbar vergessen. DIE FURCHE: Worin liegt dieser Unterschied zu 1948? Wolffsohn: Israel besitzt Atomwaffen. Wenn Israel untergeht, geht der ganze Nahe Osten unter. Man nennt das den „Samson- Effekt“ – wie Samson im Alten Testament, der alle Philister mit in den Tod riss. Bild: Getty Images / ClassicStock / Sipley (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Ein direkter Krieg mit dem Iran ist unausweichlich, sagt der jüdische Historiker Michael Wolffsohn. Ein Gespräch über die „grölende Scheinelite“ an US-Unis, antiisraelische Medien und Gazas Zukunft. „Es ist die Feigheit der Liberalen“ DIE FURCHE: Jetzt hat die Hisbollah im Libanon Israel auch noch mit großflächigen Raketenangriffen gedroht. Die israelische Armee hat ihrerseits einen Einsatzplan für eine mögliche Offensive im Libanon genehmigt. Droht eine weitere Eskalation an Israels Nordgrenze? Wolffsohn: Ja, wenn die im Auftrag des Iran angreifende Hisbollah nicht sehr bald die Bombardierungen Nordisraels einstellt. Der Norden Israels ist nämlich Der Historiker Michael Wolffsohn lehrte bis 2012 an der Universität der Bundeswehr in München. Foto: Privat fast vollständig evakuiert. Es gibt ihn nur noch geografisch. „ Wenn Israel untergeht, geht der ganze Nahe Osten unter. Denn Israel hat Atombomben – man nennt das den ‚Samson Effekt‘. “ DIE FURCHE: Sie sprachen bereits das Massaker vom 7. Oktober 2023 an. Wie wirkt dieses Pogrom in der israelischen Gesellschaft nach? Wolffsohn: Erstens herrscht wieder ein Fundamentalkonsens: Es gehe ums nackte Überleben. Oder zumindest um die Wiederherstellung eines ganz normalen, gewaltfreien Alltags. Vergessen wir nicht, dass ungefähr 120.000 Israelis aus dem Norden des Landes sowie knapp 100.000 am Gazastreifen seit Oktober 2023 ihre Ortschaften verlassen haben. Zweitens erkennt man in allen Lagern gleichermaßen erschreckt: Man hat die Hamas militärisch dramatisch unterschätzt und sich selbst ebenso dramatisch überschätzt. Krieg gegen Partisanen und Terroristen, die aus dem eigenen Zivil heraus kämpfen und sich dorthin wieder zurückziehen ist militärisch, „handwerklich“ am schwierigsten. Es kommt hinzu, dass Partisanen, wie die Hamas, scheinbar Zivilisten sind. Also aussehen wie Zivilisten, ohne dass sie Zivilisten sind. Daher ist jeder tote Palästinenser scheinbar ein Zivilist. Der echte ist vom scheinbaren Zivilisten nicht unterscheidbar. Dadurch ist der politische Schaden riesig. Für denjenigen, der solche Partisanen bekämpft, um das eigene Zivil zu schützen. Vor neuerlichen Blutorgien und vor dem Hamas- Raketenhagel. Das bedeutet jenseits des Traumas und der dadurch bedingten fundamentalen Verunsicherung: Israel muss seine Militärdoktrin erweitern. Lesen Sie die Analyse des Völkerrechtlers Ralph Janik, der auf die „doppelte Verhältnismäßigkeit“ hinweist (6.12.23), auf furche.at. Massive Vergeltung Der israelitische Held Samson gewinnt seine Kraft zurück und bringt den Tempel von Dagon zum Einsturz – und geht letztlich mit seinen Gegnern unter. Die israelische Bezeichnung für ein nukleares Abschreckungsszenario im Sinne einer massiven Vergeltung lautet daher „Samson-Effekt“. DIE FURCHE: Was heißt das konkret? Wolffsohn: Es gilt, ein Konzept zu entwickeln, wie man die Mischform von Antipartisanen- und Antiterrorkrieg mit einem Krieg gegen den Protektor der Partisanenterroristen – den Iran – gleichzeitig führen und gewinnen kann. DIE FURCHE: Israel wurde überfallen. Doch aufgrund der Art und Weise des Gegenschlages hält sich in westlichen Gesellschaften, in Europa und Nordamerika, die Solidarität mit Israel mehr und mehr in Grenzen. An Universitäten gibt es sogar antisemitische Ausbrüche, auf den Straßen Massenproteste. Wie erklären Sie sich das? Wolffsohn: Es herrscht eine abgrundtiefe Ahnungslosigkeit über den Kern des Konfliktes zwischen Palästinensern und Israel. Wer behauptet, Israels Existenz sei dem westlichen Kolonialismus geschuldet, hat von Geschichte und der Politik des Zionismus und des Westens keine Ahnung. Die Paarung von Ignoranz – auch wissenschaftlich verkleidet – und Arroganz ist überall und immer hochgefährlich. Und selbst mehr Wissen bedeutet nicht automatisch besseres Verstehen. Viele sammeln nämlich Wissen, um es à la carte wie im Gasthaus zu FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE

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