DIE FURCHE · 26 20 Wissen/Austellung 27. Juni 2024 Anfangs kritisch beäugt, hat sich das Nonseum im Weinviertel zum Tourismusmagneten gemausert. Das Prinzip der „Technologieoffenheit“ wird hier besonders hintersinnig ausgelebt. Ein Besuch zum 30-Jahr-Jubiläum. Die gfeanzte Ideenschmiede Von Dagmar Weidinger Im Weinviertel hat man ein Herz für Hinterbliebene. So sieht es zumindest Fritz Gall und sein Herrnbaumgartner „Verein zur Verwertung von Gedankenüberschüssen“. Was hier gesammelt und ausgestellt wird, sind zum Beispiel einzelne Socken. Die armen Zurückgebliebenen schmücken nicht nur das Nonseum selbst, sondern werden auch zuhauf in den sanften Hügeln rund um den Ort aufgehängt. „Einmal im Jahr, am Nationalfeiertag, gibt es dann einen Rundgang zu den verwaisten Singlesocken“, erzählt Gall auf seiner Führung durch das besondere Museum. Nicht ganz unstolz fügt er hinzu, dass das Museum mittlerweile Sockenpost aus aller Welt bekomme – von Menschen, die ihre Einzelsocken „spenden“ würden. Der einmalige Sammlungsort in der 900-Seelen-Gemeinde im Bezirk Mistelbach feiert heuer sein 30-jähriges Bestehen. Fast 500 Erfindungen haben sich in dieser Zeit auf rund 700 Quadratmetern angesammelt, verteilt auf zwei Gebäude und einen großen Garten. Fritz Gall, geboren 1957 in Mistelbach, ist studierter Bildhauer und pensionierter Kunstlehrer. 1986 ließ er Wien hinter sich, kehrte in seinen Heimatort Herrnbaumgarten zurück und wurde dort Nonseums-Direktor. Seither führt er regelmäßig durch die Räumlichkeiten und erzählt dabei gerne die Geschichte des Ortes. Literatur entdecken Begleiten Sie den Bachmannpreis und entdecken Sie mit einem kostenlosen FURCHE-Testabo Texte namhafter Autor:innen – gedruckt vor Ihre Haustüre und online zurück bis 1945. Jetzt 4 Wochen gratis lesen! che nach Sponsoren sei bis heute keine leichte, sagt Gall, der das Museum fast wie einen Familienbetrieb führt. „Ohne die Unterstützung meiner Gattin Betty, meiner jüngeren Tochter Alma u Gleich bestellen: www.furche.at/abo/gratis aboservice@furche.at +43 1 512 52 61 52 online im Navigator seit 1945 Experimente im Wirtshaus Begonnen habe man 1994 mit einem kleinen Gebäude, das die Gemeinde zur Verfügung stellte. Rasch zeigte sich jedoch, dass man mehr Platz für die wachsende Zahl an Exponaten brauchte. So kam der ehemalige Schulgarten dazu und nach weiteren zehn Jahren eine ganze Halle. Die Suund meiner verstorbenen Schwiegermutter Anneliese wären der Aufbau und Fortbestand unmöglich gewesen“, sagt Gall. Wurde das Nonseum zu Beginn von den Einheimischen noch kritisch beäugt, ist es mittlerweile zum Tourismusmagneten im Weinviertel geworden, von dem alle profitieren. Gibt es einen Engpass bei Führungen, hilft heute sogar der Bürgermeister aus. Gall beginnt seine Führung im „Gastro-Bereich“ der Ausstellung. Auf mehreren kleinen Kaffeehaustischen gibt es Erfindungen rund ums Essen und Trinken zu entdecken. Passend dazu erzählt der Künstler die „Gründungsgeschichte“ des Nonseums. Seine Freunde und er hätten bei einem Gasthausbesuch gesehen, wie die Kellnerin nach dem Abservieren das mit Gulasch beschmutzte Tischtuch einfach umdrehte. Im Sinne des Umweltschutzes eine effiziente Idee – doch wäre es nicht noch praktischer, ein sechsflächiges Würfeltischtuch zu haben, das sich anstatt zwei- gleich Gut gerüstet Aufspannen und entspannen: Das ermöglicht der „Regenschirm für Pessimisten“, eine Erfindung von Nonseum-Gründer Franz Gall. „ Wir gehen unter im Konsumrausch. Unsere Objekte unterscheiden sich da wohltuend: Sie sind dazu da, nichts zu produzieren und nichts zu vermehren – außer Humor und gute Laune. “ Franz Gall Foto: Jiro Shimizu sechsmal nutzen ließe? Die lustige Runde beginnt, Ideen zu spinnen – alles Nonsens, der nicht funktionieren würde, aber auf den ersten Blick so wirkt, als ob er es doch könnte. Während das besondere Tischtuch selbst eine Erzählung geblieben ist, findet der Besucher im Kulinarikbereich zum Beispiel die „Gräten-Kontroll-Lupe“ – eine Gabel mit eingebauter Lupe. Denn wer kennt sie nicht, die herausfordernde Situation beim Zerlegen eines Fisches mit üppigem Skelett. Und für geschäftstüchtige Gastronomen gibt es den Rationalisierungsstuhl „mit 144 Nägeln auf der Sitzfläche“, sagt Gall mit schelmischem Blick zum Publikum und fügt hinzu: „Hier nippt kein Gast mehr einen ganzen Nachmittag lang an einem kleinen Braunen.“ Wer schlank bleiben möchte, wird ebenso fündig: Der „Diätteller“ verfügt über eine eingebaute Spiegelwand. Aus einem Würstel mit Semmel werden so problemlos zwei. „Das Auge isst ja immer mit“, kommentiert der Künstler die Erfindung. Auch wenn der Nonsens auf normalen Alltagssituationen basiert, stehen für Gall ein Stück weit Gesellschaftskritik und ein Aufruf zum Nachdenken hinter der Sammlung. „Wir gehen unter im Konsumrausch. Unsere Objekte unterscheiden sich da wohltuend“, so Gall. Die Dinge im Nonseum sind eben alle dazu da, nichts zu produzieren und nichts zu vermehren – außer den Humor und die gute Laune. Genau wie die einzelnen Socken, die nicht einfach weggeschmissen werden, oder auch das „Altenheim“ für Buntstifte: eine kleine Schachtel mit fast zu Ende gespitzten Grafitminen. Auch den Selbstdarstellungshype im Netz nimmt Gall gerne auf die Schippe, etwa wenn er das „Fliegenklatschen-Katapult“ vorstellt, das jeder Fliege mit einem Schlag den Garaus macht. Gall spielt die Szene nach, am Ende liegt die Plastikfliege „tot“ auf seiner Hand. Der Künstler grinst in die imaginäre Handykamera. „Und jetzt das Selfie“, erklärt er den Besuchern und Besucherinnen. Handwerkliche Raffinesse Auffallend an diesem wie an allen anderen Objekten ist ihre handwerkliche Qualität und Raffinesse. Hier wurden nicht etwa alte Dinge einfach zusammengeflickt. Tatsächlich haben viele der ausgestellten Exponate Kunstcharakter. Nicht zufällig stellt auch der gelernte Künstler Gall in seiner Rundgang diesen Bezug her. Humor und Skurrilität seien nichts Neues in der Kunst, man denke nur an Dada oder die Surrealisten. Das Nonseum ist eben auch gleichzeitig die Dauerausstellung von Fritz Gall, der die meisten Exponate selbst in seinem Atelier kaum mehr als 80 Meter vom Museum entfernt baut. Stammen die Ideen von anderen Kunstschaffenden, so arbeitet er auch gerne nach, optimiert die Ästhetik und achtet auf die Einheitlichkeit im Nonseum. Die Objekte weisen außerdem Bezüge zur lokalen Geschichte auf. Wer hier eintritt, meint, ein Stück weit die Welt der Großeltern wiederzufinden. „Ich finde alte Dinge einfach schön“, sagt Gall und fügt hinzu: „Die Ästhetik einer Handbohrmaschine mit Zahngetriebe ist einfach nicht zu übertreffen.“ Viele Dinge, die er auf Flohmärkten oder auf dem Sperrmüll findet, lagern jahrelang in seinem Atelier, bevor sie in eine Konstruktion Eingang finden. „Ich bin manchmal selbst überrascht, wie gut zwei Dinge am Ende zusammenpassen.“ Wenn Gall auf das 30-Jahr- Jubiläum zu sprechen kommt, strahlen seine Augen. Beim Fest am 29. Juni ist mit einem Ideenfeuerwerk zu rechnen – von der Errichtung einer „Gedenkstätte für verlorene Socken“ bis zur „Reihenhaussiedlung für Maulwürfe“. Umrahmt von lustigen Erzählungen aus der Geschichte des Museums, einem Auftritt des Trio Lepschi und einer Luftakrobatikperformance. Alles spricht für ein tolles Event, auch wenn man im Nonseum eigentlich nicht so sehr von „Events“ spricht. „Wir haben einfach immer getan, was uns Freude gemacht hat“, so der Museumsgründer. Fest anlässlich 30 Jahre Nonseum 29. Juni, ab 17 Uhr im Museumsareal Herrnbaumgarten, www.nonseum.at
DIE FURCHE · 26 27. Juni 2024 Wissen 21 Von Peter Wallner Bereits seit den 1960er Jahren ist die Rede davon, dass wir in einer „Wissensgesellschaft“ leben. Den vielen Facetten des Nichtwissens wird weitaus weniger Aufmerksamkeit zuteil – obwohl heute zum Beispiel zahlreiche Corona- und Klimawandelleugner für Unwissen, Desinformation und Zweifel sorgen. Nichtwissen und Zweifel werden dabei teils absichtlich produziert. Wie dies geschieht, damit beschäftigt sich die Forschungsrichtung der Agnotologie (von griechisch agnoia: Unwissenheit). Analysiert wird hier vor allem, wie diverse Industrien, vor allem die Öl-, Tabak-, Chemie- und Lebensmittelkonzerne, die Schädigung von Gesundheit und Umwelt durch ihre Produkte verschleiern – und so verhindern, dass die Politik rechtzeitig Präventionsmaßnahmen ergreift. Zu den klassischen Strategien zählt etwa die scharfe Kritik an wissenschaftlichen Studien (junk science), die zu Ergebnissen gelangten, die der Industrie missfallen. Weiters werden Studien beauftragt, bei denen aufgrund des Designs von vornherein klar ist, dass „nichts herauskommen“ wird. Solche Untersuchungen werden dann als Beispiel für „gute Wissenschaft“ gelobt. Oder Studienergebnisse werden einfach vertuscht, wie das Beispiel des Ölkonzerns ExxonMobil zeigt. Diesem standen vonseiten seiner eigenen Wissenschafter gute Prognosen zur globalen Erwärmung durch fossile Brennstoffe zur Verfügung. Die Firma entschied sich jedoch, in öffentlichen Erklärungen das Gegenteil zu behaupten. Ignoranz und Unwissenheit gelten in einer Wissensgesellschaft als anstößig oder sogar gefährlich. Doch es bedarf der Differenzierung. Zur hochaktuellen Wissenschaft der Agnotologie. Die Saat des Zweifels sinenpicken (cherry picking). Dabei werden nur Belege angeführt, welche die eigene Aussage stützen. Die anderen lässt man einfach unter den Tisch fallen. Heute verbreiten aber nicht nur Industrie lobbyisten und dubiose Thinktanks Unwissen und Zweifel (doubt is our product), sondern auch politische Parteien, ganz zu schweigen von selbsternannten „Experten“ auf Websites und in YouTube-Videos. Gerade in letzter Zeit zeigt sich, wie sehr autoritäre Regimes in Russland und China durch gezielte Verbreitung von Desinformation darauf abzielen, die westlichen Demokratien zu destabilisieren. Die Saat des Zweifels soll zur allgemeinen Verwirrung und zum Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen führen. Eine andere Form des Nichtwissens ist un- Foto: iStock/ style-photography Datenstrom Im Informationszeitalter verfügt man über gigantische Datenmengen. Das Nichtwissen erhält dadurch einen neuen Stellenwert. „ Gewolltes Nichtwissen kann auch zum eigenen Vorteil genutzt werden. Es schützt zum Beispiel vor verletzenden Inhalten oder der Informationsüberlastung im Internet. “ Strategische Desinformation Wie gut die ExxonMobil-Prognosen waren, zeigt eine Analyse in der Fachzeitschrift Science (2023), die an der Universität Harvard und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung erarbeitet wurde: Demnach stimmten bis zu 83 Prozent der von den ExxonMobil-Wissenschaftern berichteten globalen Prognosen mit den später beobachteten Temperaturen überein. Die Vorhersagen passten auch zu jenen unabhängiger akademischer und staatlicher Modelle und waren mindestens so gut wie diese. Science-Studienautor Geoffrey Supran kam zu folgendem Resümee: „Unsere Analyse zeigt, dass ExxonMobils eigene Daten im Widerspruch zu ihren öffentlichen Erklärungen stehen, in denen Unsicherheiten übertrieben, Klimamodelle kritisiert, der Mythos globaler Abkühlung verbreitet und Unwissenheit darüber vorgetäuscht wurde, wann – oder ob – die vom Menschen verursachte globale Erwärmung messbar sein würde.“ Weitere Strategien zum Erzeugen von Nichtwissen sind die Verwendung manipulativer Grafiken und das sogenannte Roabsichtlich. Ein prominentes Beispiel ist die Schädigung der Ozonschicht durch die Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKW). Der Soziologe Peter Wehling von der Uni Frankfurt, Herausgeber des Sammelbands „Vom Nutzen des Nichtwissens“ (transcript, 2015), beschreibt dies so: „Dass diese als ‚sicher‘ und ‚risikolos‘ eingeschätzten chemischen Substanzen zu einem massiven Ozonabbau in der oberen Atmosphäre führen würden, war nicht nur bei Beginn der industriellen Herstellung und Nutzung um 1930 völlig unbekannt, sondern blieb auch danach noch mehr als 40 Jahre unentdeckt.“ Für Wehling ergibt sich daraus „die beunruhigende Erkenntnis, dass wir häufig nicht nur nicht wissen, welche Konsequenzen wissenschaftlich-technische Innovationen haben könnten, sondern auch keine Ahnung davon haben, wann und wo diese Folgen auftreten werden“. Lehren aus dem Contergan-Skandal Darüber hinaus gibt es das „fahrlässige Nichtwissen“. Als Beispiel für dieses „Es nicht-so-genau-wissen-Wollen“ wird oft der Contergan-Skandal angeführt, der später weltweite Auswirkungen auf den Umgang mit Arzneimittelzulassungen haben sollte. Die Frühwarnzeichen bezüglich der Gefahren wurden ignoriert. Durch Einnahme des Schlafmittels Thalidomid während der Schwangerschaft kam es bei Kindern in den 1950er und frühen 1960er Jahren zu Missbildungen der Extremitäten. Die junge österreichische Pharmakologin Ingeborg Eichler nahm damals die Hinweise aus den Tierversuchen ernst. Als Mitglied der Rezeptpflichtkommission und Arzneimittelzulassungskommission legte sie 1957 als Einzige ein Veto gegen den rezeptfreien Verkauf von Contergan (in Österreich Softenon) ein. Ein Erfolg, für den man heute noch dankbar sein kann: Denn durch die Rezeptpflicht traten hierzulande lediglich zwölf Contergan-Fälle auf. In Deutschland hingegen, wo es keine Rezeptpflicht gab, kamen rund 5000 geschädigte Kinder zur Welt. Das gewollte Nichtwissen, also das Nichtwissen-Wollen, kennt wohl fast jeder aus dem Alltag. Dass dieses auch strategisch zum eigenen Vorteil genutzt werden kann, ist einer der maßgeblichen Befunde der Agnotologie. „Etwas nicht wissen zu wollen, muss in unseren vermeintlichen ‚Wissensgesellschaften‘ als höchst bedenklich erscheinen, als Ausdruck von Verantwortungslosigkeit, geistiger Trägheit oder ideologischer Engstirnigkeit“, so Peter Wehling. Durch Nichtwissen können wir uns aber auch vor Stress durch zu viel oder belastendes Wissen – etwa aufgrund genetischer Untersuchungen – schützen. Der Soziologe sieht daher auch gewolltes Nichtwissen als rational und reflektiert an: Aktives Nichtwissen schütze vor verletzendem oder diskriminierendem Wissen, vor allem aber gegen die gigantische Informationsflut und chronische Überlastung in den endlosen Räumen des Internet. Der Autor ist Mediziner und habilitierter Forscher im Bereich der Umwelthygiene. Human Spirits Die Kolumne entfällt urlaubsbedingt, das nächste Mal erscheint sie am 11. Juli. KREUZ UND QUER VERBOTENE SCHRIFTEN? AUS DER BIBEL VERBANNT (TEIL 1 & 2) DI 2. JULI 22:35 Die aufwendige Dokumentation in zwei Teilen macht sich auf die Suche nach den sogenannten Apokryphen. Es sind Schriften, die meist göttliche Autorität und manchmal exklusives Wissen über heilige Dinge für sich beanspruchen – aber nicht in das Verzeichnis der Bibel aufgenommen wurden. Hat die Kirche sie bewusst verboten? Galten sie als häretisch? Oder fehlte es ihnen schlicht an Qualität? Expertinnen und Experten aus Geschichte, Theologie und Archäologie gehen diesen Fragen nach. religion.ORF.at Furche24_KW26.indd 1 18.06.24 15:39
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