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Die Furche 27.06.2024

DIE FURCHE · 26 18

DIE FURCHE · 26 18 Medien 27. Juni 2024 Lesen Sie dazu auch den Text „Mythen und Medien: Die verachtete Wirklichkeit“ von Stephan Ruß-Mohl, erschienen am 12. Jänner 2022, auf furche.at. Von Stephan Ruß-Mohl Der Krieg in der Ukraine dauert an – und mit ihm der Diskurs, ob und wie er sich beenden lässt. Dazu leisten Michael Haller, emeritierter Journalistikprofessor aus Leipzig, und der Politologe und Friedensaktivist Hans-Peter Waldrich einen ungewöhnlichen Beitrag: ein Briefwechsel, der die Zeitspanne von Frühjahr bis Herbst 2023 umspannt und dann als Buch veröffentlicht wurde. Die Autoren bedienen sich damit zweier Medien, die im Zeitalter von Tiktok und Insta gram wie aus der Zeit gefallen wirken. Ihr Beitrag ist aber vor allem deshalb lesenswert, weil die beiden Protagonisten ernsthaft argumentieren und nahezu mustergültig vorexerzieren, wie man beim Versuch, aufeinander einzugehen, voneinander lernen kann – und wo dieser Lernprozess dann eben doch auf Grenzen stößt und sich dann gelegentlich die Argumente im Kreise drehen. Wer trägt die Verantwortung? Meinungen akzeptieren Das Buch ist ein Beispiel für eine gelungene Diskussion. Die Suche nach Argumenten steht im Vordergrund, mit Respekt vor den Überlegungen des anderen. Der Journalistikprofessor Michael Haller und der Politologe Hans-Peter Waldrich beschäftigen sich in ihrem neuen Buch mit der Macht der Medien im Diskurs über den Ukrainekrieg. Streitkultur per Brief „ Panikmache fällt deshalb so leicht, weil viele Mediennutzer – übrigens auch Medienskeptiker und Newsverweigerer – gar nicht wissen, wie die Onlinemedienwelt funktioniert. “ Foto: Getty Images /Anadolu / Kharkiv Military Administration Handout Beide Autoren rechnen sich selbst dem linksliberalen Lager zu – aber Haller betont das Recht der Ukraine, sich und ihre Freiheit gegenüber dem russischen Aggressor zu verteidigen, während der Gegenspieler Waldrich zusammen mit Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer im Februar 2023, also ein Jahr nach dem Angriff Putins, bei der Großdemo „Aufstand für Frieden“ in Berlin auf dem Podium stand. Gemeinsam mit ihnen und zuletzt mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich möchte er so schnell wie möglich den Krieg „einfrieren“. Dabei übersehen er und seine Gesinnungsgenossen freilich, dass Wladimir Putin gar nicht verhandlungsbereit ist – und auch Zweifel mehr als angebracht sind, ob er sich an einen Friedensvertrag halten würde. Russland hätte ja niemals neuerlich in die Ukraine einmarschieren dürfen, wenn es sich an bestehende Verträge, zum Beispiel das Minsker Abkommen, gebunden fühlte. Die Ausgangspositionen sind mithin bekannt – aber was beide Seiten, obschon sie nicht im engeren Sinn Militärexperten oder Russland- bzw. Ukraine-Kenner sind, auf insgesamt 280 Seiten an Argumenten und Fakten zusammengetragen haben, ist dann doch beeindruckend. Es trägt dazu bei, die Fragen von „Schuld, Verantwortung und Solidarität“ – so der sperrige Titel, der nicht eben zur Lektüre einlädt – im Ukrainekrieg (der eigentlich „Krieg in der Ukraine“ oder, präziser, „Russlands Krieg gegen die Ukraine“ heißen müsste) differenzierter zu sehen. So argumentiert Waldrich, dass der Konflikt „außer der widerrechtlichen Aggression Russlands“ noch eine „ganze weitere Reihe von Ursachen“ habe, die „in kriegerischer Form einer Lösung zugeführt werden sollen“. Kriege seien oft „Ersatzhandlungen“, nachdem der „Aufbau einer klugen, diplomatisch gesteuerten Friedensarchitektur im Vorlauf verfehlt wurde“. Auch dieser Krieg, meint Wal drich, könne als „Symptom für eine tieferliegende Dysfunktion“ angesehen werden, nämlich als „Symptom für eine schlechte Außenpolitik der maßgeblichen Mächte, denen es nicht gelang, eine stabile Friedensordnung aufzurichten“. Womöglich lachen sich Putin, Medwedjew und Lawrow allerdings ins Fäustchen, wenn sie von solcher Schuldumverteilung hören, die sich in den Fußstapfen der russischen Propaganda bewegt. Die Formel „Frieden statt Waffen“ kann eben nur funktionieren, wenn beide Konfliktparteien auf den Einsatz von Kriegsgerät verzichten. Wohl auch deshalb macht Haller darauf aufmerksam, wie sehr der Krieg auch ein Informationskrieg ist: Die „mediale Panikmache fällt deshalb so leicht, weil viele Mediennutzer – übrigens auch Medienskeptiker und Newsverweigerer – gar nicht wissen, wie die Onlinemedienwelt funktioniert, wie Nachrichten in Kriegszeiten erzeugt werden und wie man ihre Glaubwürdigkeit (wenigstens grob) prüfen kann.“ Viele Erwachsene würden sich in Sachen Medienkompetenz wie Analphabeten verhalten. Düsterer Blick in die Zukunft Was auffällt, ist, dass Hallers Briefe immer länger werden. Zumindest aus der Sicht des Rezensenten argumentiert er auch eindringlicher und überzeugender als Waldrich, der die Apokalypse und den Atomkrieg fürchtet. Der Journalismusforscher behält auch das letzte Wort, das allerdings versöhnlich und nicht rechthaberisch ausfällt. Er fragt sich zur Selbstvergewisserung, ob seine Position „die menschenrechtlich besser begründete, die politisch weitsichtigere, die psychologisch stimmigere“ ist, um dann im Rückblick auf den Diskurs genau diese Art des Fragens als problematisch zu finden, „weil sie nach der besseren Begründung sucht, statt Empfindungen und Motive des anderen nachzuvollziehen“. Hallers Blick in die Zukunft ist dabei düster: „Was die Bündnistreue der NATO-Staaten betrifft, habe ich im Verlauf unserer Debatte mehr und mehr die Zuversicht in die Bündnistreue mit der Ukraine verloren.“ Was die Kompetenz, die Weitsicht und die Entschiedenheit der Regierungen, insbesondere der deutschen Bundesregierung, betreffe, seien seine Zweifel von Monat zu Monat gestiegen. Die mit der Losung von der „Zeitenwende“ einsetzende Rhetorik sei nicht die „Stimme einer dezidierten Wendepolitik“ gewesen, sondern eher eine „die Verzagtheit verdeckende Camouflage, deren Motivgrund im wesentlichen Angst“ sei. Immerhin korrigiert der Disput der beiden alten, lebenserfahrenen Männer Einseitigkeiten der Medienberichterstattung und ersetzt deren täglichen Auswurf an letztlich unverbundenen Puzzleteilen durch etwas, was sich zu einem komplexeren Bild zusammenfügt. Der Diskurs ist aber auch ein Beispiel dafür, wie in der Demokratie Streitkultur funktionieren sollte: Suche nach Argumenten statt Schaum vor dem Mund und mit Respekt vor den Überlegungen des Andersdenkenden – ohne dass man sich dessen Positionen zwingend zu eigen machen muss. Schuld, Verantwortung und Solidarität Von Michael Haller, Hans-Peter Waldrich Herbert von Halem 2023 282 S., kart., € 21,60 MEDIENWELTEN Das Glas für journalistische Nachrichten ist halbvoll Der Autor ist Medienberater und Politikanalyst. Von Peter Plaikner Der „Digital News Report“ (DNR) ist eine inhaltlich vertiefende Ergänzung zur Quotenorientierung der traditionellen Medienmarktforschung. Zu ihren Ermittlungen von Reichweiten und Marktanteilen kommen hier Antworten zu Informationsnutzung und Medienvertrauen. Beides ist rückläufig. Die für den Österreich-Teil verantwortlichen Kommunikationswissenschafter der Universität Salzburg haben auch 2024 keine besseren Nachrichten für deren journalistische Macher. Das Vertrauen in sie sinkt weiter – auf 34,9 Prozent. Der globale Schnitt liegt deutlich höher. Das leicht rückläufige grundsätzliche Interesse hingegen entspricht mit acht von zehn dem Mittelwert der 47 untersuchten Staaten. Für Jubel gibt es dennoch keinen Anlass, und dass Nachrichtenjournalismus und redaktionelle Medien weltweit unter existenziellem Druck stehen, ist ein geringer Trost. Doch um Kampfeslust für die demokratische Funktion von seriöser Berichterstattung, fundierter Analyse und relevanter Kommentierung zu erreichen, muss vorerst das Glas halbvoll statt halbleer gesehen werden. Österreich hinkt nach. In kaum einem anderen Staat sind vor allem gedruckte Zeitungen und Radio noch eine so beliebte Informationsquelle und werden erst so wenig durch Social Media verdrängt. Also gilt es, zu stärken, was Vertrauen schafft: Laut DNR liegt dabei transparente Kommunikation darüber, wie die Nachrichten entstehen, „ Journalismus muss in eigener Sache transparenter werden. Motto: Wir sagen, was wir tun, und wir tun, was wir sagen. “ noch vor hohen journalistischen Standards. Auf den Plätzen folgen, ob die News den Nutzer fair repräsentieren, Unbefangenheit und die Entsprechung der eigenen Werte. Letzteres lässt sich zynisch als Tipp interpretieren, per Algorithmen Blasen zu schaffen. Doch das würde die Kriterien davor igno rieren. Sich in ihnen zu verbessern, ist das erfolgsträchtigste Mittel zur Rettung des Nachrichtenjournalismus. In keinem Bereich wäre das so einfach wie im höchstgereihten Thema Transparenz. Doch genau daran mangelt es am meisten – zumindest in eigener Sache. Es braucht mehr: Wir sagen, was wir tun, und wir tun, was wir sagen. Das ist nicht nur für Politik ein Qualitätsmerkmal.

DIE FURCHE · 26 27. Juni 2024 Film 19 In Richard Linklaters „A Killer Romance“ mimt ein vermeintlicher Auftragskiller am Tag den Professor für Moralphilosophie. Köstliches – und ganz und gar nicht seichtes – Sommerkino. Rechtschaffen morden? Von Otto Friedrich Die Wiener lieben Richard Linklater, seit dieser 1995 in „Before Sunset“ Ethan Hawke und Julie Delpy als One-Night-Liebespaar die Donaustadt erkunden ließ. Der texanische Regisseur hat filmisch aber viel breiteres Genre drauf: Er machte einen realen Schauspieler wie Keanu Reeves mit einer experimentellen Technik zur Animationsfigur („A Scanner Darkly“, 2006) oder setzte Regie-Titan Orson Welles ein Filmdenkmal („Ich & Orson Welles“, 2008). Unvergesslich auch, dass Linklater in „Boyhood“ (2014) eine zwölf Jahre währende filmische Begleitung eines Buben zum jungen Mann genial fürs Kino in Szene setzte. Nun nimmt sich der Regisseur der Gaunerkomödie an und hat mit „A Killer Romance“, der bei den Filmfestspielen in Venedig für Furore sorgte, vordergründig Auftragskiller. auf einen zurzeit in vielen Filmen erfolgreichen Plot rund um einen Auftragskiller gesetzt. Aber Linklater ist mitnichten einer filmischen Mode verfallen, sondern mit diesem Opus ist ihm ein Parforceritt an Leinwandkomödie gelungen, die an Hinterfotzigkeit und subtilen bis prallen Wendungen kaum zu überbieten ist. Dazu kommt, dass „A Killer Romance“ auf einer wahren Geschichte aufbaut – nur den Mord, in den der Plot mündet, habe man dazuerfunden, erfährt der eingenommene Zuschauer im Nachspann: Gary Johnson, der 2022 verstorben ist, war nämlich der gefragteste Auftragskiller in Houston, der aber für die Polizei arbeitete und als Lockvogel Legionen von präsumtiven Mördern hinter Schloss und Riegel brachte, bevor sie zur Untat schreiten konnten. Der Gary Johnson im Film ist ein geschiedener Philosophieprofessor, der an der Uni seine Studentinnen und Studenten mit provokanten Denkaufgaben herausfordert. Nebenberuflich arbeitet Gary aber fürs Police Department von New Orleans als vermeintlicher hit man, also als Gary erweist sich als Genie seiner Zunft: Er kann situationselastisch den Versteher seiner Auftraggeber so perfekt mimen, dass diese ihn wirklich für den ersehnten Todesengel halten, der den tyrannischen Gatten, die Grätzn von einem Chef, den Todfeind usw. beseitigen wird. Gary verändert dafür sein Äußeres, seinen Namen, seinen Beruf oder seine Sprache, dass es eine Freude ist. Als der hauptberufliche hit man Jasper (Austin Amelio) wegen Fehlverhaltens suspendiert wird, rückt Gary an dessen Stelle und „ Linklaters ,A Killer Romance‘ baut auf einer wahren Geschichte auf und ist eine mehr als perfekte Bühne für Glen Powell, dessen Schauspiel unübertroffen ist. “ Zwei Gesichter Glen Powell (hier mit Adria Arjona) verkörpert in „A Killer Romance“ nicht nur einen Pseudokiller in Polizeidiensten, sondern hat mit Regisseur Richard Linklater auch das Drehbuch verfasst. treibt die Erfolgsquote der Polizei von New Orleans in lichte Höhen. Als Gary jedoch an Madison (Adria Arjona) gerät, die ihren Ehemann um die Ecke bringen will, schlägt Gott Amor zu. Und Gary, der sich bislang als genialer Verkleidungskünstler den Vertretern von Recht und Gesetz verdingt hat, beginnt Dinge zu tun, die er seinen Studenten in seiner Moralphilosophievorlesung niemals hätte durchgehen lassen. Schließlich verstrickt sich Gary derart in diese Beziehungskiste, dass er gar nicht mehr dazu kommt, sich über seine Rechtschaffenheit Gedanken zu machen. „A Killer Romance“ ist eine mehr als perfekte Bühne für Glen Powell, dessen Schauspiel unübertroffen ist und der den schrägen Plot derart mit Leben erfüllt, dass dem Publikum Hören und Sehen vergeht. Köstliches Kino. Eine wirkliche Sommerkost. Aber ganz gewiss keine seichte. A Killer Romance (Hitman) USA 2023. Regie: Richard Linklater. Mit Glen Powell, Adria Arjona, Austin Amelio, Retta. Constantin. 115 Min. Foto: Filmarchiv Austria SOMMERKINOTIPPS Reiche Auswahl an Filmperlen Sommerliches Kinovergnügen gibt es auch in diesem Jahr – vor allem in Wien, wo man sich sowohl vonseiten des Filmarchivs Austria (Open-Air-„Kino wie noch nie“ im Augarten, von 27. Juni bis 28. August) als auch im Österreichischen Filmmuseum in der Albertina keine Sommerpause gönnt. So kredenzt Letzteres im Juli ein umfassendes Programm: Den Auftakt macht die Schau „Das ist keine Khavn- Retrospektive“ über den philippinischen Filmemacher, Dichter, Schriftsteller, Aktivisten und Musiker Khavn, der sich filmisch mit der Geschichte seiner Heimat auseinandersetzt und am 3. und 4. Juli auch in Wien zu Gast sein wird. Darauf folgt von 10. bis 26. Juli unter dem Motto „Collection on Screen“ eine Filmschau mit Klassikern aus der Sammlung des Filmmuseums seit 1964 – dazu gehören Filme wie „Wienfilm 1896–1976“ von Ernst Schmidt jr. (1977), eine „Anthologie über Wien von der Erfindung des Films bis zur Gegenwart“, der Horrorfilm „Ich seh, ich seh“ von Veronika Franz und Severin Fiala (2014), „Boy Meets Girl“ von Leos Carax (1984) oder „Blood Simple“ von Joel und Ethan Coen (1984). Beim Open-Air-Spektakel im Augarten sind in diesem Jahr besonders viele Filmpreziosen im Angebot: Den Auftakt macht am 27. und 28. Juni der Stummfilm „Die Sklavenkönigin“ (1924) von Mihály Kertész, mit Klavierbegleitung von Gerhard Gruber und Peter Rosmanith. Filme wie „How to Have Sex“, „Der Pferdedieb“, „Harry und Sally“, „Andrea lässt sich scheiden“, „Antigone“, „Twister“ oder „Dazed and Confused“ zeigen die Vielfalt der Auswahl. Dutzende weitere Filmperlen bieten den ganzen Sommer lang ein buntes Panoptikum an exzellenter Filmgeschichte. (Matthias Greuling) Sommerkino Filmmuseum und Augarten Nähere Infos zu den jeweiligen Programmen gibt es unter filmmuseum.at und filmarchiv.at. Mit dem Stummfilm „Die Sklavenkönigin“ (1924) wird „Kino wie noch nie“ im Wiener Augarten eröffnet. DRAMA Wissenschaft zwischen Macht und Abhängigkeit Marguerite (Ella Rumpf) überwirft sich mit ihrem Doktorvater Laurent (Jean-Pierre Darroussin). Marguerite fühlt sich an der École normale supérieure wie daheim. In Hausschuhen läuft die Mathematikstudentin durch die Flure der renommierten Pariser Universität. Doch die anberaumte Besprechung mit Professor Werner fällt aus – wegen eines Doktoranden aus Oxford. Irritierend, dass dieser Lucas ebenfalls zu der „Goldbach’schen Vermutung“ forscht. Schickt ihr Doktorvater einen weiteren Kandidaten ins Rennen? Fesselnd führt „Die Gleichung ihres Lebens“ vor Augen, dass der Wissenschaftsbetrieb keinesfalls der sprichwörtliche Elfenbeinturm ist. Es handelt sich um eine Institution der Macht und der Abhängigkeitsverhältnisse. Und die durchleuchtet die französisch-schwedische Regisseurin Anna Novion anhand der Entwicklung ihrer 25-jährigen Protagonistin Marguerite eindrücklich. Facettenreich entfaltet sie das Spannungsverhältnis einer Gemeinschaft von nur scheinbar Gleichen, deren Zusammenarbeit zugleich auf Hierarchien und Ausbeutung basiert. Sie wird von individuellen Interessen, Narzissmus und ökonomischen Verflechtungen genährt. Das studentische Bedürfnis nach paternalistischer Fürsorge wird letztlich enttäuscht. Marguerite betrachtet Professor Werner als väterlichen Mentor, der selbstlos ihre Karriere befördert, während dieser durch ihre Forschung seinen Ruhm mehren will. Als sie einen Fehler macht, steht ihr Konkurrent Lucas schon in den Startlöchern. Trotzig und enttäuscht verlässt Marguerite daraufhin die Alma Mater. Den Weg ihrer Ablösung erkundet der Film nuanciert. Indem er seine Protagonistin (authentisch: die schweizerisch-französische Schauspielerin Ella Rumpf) in eine Schule der Empfindsamkeit schickt, gewinnt er ihrer Selbstfindung auch komische Töne ab. Denn Marguerite geht in sozialen Belangen nicht gerade zimperlich zu Werk. Unverhohlen spricht sie aus, was sie denkt. Die Regisseurin zeichnet deren Habitus mit frischem Strich und lebensecht. Es steht ihrem flüssig erzählten Film gut an, dass er zeigt, wie die bestehenden Machtverhältnisse auf die Protagonisten zurückwirken. Denn Marguerite entkommt den Widersprüchen des Wissenschaftsbetriebs nicht. Als sie das Thema ihrer Dissertation wieder aufnimmt und den Konkurrenten Lucas geschickt als Mitstreiter gewinnt, scheint es, als würde in beider Genie und körperlich-seelischem Gleichklang die „blaue Blume“ Gestalt annehmen. Aber Marguerites Forschungselan bleibt weiter angetrieben von gekränktem Stolz, Rivalität und Gefühl von Grandiosität. (Heidi Strobel) Die Gleichung ihres Lebens (Le Théorème de Marguerite) FR/CH 2023. Regie: Anna Novion Mit Ella Rumpf, Jean-Pierre Darroussin, Clotilde Courau. Filmladen. 112 Min.

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